«Soweit ich es erkennen kann …»

Über den Wahrheitsgehalt der Berichterstattung westlicher Medien beim Ukraine-Konflikt – eine kritische Analyse

von Patrick Lawrence

Soweit ich es erkennen kann, verlieren die Streitkräfte der Ukraine ihren Krieg gegen die russische Intervention. Soweit ich es erkennen kann, haben die ukrainischen Streitkräfte (AFU) den Krieg mehr oder weniger von Beginn der Feindseligkeiten am 24. Februar an verloren. Soweit ich es erkennen kann, steuern die ukrainischen Streitkräfte mit immer grösserer Dynamik auf eine entscheidende Niederlage zu. Soweit ich das beurteilen kann, werden sie immer verzweifelter, je deutlicher dieses Ergebnis wird, und ihr Verhalten wird immer verwerflicher.

Ich sollte meine Sätze zu diesem Thema nicht mit «soweit ich es erkennen kann» beginnen müssen. Aber soweit ich es erkennen kann, muss ich das tun – wie alle, die sich bemühen, die Ereignisse in der Ukraine so zu verstehen, wie sie sind.

Ukraine-Konflikt: Irreparabler Schaden bei Medien und im öffentlichen Diskurs

Wenn der Ukraine-Konflikt die Welt in eine geopolitische Krise gestürzt hat, so ist dies meiner Meinung nach nicht die einzige Krise, die er ausgelöst hat. Die amerikanischen Medien befanden sich bereits in einer Krise, lange bevor russische Truppen und Artillerie die Ostgrenze der Ukraine überschritten. Aber der Krieg, der seitdem ausgebrochen ist, hat unseren Zeitungen und Sendern einen Schaden zugefügt, den ich für irreparabel halte.
  Ähnlich verhält es sich mit unserem öffentlichen Diskurs insgesamt. Die Menge an verdorbenem Unrat, die jetzt auf Amerikas Dorfanger liegt, versetzt diejenigen, die noch durch ihn hindurchgehen, in einen Zustand «verwirrender Desorientierung» – ein Ausdruck, den ich gerade in einem Beitrag des geschätzten Alistair Crooke gelesen habe.1 Der Optimist in mir besteht darauf, dass es zumindest eine Chance gibt, diesen Schaden rückgängig zu machen – das Medienproblem ist jedoch von anderer Art.
  Der britische Diplomat im Ruhestand und Gründer des Conflict Forum in Beirut kommentierte einen bemerkenswert unverblümten Meinungsartikel in der Ausgabe des «Daily Telegraph» vom 1. August, in dem es heisst, dass die westlichen Post-Demokratien (mein Begriff) heute von einer Elite regiert werden, die sich von der realen Welt abgekoppelt hat.2

«Desinformations-Etiketten»

«Ja», antwortet Crooke, «die westliche Sphäre ist durch den ständigen Regen von Desinformations-Etiketten, die wahllos auf alles geklebt werden, was kritisch gegenüber der ‹einheitlichen Botschaft› ist, und durch unverschämte, offensichtliche Lügen so anfällig für eine verwirrende Desorientierung (wie beabsichtigt) geworden, dass eine Mehrheit in der westlichen Welt begonnen hat, ihren eigenen Grad an Vernunft und den der Umgebung in Frage zu stellen.»
  Ich kann die von Crooke und dem «Telegraph»-Mitarbeiter beschriebene katastrophale Situation nur mit der sich beschleunigenden Spirale vergleichen, die wir in unseren Medien und in unserem öffentlichen Raum beobachten, seit die Ukraine-Krise in einen offenen Konflikt ausgeartet ist. Mir schwirrt tatsächlich der Kopf angesichts des Spektakels der Medienberichterstattung und des Ausmasses, in dem sie die Leser und Zuschauer versucht hat zu verdummen.

