Was ist mit unseren Schulen los?

von Dr. Eliane Perret, Heilpädagogin und Psychologin

Akuter Lehrermangel! In den letzten Wochen gab es wohl keine Zeitung, keinen Fernsehkanal und keinen Radiosender, der das nicht zum Thema machte. Doch ist es nicht so, dass unsere Schulen schon in den letzten Jahren vor demselben Problem standen? Dass in Schulhäusern reihenweise Lehrer kündigten, krank wurden oder in andere Berufszweige wechselten und man sich mit Notlösungen begnügen musste? Alles auf dem Buckel unserer Kinder und Jugendlichen, die nur eine einzige Schulzeit haben. Auch jetzt wieder! Was läuft seit Jahren schief? Welches sind die tieferliegenden Gründe dieses Missstandes? Sich dieser Frage zu stellen, ist unausweichlich und darf nicht weiter verweigert werden.

Leo hat schon vor einem halben Jahr seinen neuen Schulrucksack erhalten. Er beginnt nun mit der ersten Klasse. «Ja, er freut sich, aber eigentlich war schon der Kindergarten fast wie Schule, Arbeitsblätter ausfüllen, Zahlen und Buchstaben schreiben. Leo wurde von seiner Kindergärtnerin beobachtet und mit Kreuzchenlisten beurteilt», denkt die Mutter bedauernd, «das gemeinsame Spielen und Basteln fehlte ihm. Aber nun beginnt für ihn eine neue Zeit.» Doch sie weiss, Leo kann nur schwer länger an einer Sache verweilen. «Ob dann die Lehrerin auch wieder an sie herantragen wird, dass man das abklären müsse?» überlegt sie. Das war schon im Kindergarten Gesprächsthema. «Wären wir doch im Kanton Tessin, dort kommen sie offenbar besser zurecht mit quirligen Kindern.» Ihr Mann hatte nämlich vor einigen Jahren in der Zeitung gelesen, dass dort bei weniger Kindern ein mögliches ADHS abgeklärt und Ritalin verschrieben werde. «Zum Glück hat die Schulleitung ihres Erstklässlers in den Ferien noch einen Lehrer gefunden, also eigentlich keinen ‹richtigen› Lehrer, sondern jemanden, der sich nach einer sehr, sehr kurzen Ausbildungszeit an der Pädagogischen Hochschule nun in der Schule versucht», sinniert sie weiter. Der andere Sohn wird in der Mittelstufe eine junge Lehrerin haben, die ihre Ausbildung unterbricht, um erste Erfahrungen im Unterrichten zu sammeln. «Hoffentlich gehört sie wenigstens nicht zu denjenigen, die schon nach kurzer Zeit wieder aufhören, weil sie nicht zurechtkommen», überlegt die Mutter. Das war bei der Ältesten in der Oberstufe so. Dort lösten sich Lehrer ab, die nur kurz in der zunehmend verwahrlosten Klasse blieben, so dass sie schliesslich in der Familie all ihr Geld zusammenlegten, um ihre Tochter in eine Privatschule zu schicken. Eigentlich fanden sie das nicht richtig, denn die Volksschule ist ja fürs «Volk» und wird von dessen Steuern finanziert. Aber nun versucht Leos Mutter ihre Sorgen zur Seite zu schieben und den neuen Herausforderungen mit Zuversicht entgegenzuschauen.

Leos Mutter ist nicht allein

Nur ist Leos Mutter mit ihren Sorgen nicht alleine. In den letzten Wochen häuften sich die Meldungen über einen eklatanten Mangel an Lehrkräften in der Volksschule. Man wagte sogar, von einer «Bildungsmisere» zu sprechen. Die Lösungsansätze reichten von einer Vergrösserung der Schulklassen über eine verpflichtende Erhöhung des Stundenpensums der Lehrpersonen hin zu erleichterten oder im Gegenteil auch erschwerten Anforderungen für den Zugang zur Ausbildung. Schliesslich kamen «befreiende» Mitteilungen der kantonalen Bildungsdirektionen, dass das Problem fast überall gelöst sei. Man erfuhr aber nicht genauer wie, ausser dass einige Klassen nun Lehrer ohne Ausbildung (dafür mit Lebens- und Berufserfahrung) hätten oder auch Studenten der Pädagogischen Hochschulen, die ihr Studium unterbrechen, um zu unterrichten (was übrigens schon bisher geschah).

