Der Ukraine-Konflikt – ein Stellvertreterkrieg?

Bundesrat Maurers Analyse wird ausserhalb der angelsächsischen Propagandablase weltweit geteilt

ts. Was Bundesrat Ueli Maurer kürzlich im appenzellischen Bühler zur Ukraine-Krise äusserte, fand ein starkes Echo im Blätterwald und unter der Bundeshauskuppel. Da es kein Redemanuskript gibt, greift man am besten auf Lokalberichterstattung zurück, die noch nicht von einer Zentralredaktion «gerahmt» wurde.1 Demzufolge soll der SVP-Magistrat zu zwei Fragen Stellung genommen haben: Wann endet der Krieg, und wie lange werden dessen Auswirkungen in der Schweiz und der Welt spürbar sein? Was die Flüchtlingsströme betrifft, soll Maurer verstärkte Spannungen prognostiziert haben, da ukrainische Flüchtlinge auf Grund des Schutzstatus S besser gestellt sind als andere Flüchtlinge. Dass es da rumort in der Bevölkerung, lässt sich landauf landab unschwer feststellen. Den Ukraine-Konflikt ordnete Maurer als Stellvertreterkrieg zwischen West und Ost ein. Hier Nato, da Russland: Ein Machtkampf auf dem Buckel der Ukraine. Wieder drohe der Welt eine Spaltung wie im Kalten Krieg. Wieder befänden wir uns in einer Rüstungsspirale, wieder sässen wir auf einem Pulverfass. Obwohl die Welt und auch die Schweiz bisher von den schweizerischen Schutzmandaten profitiert habe, stünden diese und eine der wichtigsten Säulen unseres Landes, die Neutralität, zur Disposition. Sorgen bereiteten dem Bundesrat auch die Energie- und die Ernährungsfrage sowie der mangelnde Wille, das Land militärisch zu verteidigen. Während in Appenzell Inner- und Ausserrhoden immerhin noch 80 Prozent der Wehrpflichtigen Militärdienst leisteten, ziehe rund ein Drittel der Schweizer den Zivildienst vor. Maurer erinnerte an die Einsicht der Vorfahren, den Eintrittspreis möglichst hoch anzusetzen, eine Stärke zu erreichen, dass es sich gar nicht lohne, die Schweiz anzugreifen.  Ohne Armee aber würden wir zum Opfer. Zum Abschluss wollte Maurer nicht ausschliessen, dass wir uns in ein paar Wochen mit einem Atomkrieg in Europa konfrontiert sehen könnten.
  Der Ukraine-Krieg als Stellvertreterkrieg? Es war diese Aussage, die dem Bundesrat Schelte einbrachte, u. a. von Exponenten der Grünen, der SP und der FDP. Eine Aussage und Einschätzung, die zugegebenermassen der Nato- und EU-Sprachregelung und angemassten Definitionshoheit widerspricht, sich aber in bester Übereinstimmung mit Stimmen aus der nicht-westlichen Welt befindet. Und dort leben immerhin rund 80 % der Weltbevölkerung. Wer versucht, den europazentrisch verengten Blick auf die Welt zu durchbrechen, Abstand gewinnt vom angelsächsischen Narrativ und Stimmen aus Afrika, Lateinamerika, Indien, Pakistan, Singapur usw., aber auch aus den USA zur Kenntnis nimmt, stellt eines fest: Die sehen das durchaus anders. Und tragen zum grössten Teil die Sanktionen der USA und EU nicht mit. Und sehen das Problem in der Nato-Ost-Erweiterung, mithin also bei den USA. So auch der US-amerikanische Politologie-Professor an der Uni Chicago, John Mearsheimer, oder der einst neoliberale US-Ökonom Jeffrey Sachs. Denn auch USA ist nicht gleich USA, auch da gibt es Stimmen, die das vorherrschende Narrativ als monströse Propaganda bezeichnen und als brandgefährlich ablehnen. Ganz zu schweigen vom «grand old man» der US-Aussenpolitik Henry