Bericht von Amnesty International …

Betrachten wir ein paar der vielen wichtigen Ereignisse der letzten Woche.
  Am Donnerstag, den 4. August, veröffentlichte Amnesty International (AI) einen Bericht mit der Überschrift «Ukrainische Kampftaktiken gefährden Zivilisten».3 Hier sind die wichtigsten Absätze des Berichts. Ich werde ausführlich zitieren, um den Verdacht zu vermeiden, dass ich mich auf das Spiel «aus dem Zusammenhang gerissen» einlasse:

«‹Die ukrainischen Streitkräfte haben Zivilisten in Gefahr gebracht, indem sie bei der Abwehr der im Februar begonnenen russischen Invasion Stützpunkte und Waffensysteme in bewohnten Wohngebieten, darunter auch in Schulen und Krankenhäusern, errichtet haben›, so Amnesty International heute.
  Solche Taktiken verstossen gegen das Humanitäre Völkerrecht und gefährden die Zivilbevölkerung, da sie zivile Objekte zu militärischen Zielen machen. Die darauffolgenden russischen Angriffe auf bewohnte Gebiete haben Zivilisten getötet und die zivile Infrastruktur zerstört.
  ‹Wir haben dokumentiert, dass die ukrainischen Streitkräfte Zivilisten in Gefahr bringen und gegen das Kriegsrecht verstossen, wenn sie in bewohnten Gebieten operieren›, sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
  Dass sie sich in einer Verteidigungsposition befinden, entbindet das ukrainische Militär nicht von der Einhaltung des Humanitären Völkerrechts.»

Dokumentiert: AI verfügt über Dokumente, die diese Behauptungen belegen. Wie in dieser einleitenden Passage deutlich wird, verurteilt der Bericht auch einige der Taktiken, die das russische Militär in der Ukraine anwendet. Ich habe den Eindruck, dass man sich bewusst um Ausgewogenheit bemüht.

… und die tobende Reaktion westlicher Kommentatoren

Zu sagen, Amnesty habe in der Kapelle gerülpst, wäre noch zu milde ausgedrückt. Westliche Kommentatoren und natürlich auch ukrainische Beamte tobten. Dieser Bericht sei ein skandalöser Verstoss, war zu lesen. Die Leiterin des Kiewer AI-Büros trat zurück und erklärte: «Diese Untersuchung wurde zu einem Werkzeug der russischen Propaganda.» Gary Kasparow, Vorsitzender der Human Rights Foundation, meldete sich freundlich zu Wort: «Amnesty International kann für diesen Müll zur Hölle fahren.» Im Schach war Gary besser.
  Der Höhepunkt war die Reaktion von AI auf den Aufruhr am 7. August. «Amnesty International bedauert zutiefst den Ärger und die Wut, die unsere Pressemitteilung über die Kampftaktiken des ukrainischen Militärs ausgelöst hat», hiess es in einer E-Mail an Reuters.

Was haben wir hier, und was haben wir nicht?

Wir haben keine Entschuldigung von AI – nahe dran, aber nicht ganz. Wir haben auch keine Art von Widerruf. Und wir haben auch keine substantielle Widerlegung des AI-Berichts. Niemand hat das auch nur annähernd getan.
  Wir haben mehr oder weniger offene Aussagen, dass eine Organisation, die im öffentlichen Raum tätig ist, gesündigt hat, wenn sie mit einem gewissen Anschein von Uneigennützigkeit gehandelt hat, die eine intakte Gesellschaft von solchen Organisationen verlangt. Die meisten Nichtregierungsorganisationen wie AI – Human Rights Watch ist ein weiteres prominentes Beispiel – haben diesen Grundsatz schon vor langer Zeit im Dienste der Stärkung westlicher Rechtgläubigkeit aufgegeben. So sieht die Verschandelung unseres Gemeinguts aus. Gleichzeitig scheint es in diesen Organisationen beträchtliche Meinungsverschiedenheiten zu geben, wobei die Kluft ungefähr zwischen den Mitarbeitern vor Ort und den auf ideologische Konformität bedachten Managern der Führungsebene verläuft. Ich betrachte dies als einen Faktor im vorliegenden Fall.