Nicht Zuckerguss, sondern eine ehrliche Analyse

Wäre nun nicht der Zeitpunkt, grundsätzlicher zu überlegen, was eigentlich in unserem Bildungswesen schiefläuft? Denn der Mangel an Lehrkräften, die hohe Fluktuation in den Schulhäusern, fach- oder stufenfremdes Unterrichten und Burnouts sind ein Problem, unter dem unsere Schulen schon seit einigen Jahren leiden – und das stets schöngeredet wird. Eine ehrliche, unabhängige Ursachenforschung wäre angesagt, denn auch der «Patient Schule» hat das Recht auf eine sorgfältige Diagnose und fachlich korrekte «Therapie». Nur so können Massnahmen ergriffen werden, die tatsächlich wirken. Denn mit Zuckerguss arbeitet ein Confiseur, er gehört nicht in die Hände von Bildungsverantwortlichen!

Eine lange Fehlentwicklung

Die Analyse des aktuellen Zustands unserer Volksschule1 braucht allerdings den Blick auf die Vorgänge in unserer Volksschule über mindestens die letzten drei Jahrzehnte. Vielen ist kaum bekannt, dass dort die Wurzeln der heutigen Misere liegen. Wer die Entwicklungen in unserem Bildungssystem verfolgt hat, weiss um den Tornado, der in dieser Zeit über die Schulen hinweggefegt ist. Zuvor war den Schweizer Schulen im internationalen Vergleich stets eine sehr hohe Qualität attestiert worden. Die Schere zwischen leistungsstarken und schwächeren Kindern sei klein und die Schule gut im demokratischen System unseres Landes verankert – wie es eben für eine Volksschule üblich sein sollte! Das änderte sich Mitte der neunziger Jahre, als die OECD auf Druck der USA die Unesco aus deren Führungsaufgabe drängte. Massgebend war dabei die Drohung der USA, sonst aus dieser internationalen Organisation auszutreten, so wie sie 1984 aus der Unesco ausgetreten waren, als diese ihren damaligen Forderungen nicht nachgegeben hatte.2 Die OECD wehrte sich zuerst dagegen, gab dann aber dem Druck nach und arbeitete die Indikatoren aus, mit denen Bildungssysteme international verglichen werden sollten. Sie ernannte sich damit zum alleinigen Schiedsrichter für die Beurteilung nationaler Bildungssysteme. Dazu konzipierte sie die Pisa-Tests, welche während fünf Jahren von etwa 300 internationalen Wissenschaftern vorbereitet wurden. Entsprechend hatten sie keinerlei Zusammenhang mit der europäischen Bildungstradition und den nationalen Bildungskonzepten und Lehrplänen, sondern standen auf der Grundlage des sprichwörtlich schlechten anglo-amerikanischen Bildungssystems. Trotz des damit verbundenen Theorie- und Kulturbruchs gegenüber der europäischen Bildungstradition segneten die OECD-Länder – auch die Schweiz – das Pisa-Konzept ab und etablierten damit (nicht zuletzt bedingt durch einsetzende Peer pressure) die Vormachtstellung der Wirtschaftsorganisation im Bildungsbereich.3

Schockstrategie als Katalysator

In der Schweiz war man von den unerwartet schlechten Resultaten des ersten Pisa-Tests schockiert. Das wirkte als Katalysator für eine Reformkaskade, mit denen unser Volksschulsystem stetig aus seinen demokratischen Strukturen, die offensichtlich «störten», herausgelöst wurde. Das ging so leicht, dass man sich in einer der wenigen unabhängigen Studien wunderte, wie locker diese grundlegenden Reformen in der Schweiz vonstatten gingen und dass nicht einmal die Kantone als wichtigste Veto-Player den erwarteten Widerstand leisteten.4 Seither ist unser Bildungssystem geprägt von einem international gleichschaltenden Rankingfetischismus, was absolut nicht nötig gewesen wäre, denn die Qualität unserer Schulen war hervorragend.

