Schweizer Energieversorgung auf dem Prüfstand

Warum die zögerliche Politik des Bundesrates?

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Seit Jahren legt die Eidgenössische Elektrizitätskommission ElCom1 den Finger darauf, dass die Schweiz früher oder später auf eine Strommangellage im Winter zusteuern wird. Derzeit sieht es so aus, als ob dies eher früher, nämlich im bevorstehenden Winter, der Fall sein könnte, so ElCom-Präsident Werner Luginbühl. Bereits Anfang Juli warnte der Präsident von Swissgas, André Dosé, auch vor einer drohenden Gas-Knappheit. Vor allem letzterer übte deutliche Kritik an der Politik des Bundesrates.

Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorsteherin des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), möchte die Untauglichkeit der bundesrätlichen Energiestrategie gerne vertuschen, indem sie die Ursachen einer möglichen Versorgungslücke «Russland» zuschiebt. Ja, sie benutzte kürzlich in einer Brandrede den Ukraine-Krieg sogar als Hebel für die Eingliederung der Schweiz in die EU/Nato.

Politik hat die Warnungen der ElCom zu wenig ernst genommen

Die Aussage von Werner Luginbühl, Präsident der Elektrizitätskommission (ElCom), es sei ratsam, genügend Kerzen im Haus zu haben, und wenn man einen Holzofen habe, auch genügend Brennholz, ging wie ein Lauffeuer durch die Schweiz. In einem Zeitungsinterview führte Luginbühl weiter aus: «In der heutigen Situation kann man stundenweise Abschaltungen nicht ganz ausschliessen. Deshalb ist es wichtig, dass man die nötigen Vorkehrungen trifft.» Dies sei ein Worst-case-Szenario, so Luginbühl. Aber es sei sinnvoll, sich zu überlegen, was man machen würde, wenn man einmal für ein paar Stunden ohne Strom wäre.2
  Was die Stromversorgung betrifft, ist die Schweiz laut dem ElCom-Präsidenten zwar in einer besseren Situation als viele andere Länder: «Wir können mit der Wasserkraft 60 Prozent unseres Verbrauchs im Inland produzieren. Rund ein Drittel des Stromverbrauchs stammt von den Kernkraftwerken. Und dann gibt es tatsächlich einen Rest von 5 bis 10 Prozent, den wir importieren müssen. Dort liegen für uns die grössten Risiken: dass wir diesen Teil des Stroms im nächsten Winter nicht in Europa beschaffen können.»
  Die Produktion dieses «Rests» in die Wege zu leiten und zu fördern, ist die Aufgabe des Bundesrates und des Parlaments. Denn auch ein Stromabkommen mit der EU würde uns im nächsten Winter keinen Strom und kein Gas bescheren, wenn unsere Nachbarländer selbst nicht genug haben.
  Werner Luginbühl kritisiert, «dass die -Politik die jahrelangen Warnungen der ElCom vor einer Strommangellage im Winter zu wenig ernst genommen habe. Die Schweiz müsse das Thema Versorgungssicherheit viel entschiedener und entschlossener angehen».3
  Eine milde Kritik des heutigen ElCom-Chefs: Wir erinnern uns an weit träfere Kommentare seines Vorgängers Carlo Schmid-Sutter aus Appenzell-Innerrhoden.

«Bundesrätliche Energiestrategie erweist sich als Makulatur»