Schleichender Verfall des öffentlichen Lebens

Der Schock über die Vorwürfe, die gegen AI erhoben wurden, rührt daher, dass Amnesty International trotz interner Meinungsverschiedenheiten genauso kompromittiert ist wie die meisten anderen westlichen Nichtregierungsorganisationen und sich auch entsprechend verhält. Es war völlig unangemessen, sein Bedauern darüber zum Ausdruck zu bringen, dass es die Menschen wütend und gestresst gemacht hat, während die Organisation ausnahmsweise ihre eigentliche Arbeit gemacht hat – aus meiner Sicht ein Zeichen für den schleichenden Verfall unseres öffentlichen Lebens.
  Es kommt noch schlimmer. Im Anschluss an die Wir-bedauern-dass-wir-Sie-verärgert-haben-Notiz von AI kündigte die Organisation eine Untersuchung des Berichts an, um herauszufinden, «was falsch gelaufen ist». Unverzeihlich.
  Ein weiterer interessanter Punkt in diesem Zusammenhang. Der AI-Bericht bestätigt, was die Aufmerksamen unter uns seit Beginn der Feindseligkeiten gelesen haben: Die AFU hat in der Tat auf zynische Weise zivile Orte und deren Bewohner als Schutzschilde benutzt. Alles, was wir in den Berichten unserer Konzernmedien gelesen haben, sind die unaufhörlichen Dementis der Ukrainer.  

CBS über illegale Waffenverkäufe …

Ich komme zum Fall CBS [eines der grössten Hörfunk- und TV-Netzwerke der USA] und seinem Bericht vom Freitag, dem 5. August, dass etwa 70 Prozent der Waffen und des Materials, die die USA und ihre europäischen Verbündeten in die Ukraine schicken, die AFU nie erreichen. Wir können davon ausgehen, dass sie in einen riesigen Schwarzmarkt für illegale Waffenverkäufe abgezweigt werden.
  Mit Sicherheit ist davon auszugehen: Seit kurz nach dem Staatsstreich von 2014 habe ich aus zuverlässigen Kiewer Quellen und von internationalen Geschäftsleuten mit Interessen in der Ukraine erfahren, dass die Ukraine, die laut Transparency International zu den korruptesten Ländern der Welt gehört, der mit Abstand grösste illegale Waffenmarkt der Welt ist. Eine Reihe amerikanischer Abgeordneter, insbesondere Victoria Spartz, eine Republikanerin aus Indiana und die erste in der Ukraine geborene Abgeordnete, die in den Kongress gewählt wurde, fordert seit Monaten, dass die USA die Verteilung der Waffen, die sie über die polnische Grenze in die Ukraine liefern, überwachen.
  CBS hat gute Arbeit geleistet und uns auf den neuesten Stand gebracht: Es ist das Chaos, das Spartz und andere seit Beginn des Waffenflusses vermutet haben. Der Sender hatte einige gute Quellen. Und schliesslich konnten wir schon seit vielen Monaten hier und da über dieses schmutzige Geschäft lesen.

… und seine «Aktualisierung»

Nein, protestierten hochrangige ukrainische Beamte auf den Vorschlag von Spartz – unhöflich und lautstark. Die Überwachung der Verteilung westlicher Waffen würde «eine weitere Ebene der Bürokratisierung» hinzufügen und so zu kritischen Verzögerungen bei den Lieferungen führen. CBS wurde in etwa genauso behandelt wie AI. Es gab kein substantielles Bestreiten des Problems, sondern nur die Empörung darüber, dass der Sender darüber berichtet hatte, was er gefunden hatte, und damit der Sache einen schlechten Dienst erwiesen hatte.
  Noch einmal, der bedauernswerte Teil: Am Sonntag, 7. August, löschte CBS den Beitrag und erklärte, es werde ihn überprüfen und zu einem späteren Zeitpunkt erneut veröffentlichen. In der Zwischenzeit hat CBS den Beitrag erneut veröffentlicht, nachdem er auf Grund von Beschwerden ukrainischer Beamter abgeschwächt worden war. Das nennt man heutzutage «aktualisieren».
  Um es noch einmal deutlich zu machen: CBS hat die Behauptungen in dem Beitrag nicht zurückgenommen. Es hiess lediglich, dass die Dinge in letzter Zeit besser geworden seien – was das ukrainische Argument ist.
  Ich kann einfach den Beruf nicht wiedererkennen, den ich zu meinem gemacht hatte, als er noch der Mühe, der Hingabe, des gelegentlichen Herzschmerzes und all der anderen Dinge wert war, die er denjenigen abverlangte, die ihn ausübten.