Schulen und Universitäten als kundenorientierte Dienstleistungsunternehmen

NPM, diese drei Buchstaben stehen für New Public Management, zu deutsch Reform der öffentlichen Verwaltung.5 Es ist das Werkzeug neoliberaler Regierungen, mit dem öffentliche Ausgaben möglichst reduziert und aus dem Staat ein kundenorientiertes Dienstleistungsunternehmen gemacht werden soll. Damit wurde die Umgestaltung unseres demokratisch organisierten und kontrollierten Bildungswesen zu einem aus der Privatwirtschaft übernommenen betriebswirtschaftlich gemanagten Schulbetrieb in Angriff genommen. Fortan ging es um Sparprogramme, Effizienz und Effektivität. Im Kanton Zürich ist damit der Name des damaligen Regierungsrats Ernst Buschor und seiner Führungsmannschaft verbunden. Ehemals Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule St. Gallen HSG, war er ein vehementer Verfechter des NPM. Er übernahm 1995 die Leitung des Zürcher Erziehungsdepartements unter der Bedingung, es mit diesen Methoden umgestalten zu können (wie er es zuvor im Gesundheitswesen bewerkstelligt hatte). Vielsagend versprach er in einem Artikel im «Tages-Anzeiger» vom 11. November 1995, «das Zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterzunehmen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umzuformen». Er leitete einen Reformsturm ein – beginnend bei der Universität, die ab 1999 ins Bologna-System übergeführt wurde; die Mittelschulen erhielten eine neue Maturitätsverordnung, und auch die damals neuen Fachhochschulen wurden von Beginn an nach NPM-Kriterien geführt. Immer begründet mit Finanzknappheit und entsprechendem Spardruck.

GATS – öffentliche Dienstleistungen als Handelsware

In diesen Zeitraum fielen – und das nicht zufällig – auch die 1995 im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO abgeschlossenen globalen Freihandelsverträge, in die heute 164 Länder eingebunden sind. Eines dieser Abkommen war das General Agreement on Trade in Services GATS (= Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen). Es fordert einen laufenden Prozess der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Die Schweiz hat dieses Abkommen 1995 unterzeichnet. Das Bildungswesen gehört zu den im GATS aufgelisteten Bereichen, es wurde von der Schweiz mit keiner der möglichen Ausnahmeklauseln belegt. Dies ist wichtig zu erwähnen, denn ohne diese internationalen Bestrebungen der globalisierten Wirtschaft einzubeziehen, können die aktuellen Fehlentwicklungen in unserem Bildungswesen weder verstanden noch korrigiert werden.

Entdemokratisierung, Firmenstrukturen und CEOs

NPM gab also den Fahrplan vor, mit dem im Laufe der letzten drei Jahrzehnte unsere Schulen auf den Kopf gestellt wurden. Denn man wollte sie zu Dienstleistungsunternehmen mit Globalbudgets und entsprechenden Hierarchieebenen umstrukturieren. Dazu gehörten Firmenstrukturen, weshalb bereits 1996 Schulleitungen eingeführt wurden (in der Privatwirtschaft auch als CEOs bezeichnet). Sie traten an Stelle der bisherigen kollegialen Zusammenarbeit mit einem Hausvorstand, der als Primus inter pares administrative Aufgaben übernahm und das Team an den Sitzungen der Schulpflege vertrat. Waren die Schulleiter zuerst noch engagierte, manchmal auch überaus ehrgeizige Lehrkräfte, so kann heute dieser «Job» von Managern ohne jegliche Unterrichtserfahrung übernommen werden. Managementtheorien bestimmen auch den Inhalt der teuren Schulleitungsausbildungen. Ein sehr wichtiger Reformpunkt war die Abschaffung der für die Schweiz typischen demokratischen Verankerung der Schulen mit entsprechenden subsidiär organisierten Behördenstrukturen in ihren jeweiligen Gemeinden und Regionen. Nur so konnten die Reformen mit einer Top-down-Strategie durchgesetzt werden. Darum wurden die bisher vom Volk gewählten Schulpflegen zugunsten der Schulleitungen entmachtet und zu Verwaltungsbehörden umfunktioniert. Die nächst-übergeordnete Behörde, die Bezirksschulpflege, welche bisher die Schulen beaufsichtigt hatte und Ansprechpartner für Rekurse gewesen war, wurde unter dem Schlagwort «Professionalisierung» durch eine Fachstelle für Schulbeurteilung ersetzt, die von der Verwaltung eingesetzt wurde. Sie überprüft seither in einem für die Schulen arbeitsintensiven, dem Vernehmen nach von vielen als unnötig aufwendig und wenig hilfreich bezeichneten Verfahren die Qualität von Schulen. Auch die Schulstufen wurden neu organisiert und dabei der in der Schweizer Bevölkerung gut verankerte und geschätzte Kindergarten durch eine bereits schulstofforientiert konzipierte Basisstufe abgelöst (auch wenn der Begriff «Kindergarten» vielerorts beibehalten wurde).
  Für die Lehrkräfte wehte deshalb ein neuer, scharfer Wind. Sie wurden nun nicht mehr von den Stimmbürgern gewählt, sondern neu mit in der Privatwirtschaft üblichen Verträgen eingestellt und lohnwirksamen Mitarbeiterbeurteilungen unterzogen. Ihr Berufsauftrag wurde neu definiert, und sie hatten ihren Unterricht auf die nun propagierten individualisierenden Methoden des Classroom-Managements umzustellen.