Kissinger (siehe Kästchen). In Asien wäre etwa Kishore Mahbubani zu nennen. Er hatte ja vor Jahren ein Buch geschrieben gegen die westzentrierte, enggeführte ideologische Sicht auf die Welt, mit dem provokativen Titel «Can Asians Think?» Und hat er nicht recht, immer noch? Hören wir im Westen auf die Stimmen des «Rests» der Welt? Übertüncht nicht die Rhetorik vom Kampf der Demokratien gegen die Autokratien die alte westliche Arroganz, es besser zu wissen als die ehemals kolonialisierten Völker? Ironie oder zum Weinen? Da muss ein Bundesrat jener Partei kommen, der man unterstellt, sie lasse die Welt aussen vor, und uns das sagen, was auch grosse Teile der übrigen Welt so sehen, während die postkoloniale Studien fördernden Grünen und Linken das westliche Narrativ kritiklos kolportieren. Die Stellungnahme der südafrikanischen Aussenministerin, die sich vom US-Aussenminister nicht nötigen lassen will, Russland zu verurteilen, – wertlos? Weil Frau oder Afrikanerin? Oder liegt das versuchte «Canceln» des Bundesrates daran, dass einer von der «falschen» Partei den Elefanten im Raum genannt hat? An allfällig mangelnden Englischkenntnissen seiner Kritiker, die einer südafrikanischen Aussenministerin oder einem Mahbubani oder Kissinger nicht folgen könnten, wird es ja wohl nicht liegen.
  Wäre es nicht an der Zeit, sich in den diversen Schweizer Parteien den Stimmen der Welt zu öffnen und über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen? Nur schon, um Propaganda besser zu durchschauen? Wie rezipieren sozial engagierte Stimmen aus den Ländern der Blockfreien? Und ist den altgedienten Antiimperialisten die Stimme eines John Pilger nichts mehr wert, der sagt, eine solche Kriegspropaganda wie die gegenwärtige des Westens habe er in seinem ganzen bewegten Leben als Kriegsreporter noch nie gesehen? Auch nicht während des Vietnam- oder Irak-Krieges?
  Die künftige Ausrichtung der Schweiz nicht nur in Europa, sondern auch der Welt bedarf einer ruhig geführten Debatte mit einem vielfältigen Meinungsspektrum. «Canceln» von Meinungen ist nicht zielführend. Schliesslich soll der Schweizer Souverän breit informiert entscheiden, ob man sich Militärblöcken anschliessen will oder nicht. Die immer von einem US-General, dem Saceur (Supreme Allied Commander Europe), geführte Nato und die weiterhin an einem Demokratiedefizit leidende EU mögen für manche eine Option sein. Aber gäbe es nicht auch andere? So wie die EFTA eine Alternative zur EU darstellt, an der die Schweiz mit Erfolg teilnimmt, gibt es auch Alternativen zur Annäherung an das Militärbündnis Nato. Darüber zu diskutieren tut Not. Mit seiner Warnung vor einem Atomkrieg in Europa ist Bundesrat Maurer nicht allein. Es war das Lebensthema von Robert S. McNamara, dem US-Verteidigungsminister während der Kuba-Krise. Es ist das Thema von Henry Kissinger. McNamaras Fazit der Kuba-Krise: wir sind «herausgeglückelt», «we just lucked out». Und seine Lehre fürs Leben im Atomwaffenzeitalter: Es gibt keine Alternative zur Diplomatie. Und dazu brauche es Empathie. Man müsse sich in sein Gegenüber einfühlen, es verstehen. Das heisse noch lange nicht billigen, was es tue. Tue man das nicht und suche nicht das Gespräch zur Beendigung des Konflikts auf diplomatischer Ebene, drohe die atomare Vernichtung. Wer aber kann das wollen?  •