Portugal 1975 – Erfahrungen eines jungen Auslandkorrespondenten

Wo wir gerade dabei sind:
  Mein erster Einsatz als Auslandskorrespondent war 1975 in Portugal, kurz nach der Nelkenrevolution, als eine Gruppe prinzipientreuer Offiziere die 50jährige Diktatur von Marcelo Caetano stürzte. Ich arbeitete für eine kleine unabhängige Wochenzeitung mit Büros in einem Loft am Union Square in Manhattan. Ich war jung, unerfahren und machte zuverlässig einen Fehler pro Tag.
  Aber Lissabon war mein Klassenzimmer. Und eine der Lektionen, die ich mit nach Hause nahm, war, wie sich Korrespondenten in politischen Angelegenheiten verhalten sollten, wenn sie über andere berichten.
  Alle Korrespondenten bringen ihre politischen Vorstellungen mit, so wie ich es in Portugal getan habe. Das ist eine natürliche Sache, eine gute Sache, eine Bestätigung ihres engagierten, bürgerlichen Selbst, die keineswegs zu bedauern ist. Die Aufgabe besteht darin, die eigenen politischen Vorstellungen mit der beruflichen Verantwortung in Einklang zu bringen, mit dem einzigartigen Platz, den Korrespondenten im öffentlichen Raum einnehmen. Man darf Journalismus und Aktivismus nicht verwechseln. Man tut sein Bestes, um seine Voreingenommenheit, seine politischen Neigungen, seine Vorurteile und was auch immer aus den Dossiers herauszuhalten, die man seiner Auslandsredaktion schickt. Das erfordert Disziplin und geordnete Prioritäten.

Im Dienst des Nationalen Sicherheitsstaates

Das bekommen wir von den westlichen Korrespondenten, die für die Mainstream-Medien über die Ukraine berichten, nicht geboten. Sie mögen den Fehler, Journalismus mit Aktivismus zu verwechseln, mit unabhängigen Publikationen in Verbindung bringen, und das ist auch gut so – bis zu einem gewissen Punkt. Das kommt vor. Die Wahrheit ist, dass fast alle Mainstream-Journalisten, die aus der Ukraine berichten, sich dessen schuldig gemacht haben – und ich bin nahe daran, mein «fast» zu streichen. Sie sind in Wirklichkeit Aktivisten für die Sache des amerikanischen Nationalen Sicherheitsstaates, dessen Kampagne gegen Russland und Washingtons aktuelle Bemühungen zur Verteidigung seiner Vormachtstellung.

Mainstream-Korrespondenten damals …

Ich habe über viele Jahre hinweg eine Untersuchung über die bemerkenswerten Auslandskorrespondenten der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts durchgeführt. Martha Gellhorn über den Spanischen Bürgerkrieg. Joe Liebling über den Zweiten Weltkrieg in Europa. Ernie Pyle, Donnerwetter. Bernard Fall über die letzten Tage der Franzosen in Indochina.
  Die besten Vietnam-Korrespondenten, die für die amerikanischen Tageszeitungen und Nachrichtenagenturen berichteten. Der unnachahmliche Wilfred Burchett, der sich dadurch auszeichnete, dass er als einziger westlicher Korrespondent aus dem Norden über Vietnam berichtete.
  Sie liefen hinter und entlang der Frontlinien hin und her, diese Leute. Sie hatten Dreck unter ihren Fingernägeln. Sie zeigten uns Karten mit vielen Pfeilen darauf. Sie berichteten über den täglichen Fortgang des Krieges mit den Namen unbekannter Städte in ihren Beiträgen.
  Von den Mainstream-Korrespondenten in der Ukraine erfahren wir nichts davon. Warum eigentlich?