Neue Ausbildungskonzepte an den Pädagogischen Hochschulen

Genauso wie alle anderen Reformschritte steht deshalb auch die Neugestaltung der Lehrerausbildung im Kontext der von der OECD und dem Aktionsrahmen Bildung 2030 der Unesco vorgegebenen Marschrichtung. Ein sehr entscheidender Reformschritt war deshalb – gerade im Zusammenhang mit der heutigen Misere – die Abschaffung der bisherigen Ausbildungsstätten für Lehrpersonen, den Seminarien, in denen sie von praxis-erfahrenen, an der europäischen Bildungstradition orientierten Fachkräften in ihren Beruf eingeführt worden waren. Nun wurden Pädagogische Hochschulen gegründet, an denen heute die Studierenden vorrangig in die methodischen und inhaltlichen Unterrichtsprinzipien aus dem angloamerikanischen Raum eingeführt werden. Dazu gehört das vorwiegend selbstorganisierte Lernen, das auf den durch Tests überprüfbaren Kompetenzen des umstrittenen Lehrplans 21 aufbaut. Oft vermitteln dies – wie von Studierenden zu hören ist – Dozenten, zu deren Anforderungsprofil offenbar nicht mehr zwingend eigene Unterrichtserfahrungen in der Volksschule gehören.

Auf leisen Sohlen in die falsche Richtung

Zusammengefasst: Es erfolgte – von vielen unbemerkt – in den letzten Jahrzehnten auf allen Ebenen unseres Bildungswesens von der Verwaltungsstruktur bis zu den Ausbildungs- und Unterrichtsinhalten ein stetiger Reformprozess, der unser Schulsystem aus seinen direktdemokratischen Wurzeln herauszulösen versuchte. Das kam einem Paradigmenwechsel von der europäischen Bildungstradition hin zu angloamerikanischen Konzepten auch auf der Ebene des Unterrichts gleich. Es folgten Volksabstimmungen, mit denen man das Volk ins Boot holen wollte. Die gesetzlichen Vorlagen, die den Stimmbürgern zur Abstimmung vorgelegt wurden, waren wenig transparent und von ausgeklügelten Propagandakampagnen begleitet. Sie enthielten viel Spielraum für Verordnungen, mit denen die Bildungsverantwortlichen danach umstrittene Massnahmen problemlos einführen konnten. Beispiele waren die Abstimmungen 2006 über einen Bildungsartikel in der Bundesverfassung und die Errichtung des HarmoS-Konkordats durch die demokratisch zweifelhaft legitimierte EDK (Erziehungsdirektorenkonferenz). Beides wurde unter der Prämisse der Angleichung der kantonalen Bildungssysteme «verkauft», war aber ein weiterer Entdemokratisierungsvorgang, der einen Macht- und Zentralisierungszuwachs auf Bundesebene auf Kosten der Kantone bedeutete. Gebetsmühlenartig wurde das nicht stichhaltige Argument wiederholt, dass die Entwicklung der Schweizer Schulen im 19. Jahrhundert stehengeblieben sei und nun den Anschluss an die Welt verlöre, wenn sie nicht mitmachten. Vergessen schien, dass die Schweiz zuvor stets wegen ihres hervorragenden Schulsystems bewundert worden war …
  Trotz dieser geballten Propaganda wehrten sich viele wache und verantwortungsbewusste Zeitgenossen gegen diese Fehlentwicklung. Ein Beispiel sind die Volksinitiativen in 11 Kantonen der deutschen Schweiz, mit denen sie die Einführung des Lehrplans 21 zu verhindern suchten (zwar gingen die Abstimmungen verloren, aber stets unterstützte ein Viertel oder gar jeder dritte Stimmbürger diese Vorlagen).