Um so überraschender ist die klare Stellungnahme von NZZ-Wirtschaftsredaktor Christoph Eisenring zur «Energiestrategie 2050» des Bundesrates. Es sei «eine Bankrotterklärung für die Energiestrategie», wenn ElCom-Präsident Luginbühl der Bevölkerung empfehle, Kerzen und Brennholz zu kaufen. Denn damit gebe der Bund zu, «dass er Schweizerinnen und Schweizer genau vor derjenigen Gefahr nicht bewahren kann, die er selbst als das grösste Risiko für das Land sieht: eine Strommangellage», so Christoph Eisenring.4 Und weiter: «Die bundesrätliche Energiestrategie erweist sich als Makulatur. Da war die Rede von Effizienzsteigerungen, weshalb der Verbrauch gar nicht stark zunehmen werde. Und auch dass Wind- und Sonnenstrom Back-up-Kraftwerke benötigt, damit man im Winter sicher über die Runden kommt, wurde viel zu lange ignoriert.» Auf seine eigene Frage: «Und muss man der Regierung nicht zugutehalten, dass der Krieg in der Ukraine unvorhersehbar war?» antwortet Eisenring: «Wer so argumentiert, macht es sich zu einfach. Es droht das, was laut einer früheren Analyse von Luginbühls Behörde sowieso ab 2025 geblüht hätte.»
  Genau so einfach macht es sich UVEK-Chefin Sommaruga: «Warum haben wir heute ein Problem? Weil Russland den Gashahn zudreht und die Schweiz beim Öl und Gas vollständig vom Ausland abhängig ist.»5 Damit soll wieder einmal Russland «schuld» sein! Dabei betrifft die Schweizer «Energiestrategie 2050» ausschliesslich die Stromversorgung.
  Die Gasversorgungssicherheit dagegen sah bis 2021 niemand als gefährdet an, denn Russland war und ist seit Jahrzehnten ein zuverlässiger Partner für die Schweiz und die anderen europäischen Länder. Heute müssen wir Europäer allein deshalb einen Gasmangel befürchten, weil unsere Regierungen derart massive Sanktionen gegen Russland ergriffen haben, dass sie den russischen Gasunternehmen nicht einmal die Bezahlung garantieren können (oder wollen). Kein Unternehmen würde unter diesen Umständen liefern. Statt dafür zu sorgen, dass durch Nord Stream 1 und Nord Stream 2 wieder russisches Gas fliesst, tragen unsere Staatschefs lieber zu den astronomischen Gewinnen der Öl- und Gasindustrie bei (siehe Kasten zu «Glencore»), indem sie in den Golf-Staaten herumweibeln, um für teures Geld fossile Energien zu ergattern, und Flüssiggasspeicher für schmutziges und noch teureres US-Fracking-Gas bauen. Lauter Lieferanten mit tadelloser Menschenrechtsbilanz? Und wir Bürger müssen dafür bezahlen!

«Diese Krise in der Schweiz ist zu einem grossen Teil selbstverschuldet»