… und heute

Es wäre einfach zu sagen, sie hätten keinen Mumm und kein Engagement für ihren Beruf. Das mag bei einigen, vielen oder allen von ihnen der Fall sein. Hier ist meine deutlichere Antwort: Sie dürfen nicht aus nächster Nähe über diesen Konflikt berichten. Ihre ausländischen Redakteure wollen das nicht, und die Ukrainer werden es ihnen nicht erlauben. Keiner von beiden will tägliche Berichte über einen langsamen Marsch in die Niederlage. Besser ist es, die Berichterstattung breit und unscharf und punktuell zu halten. Viele Anekdoten über hilflose Opfer und russische Greueltaten, von denen die Korrespondenten, die darüber berichten, nichts mitbekommen haben.
  Besser ist es, sich ausschliesslich auf das zu verlassen, was ukrainische Beamte und Militäroffiziere erzählen und sehen lassen und was westliche Geheimdienstler vorgeben zu bestätigen. Das ist für mich eine schändliche Pflichtverletzung, bei der ich mich frage, ob die Mainstream-Medien jemals von ihrer Rolle, die sie als Propagandisten übernommen haben, zurücktreten können. Tun Sie nicht so, als wären Sie schockiert. Das geht schon seit langem so. In Bezug auf die Ukraine ist man meiner Meinung nach einfach zu weit gegangen.

«Logisch unmöglicher Schrott»: Gefangenenlager im Donbass und Atomkraftwerk

Ein russisches Gefangenenlager im Donbass wird beschossen, und etwa 50 ukrainische Gefangene werden getötet. Wir sollen glauben, dass die russischen Streitkräfte ihr eigenes Gefangenenlager aus ungeklärten Gründen beschossen haben. Als wir später erfahren, dass die Russen kurz vor Beginn des Beschusses Videos der Gefangenen veröffentlichten, in denen diese über die Befehle der befehlshabenden Offiziere berichteten, alle gefangenen Russen zu foltern – was die Frage nach Kriegsverbrechen auf höchster Ebene aufwirft –, wird uns gesagt, dies habe nichts damit zu tun.
  Während wir hier sprechen, sollen wir glauben, dass die Russen ein Atomkraftwerk beschiessen, das ihre eigenen Truppen seit März bewachen. Hier verliere ich völlig den Faden.
  An einem Tag in der letzten Woche haben wir gelesen, dass sich die russischen Streitkräfte zynischerweise in dem Kraftwerk verschanzen, weil die Ukrainer keine Raketen hineinschicken können – zu gefährlich. Am nächsten Tag lesen wir, dass die Russen selbst das Kraftwerk beschiessen, in dem sie einen Tag zuvor noch Schutz gesucht haben sollen. Hierfür gibt es nur eine plausible Erklärung: Die Korrespondenten, die über diesen logisch unmöglichen Schrott berichten, sind nicht vor Ort und stützen sich auf ukrainische Berichte; diese Berichte unterscheiden sich von Tag zu Tag, von einem Beamten zum nächsten.
  Die Unterlagen, die an die Auslandsabteilung geschickt werden, sind also «a dog’s dinner» [deutsch: Pfusch], wie die Engländer sagen. Und es bleibt bei «Soweit ich es erkennen kann …»
  Ich könnte sagen, diese Korrespondenten tun mir leid, aber das ist nur teilweise wahr. Es ist zu schade, dass sie erwachsen geworden sind, während der Hauptteil des Berufsstandes in Propaganda und Lobbyismus zerfällt und ihre Auslandreisen zu einem so unwürdigen Geschäft geworden sind. Ich würde Tränen der Wut weinen, wenn mir das passiert wäre. Aber die Alternative ist, sich zu weigern und, wenn es sein muss, aus einem Unternehmen auszusteigen, an dem ein seriöser Korrespondent nicht beteiligt sein sollte.