1 Siehe zum Beispiel Seraina Hess in der Thurgauer Zeitung vom 15. August 2022

Kissinger: «Fragen, die wir zum Teil selbst geschaffen haben»

ts. In einem Interview mit dem «Wall Street Journal» zeigte sich Henry Kissinger, der 99jährige ehemalige US-Aussenminister, besorgt über das «Ungleichgewicht» in der Welt. Er sagte: «Wir befinden uns am Rande eines Krieges mit Russland und China in Fragen, die wir zum Teil selbst geschaffen haben, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie das Ganze enden wird oder wozu es führen soll.»
  Washingtons Aussenpolitik findet vor Kissinger keine Gnade: Washington habe keinen grossen Staatsführer mehr, lehne traditionelle Diplomatie ab, und der US-Aussen-politik fehle es gefährlich an strategischer Zielsetzung. Kissinger kritisierte Politiker, die wie ihre Wähler heute «persönliche Beziehungen zum Gegner» nicht mehr von der Aufrechterhaltung stabiler diplomatischer Gespräche trennen könnten. Man sei sehr empfänglich für die «Emotionen des Augenblicks».
  Was die Ukraine-Krise betrifft, so betont Kissinger, die Ukraine sei eine Ansammlung von Gebieten, die einst zu Russland gehörten. Frieden sei nur möglich, wenn die Ukraine als Puffer zwischen Russland und dem Westen fungiere. «Ich war für die volle Unabhängigkeit der Ukraine, aber ich dachte, die beste Rolle wäre so etwas wie diejenige Finnlands, eine Art Zwischenlösung.» Kissinger hatte schon vor Kriegsbeginn im Januar auf die Mitschuld des Westens hingewiesen: Eine unvorsichtige Politik der USA und der Nato habe den Konflikt in der Ukraine mit ausgelöst. Jetzt sehe er «keine andere Möglichkeit, als die von Wladimir Putin geäusserten Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen, und hält es für einen Fehler, dass die Nato der Ukraine signalisiert hat, sie könne dem Bündnis beitreten».
  Wie der Krieg enden werde? Kissinger sieht eine Einigung voraus, bei der Russland seine Eroberungen von 2014 auf der Krim und Teile der Donbass-Region behalten werde.
  Mit Blick auch auf den Konflikt um Taiwan sagte Kissinger: «Meines Erachtens hat das Gleichgewicht zwei Komponenten. Eine Art Gleichgewicht der Kräfte, mit einer Akzeptanz der Legitimität von manchmal gegensätzlichen Werten. Denn wenn Sie glauben, dass das Endergebnis Ihrer Bemühungen die Durchsetzung Ihrer Werte sein muss, dann ist ein Gleichgewicht meiner Meinung nach nicht möglich. Die eine Ebene ist also eine Art absolutes Gleichgewicht», sagte er. Die andere Ebene sei das «Verhaltensgleichgewicht, das heisst, es gibt Grenzen für die Ausübung der eigenen Fähigkeiten und Macht im Verhältnis zu dem, was für das Gesamtgleichgewicht erforderlich ist».

Quelle: https://www.wsj.com/articles/henry-kissinger-is-worried-about-disequilibrium-11660325251

«Ein 99jähriger, der einen 79jährigen erzieht»

Wie reagierte China auf das Kissinger-Interview im «Wall Street Journal»? «Das ist ein 99jähriger, der einen 79jährigen erzieht», sagte Lü Xiang, Forschungsstipendiat an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, am Sonntag der «Global Times», auf das Alter von Kissinger und Joe Biden anspielend. «Offensichtlich hat die derzeitige US-Regierung keine Ahnung, was das Gleichgewicht ist, denn zuerst muss man die Legitimität des Gegenübers anerkennen. Wenn man die Legitimität einschliesslich der Souveränität seines Gegenübers in Frage stellt, ist es unmöglich, ein Gleichgewicht zu erreichen», sagte er.

Quelle: https://www.globaltimes.cn/page/202208/1272970.shtml

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