Auch André Dosé, früherer Swiss-Chef und heutiger Präsident von Swissgas, übt scharfe Kritik an der bundesrätlichen Energiepolitik: «Wir sind auf ganzjährige Gasimporte und die Stromeinfuhr im Winter angewiesen. Diese Krise in der Schweiz ist zu einem grossen Teil selbstverschuldet. Die Energiestrategie 2050 ist auf Sand gebaut. Man ging davon aus, dass es kein Bevölkerungswachstum gibt, die Bevölkerung den Stromverbrauch reduziert. Ebenso war bei der Abstimmung die Elektromobilität nicht in den Szenarien enthalten. Es handelte sich um eine Träumerei, die so oder so nie funktioniert hätte. Der Ukraine-Krieg zwingt uns nun, auf dramatische Weise umzudenken.»6 Den Schweizer Stimmbürgern ins Notizbuch: Als Opfer und Geprellte der falschen Prognosen im Abstimmungsbüchlein haben die Stimmberechtigten im Mai 2017 der «Energiestrategie 2050» an der Urne mehrheitlich zugestimmt!
  Dem Bundesrat wirft André Dosé vor, sowohl in der derzeitigen Krisensituation als auch in der längerfristigen Planung nicht adäquat zu handeln: «[…] in Krisen muss man rasch vorwärtsgehen, Prioritäten setzen und Entscheide fällen». Um die Energiesicherheit nachhaltig zu gewährleisten, gebe es «keine kurzfristige Lösung. Der Ausbau der Photovoltaik ist richtig und gut – aber er bringt uns nicht durch den Winter.»
  Demgegenüber beteuert Bundesrätin Sommaruga, alles zu tun, um eine Mangellage zu verhindern: Der Bundesrat habe «einen Rettungsschirm für grosse Stromfirmen aufgegleist und eine Wasserkraftreserve für die kritische Zeit im Winter vorbereitet. Wegen des Kriegs in der Ukraine haben wir zudem die Gasbranche beauftragt, zusätzliches Gas zu beschaffen.»7 Ausserdem hat der Bund Grossbetriebe, die statt mit Gas auch mit Öl arbeiten können, aufgerufen, ihre Öllager zu füllen. So, so: Vor einigen Jahren wurde die Schweizer Bevölkerung dazu gedrängt, ihre Ölheizungen durch Gasheizungen zu ersetzen. Wir haben das brav getan – und jetzt werden 300 000 Wohnungen mit Gas geheizt, so auch im Mehrfamilienhaus, in dem ich wohne. In der wohlhabenden Schweiz wurden sogar viele noch funktionierende Ölheizungen herausgerissen! Was für eine Energieverschwendung! Heute haben wir keinen Öltank mehr und werden vermutlich dafür büssen. Aber auch dafür hat unsere Energieministerin gemäss SonntagsBlick ihre Rezepte: Die Schweiz solle sich die «EU zum Vorbild nehmen» und bis zum Frühling 15 % Energie sparen. Die entsprechende Kampagne (Heizungen hinunterdrehen, Duschen statt Baden usw.) werde nächstens gestartet.
  Zur Gasspeicherung: Die meisten bundesrätlichen Massnahmen seien zu spät gekommen, schrieb Swissgas-Chef Dosé bereits im Juli in der «Neuen Zürcher Zeitung». Heute seien die Regionalgesellschaften an der Befüllung der vom Bund vorgeschriebenen Speicher im Ausland, aber: «Ob das Gas in einer europäischen Mangellage auch physisch fliessen wird, ist alles andere als sicher.» Die Schweiz habe es verpasst, rechtzeitig zu handeln: «Wir hätten uns vor drei Monaten für ein oder zwei Milliarden Franken Gas sichern sollen. Das ist aber nicht geschehen. Nun kostet die Beschaffung dreimal so viel.» [Hervorhebung mw] Im Vergleich zu 2019 ist der Gaspreis laut Dosé sogar 25mal höher! Da verdienen sich einige Energiekonzerne dumm und dämlich, und wir bezahlen – oder frieren.
  Wie berechtigt Dosés Kritik ist, zeigt der topaktuelle Aktivismus des Bundesrates. Gemäss seiner Medienmitteilung vom 17. August 2022 will er für die Überbrückung der zu erwartenden Winterlücke Gaskraftwerke einsetzen. Interessanterweise wird nun plötzlich ein «leistungsfähiges, privates Gaskraftwerk» in Birr (Kanton Aargau) aus dem Hut gezaubert, das kurzfristig «aushelfen» könnte («Wie ein Aargauer Reservekraftwerk Stromlücken überbrücken soll». SRF News vom 18.8.2022). Dazu zwei kritische Fragen: Erstens: Wieviel wird diese Nothilfe den Steuerzahler kosten? Wer erst kurz vor dem Herbst eine Notreserve für den Winter organisiert, wird ungleich mehr bezahlen müssen! Zweitens: Warum gibt der Bundesrat nicht offen zu, dass die sogenannten Gaskraftwerke ziemlich sicher mit Öl betrieben werden müssen, weil Gas bekanntlich auch Mangelware sein wird? In einem Nebensatz erfährt man von der Vorgabe des Bundesrates, «dass solche Anlagen auf Grund der unsicheren Gasversorgungslage möglichst auch mit Öl (Dual-Fuel-Anlagen) funktionieren sollen.» Peinlich für die Klimaschützer …
  Ein kleiner Trost ist die Transit-Gas-Pipeline von Deutschland nach Italien durch die Schweiz. André Dosé: «Sie ist wichtig für die Versorgungssicherheit der Schweiz. Es steht in der Konzession, dass die Schweiz eine Mangellage ausrufen kann und dass dann ein Teil des Gases in die Schweiz fliessen könnte.» Allerdings mahnt er, wenn kein russisches Erdgas mehr durch die Pipeline fliesse, dann leide die gesamte europäische Versorgung. Wie gesagt: Unsere Regierungen sind aufgerufen, das Gespräch mit Russland wieder aufzunehmen und nachhaltige Abhilfe zu schaffen, nicht nur überteuerte Pflästerlipolitik für die nächsten paar Monate.

Energielücke schliessen und Abhängigkeit vom Ausland reduzieren

Für eine genügende Energieversorgung sehen sowohl ElCom-Präsident Werner Luginbühl als auch Swissgas-Präsident André Dosé vielfältige Möglichkeiten, auch NZZ-Redaktor Christoph Eisenring und viele andere denkende Zeitgenossen haben ihre Vorstellungen dazu. Sie hier darzulegen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Der Ruf aus Bern: «Wir müssen die Produktion von erneuerbaren Energien ausbauen!» ist zu unterstützen, und immerhin wird heute der grösste Stromlieferant der Schweiz, die Wasserkraft, mehr gefördert als früher. Das Parlament müsste allerdings vorwärtsmachen mit dem geplanten «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien», das seit rund einem Jahr in den zuständigen Kommissionen des Ständerates liegt.8 Beim ersten Durchlesen vermisst man zwar das dringend nötige straffere Verfahren bei Baugesuchen für Kraftwerke, auf dass der Ausbau einer Staumauer nicht mehr jahre- oder sogar jahrzehntelang auf dem Wartegleis steht. Aber der Gesetzesentwurf war bisher noch nicht in der National- und Ständeratsdebatte, deshalb besteht noch Hoffnung!