Eva Bartlett: Berichte von der anderen Seite – eine Alternative

Letzte Woche stiess ich auf eine bemerkenswerte Veröffentlichung. Darin wird eine dritte Alternative vorgeschlagen.
  Eva Bartlett, eine kanadische Korrespondentin, erinnert mich in gewisser Weise an Wilfred Burchett: Sie berichtet von «der anderen Seite» und hat keine Verwendung für die Rechtgläubigkeit der anderen. Das hat sie in Syrien und davor in den Palästinenser-Gebieten getan. Zu Beginn des Ukraine-Konflikts reiste sie an einen Ort neun Meilen ausserhalb von Mariupol, wo die Russen Berichten zufolge ein Massengrab mit – Achtung, jetzt kommt’s – 9000 Ukrainern ausgehoben und gefüllt hatten. Das sind eine Menge Ukrainer, die auf einmal begraben werden sollten. Aber alle grossen Tageszeitungen, die nie aufhören, die Dinge zu durchdenken, folgten der Geschichte, die ukrainische Beamte ihnen gaben. 9000 waren es.
  Es gibt kein Massengrab, hat Bartlett herausgefunden. Ihr Beitrag enthielt Interviews mit örtlichen Beamten und Zeugen, Videoausschnitte und Fotos. Sie fand einen geordneten, ungestörten Friedhof mit geordneten, ungestörten Grabmarkierungen. Sie zeigte uns Bilder davon. Sie sprach mit den Totengräbern, die von den Berichten über ein Massengrab verwirrt waren.
  Vor zwei Wochen berichtete Bartlett aus Donezk über einen Bombenhagel, bei dem Tausende winziger, tödlicher Minen über der ganzen Stadt abgeworfen wurden.4 RT brachte den Bericht. Es ist eine weitere Reportage aus nächster Nähe und vor Ort. Ihr Bericht trug die Überschrift: «Der Westen schweigt, während die Ukraine Zivilisten in Donezk mit verbotenen ‹Schmetterlingsminen› beschiesst.»
  Bartlett wies vorsichtig darauf hin, dass die Beweise auf die Ukraine hindeuten, hielt sich aber mit einer Schlussfolgerung zurück. Die Ukrainer beharren wieder einmal darauf, dass die Russen die Schuld tragen: Diesmal sollen wir glauben, dass sie eine Stadt unter der Kontrolle ihrer Verbündeten der Donezker Republik vermint haben.
  Ich erwähne Eva Bartletts Beitrag, weil er, abgesehen von seinem unmittelbaren Thema, daran erinnert, was Auslandskorrespondenten eigentlich tun sollen. Sie sollen herumlaufen, mit den Menschen sprechen, die sie treffen – insgesamt sollten sie vor Ort sein und berichten, was sie sehen, und nicht, was jemand anderes ihnen erzählt, dass sie es gesehen hätten.
  Es war bittersüss, dieses Stück neben den anderen Berichten zu lesen, die ich hier erwähne. Alles, was der Beruf sein könnte, und alles, was er nicht ist – soweit ich es erkennen kann.  •



1 https://southfront.org/the-masque-of-pandora/
2 https://www.telegraph.co.uk/news/2022/08/01/catastrophic-energy-crisis-will-fuel-revolt-against-failed-elites/?WT.mc_id=e_DM15762&WT.tsrc=email&etype=Edi_FAM_New_ES&utmsource=email&utm_medium=Edi_FAM_New_ES20220802&utm_campaign=DM15762
3 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/08/ukraine-ukrainian-fighting-tactics-endanger-civilians/
4 https://www.rt.com/russia/560020-donetsk-butterfly-mines-geneva-conventions/

Quelle: ScheerPost vom 11.8.2022; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein jüngstes Buch ist «Time No Longer: Amerikaner nach dem amerikanischen Jahrhundert». Auf Twitter fand man ihn bei @thefloutist, bis er ohne Begründung zensiert wurde. Seine Webseite lautet patricklawrence.us. Unterstützen Sie seine Arbeit über patreon.com/thefloutist.

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