«Umfassende Sicherheit finden wir in und mit Europa» –
aber nöd würkli, Frau Bundesrätin!

In einer Rede anlässlich einer Veranstaltung des «Verlegerverbands Schweizer Medien» in Locarno vergass Frau Sommaruga offenbar, dass der Schweizer Bundesrat eine Kollegialbehörde ist, deren Mitglieder sich mit der Demonstration ihrer privaten Meinung etwas zurückhalten sollten. Besonders geschmacklos ist es, den Ukraine-Krieg als Aufhänger für einen Appell zur Eingliederung der Schweiz in die EU zu missbrauchen: «Der Krieg in der Ukraine ist aber nicht nur in der Energiepolitik für viele ein Weckruf. Er ist es auch aussenpolitisch.»9 Es sei Zeit für eine «Annäherung an Europa. Umfassende Sicherheit finden wir nicht, indem wir nur für unsere Armee mehr Geld ausgeben. Umfassende Sicherheit finden wir in und mit Europa.»
  Es scheint, als ob die Dame nicht nur in die EU, sondern auch gleich in die Nato strebt – findet die Schweiz dort «umfassende Sicherheit»? Wie absurd! Die Nato ist ein Kriegsbündnis, die EU ist heute Kriegspartei. Die Schweiz dagegen ist ein neutrales Land, und der Bundesrat ist gemäss Art. 185 Abs. 1 der Bundesverfassung verpflichtet, «Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz zu treffen». Dieser Pflicht kommt er derzeit und seit längerem in keiner Weise nach. Einzig Sommarugas Ratskollege Ueli Maurer erinnerte kürzlich in einer Rede daran, dass die Schweiz sich auch im Ukraine-Konflikt an das Neutralitätsprinzip halten müsse.
  Für den nächsten Schritt «auf Europa zu» brauche es «eine stabile politische Mehrheit», so die Bundesrätin, das heisst eine «deutliche Mehrheit der Parteien und der Wirtschaft».
  Das Stimmvolk sucht man in dieser «stabilen politischen Mehrheit» vergebens. Lieber wäre es wohl so manchem EU-Turbo, das Volk hätte in der direktdemokratischen Schweiz nicht «ewigs» das letzte Wort. Aber es hat das letzte Wort, seit langer, langer Zeit. Und so soll es auch bleiben.  •



1 Die Eidgenössische Elektrizitätskommission (ElCom) ist zuständig für die Überwachung der Stromversorgungssicherheit.
2 Humbel, Georg. «Die Politik hat unsere Warnungen zu lange zu wenig ernst genommen». Interview mit Werner Luginbühl. In: NZZ am Sonntag vom 7.8.2022
3 Keystone-SDA. «ElCom-Chef Luginbühl zu Strommangel: ‹Situation wäre zu bewältigen›». In: Swissinfo vom 7.8.2022
4 «Bankrotterklärung für die Energiestrategie». In: Neue Zürcher Zeitung vom 8.8.2022
5 Alabor, Camilla und Marti, Simon. «Sommarugas Strom-Sparplan. ‹Heizung runter in öffentlichen Gebäuden›». In: SonntagsBlick vom 14.8.2022
6 Vonplon, David; Hosp, Gerald. «André Dosé zur Energiekrise: ‹Man ist sich in der Schweiz nicht bewusst, wie gefährlich die Situation ist›». In: Neue Zürcher Zeitung vom 6.7.2022
7 Alabor, Camilla und Marti, Simon. «Sommarugas Strom-Sparplan. ‹Heizung runter in öffentlichen Gebäuden›». In: SonntagsBlick vom 14.8.2022
8 https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20210047
9 «Soirée Medias». Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga an einer Veranstaltung des Verlegerverbands Schweizer Medien in Locarno. In: Medienmitteilung des Bundesrates vom 6.8.2022

«Glencore schreibt dank hohen Rohstoffpreisen riesigen Gewinn»

«Glencore hat im ersten Halbjahr 2022 vom hohen Niveau der Rohstoffpreise und dem in letzter Zeit ausserordentlich florierenden Handelsgeschäft profitiert. Das widerspiegelt sich in einem Halbjahresgewinn von 12,1 Milliarden Dollar. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich das Ergebnis des Rohstoffhandels- und Bergbaukonzerns damit fast verzehnfacht.»

sda-Meldung vom 4.8.2022

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