Ehrlichkeit ist angesagt

Und was hat das nun mit den eingangs beschriebenen Sorgen von Leos Mutter und der prekären Situation des Lehrermangels zu tun? Viele interessierte Zeitgenossen rätseln über die Gründe der heutigen Probleme und suchen nach Lösungen. Das geht nicht ohne sorgfältige Analyse, denn eine ehrlich geführte öffentliche Debatte über den Kulturwandel unseres Bildungswesens fand nie statt. Im Gegenteil, die kritischen Einwände und fundierten Analysen von Lehrkräften und verantwortungsbewussten Bildungsverantwortlichen wurden nicht nur in den Wind geschlagen und als Verschwörungstheorien abgetan, sondern über Jahre hinweg mit einer für die Schweiz unüblichen, hässlichen Medienkampagne ausgeschaltet. Viele Lehrpersonen wagen seither nicht mehr, sich laut und deutlich zu äussern, und nicht wenige stiegen aus dem Beruf aus, der nicht mehr der ihre war, reduzierten ihr Pensum, übernahmen eine pädagogische Nische oder liessen sich vorzeitig pensionieren. Andere strengten sich über die Massen an, um es «richtig zu machen», der Kritik zu entgehen, manche auch, weil sie für sich eine mögliche Karrierechance in der Bildungsverwaltung sahen. Burnouts wurden zunehmend zu üblichen Berufsrisiken von Lehrpersonen. Auch fiel auf, dass die Pädagogischen Hochschulen zwar grossen Andrang hatten, aber sehr viele der Auszubildenden das Studium aufgaben und die neu Ausgebildeten gar nicht erst oder nur mit einem kleinen Pensum ins Berufsleben einstiegen oder auch nach kurzer Zeit resigniert und enttäuscht wieder aufhörten. (Welche Firma könnte sich einen solchen Flop leisten?) Die Gründe dafür sind bis heute nicht unabhängig untersucht worden. Dieser Artikel soll ein Beitrag dazu sein.

Pädagogik statt Classroom-Management

Ich finde nach wie vor, dass ich als Lehrerin den schönsten Beruf gewählt habe, den ich mir vorstellen kann. Diese Einsicht würde ich auch jungen Lehrerinnen und Lehrern oder solchen, die schon einige Zeit im Beruf stehen und manchmal daran zweifeln, gönnen. Und selbstverständlich wünsche ich allen Kindern und Jugendlichen eine Schulzeit, in der sie Freude am Lernen aufbauen und erhalten können. Sie haben diese Chance nur einmal und tragen das Erlebte das ganze Leben lang mit. Selbstverständlich spielen auch die Eltern eine wichtige Rolle, damit das gelingt, denn durch ihre Erziehung führen sie ihr Kind in die Welt ein und bereiten es darauf vor, wie es den Anforderungen in der Schule begegnen kann. Können sie dabei ein Arbeitsbündnis mit der Lehrperson schliessen, stehen die Chancen für ihr Kind am besten. Sie als Eltern müssen aber einfordern (!), dass ihr Kind eine Schule besuchen kann, die auf einem pädagogisch-psychologischen Fundament steht, wie es in der europäischen Bildungstradition entstanden ist und stetig weitergeführt wird. Heute stehen wissenschaftliche Befunde zur Verfügung, wie ein kindgerechter Unterricht gestaltet werden muss.6 Diese wurden in den letzten Jahrzehnten grösstenteils vernachlässigt, weil die Stossrichtung der Reformen nicht pädagogisch begründet war. Nun sind alle gefordert und müssen in die Hosen steigen, wenn wir das vormals gute Bildungsniveau, eine wichtige Substanz unseres Landes, zurückerobern wollen. Packen wir es an!  •



1 Ich beziehe mich im folgenden schwerpunktmässig auf die Schulen im Kanton Zürich, wobei die Entwicklung in den anderen Kantonen ähnlich verlaufen ist.
2 1984 traten die USA, Grossbritannien und Singapur aus der Unesco aus, nachdem diese eine Resolution verabschiedet hatte, mit der die Abhängigkeit von den vier grossen Nachrichtenorganisationen AP, UPI, AFP und Reuters vermindert werden sollte.
3 vgl. Langer, Roman. «Warum haben die Pisa gemacht?» In: ders. (2008). «Warum tun die das?» Governanceanalysen zum Steuerungshandeln in der Schulentwicklung. Wiesbaden: vs Verlag für Sozialwissenschaften; auch:  Martens, Kerstin/ Wolf, Klaus-Dieter. «Paradoxien der Neuen Staatsräson». In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 13. Jg. (2006) Heft 2, S. 145–176. zitiert nach: Buchser, Sandra. «Ein Kick gegen Schrott». In: Zeit-Fragen Nr. 25 vom 11.6.2012

4 Bieber, T. (2010). Sanfte Steuerungsmechanismen in der Bildungspolitik. Die PISA-Studie und der Bologna Prozess in der Schweiz. Universität Bremen: TranState Working Papers No. 117. Sfb597
5 vgl. Bonfranchi, Riccardo/Perret, Eliane. Heilpädagogik im Dialog. Praktische Erfahrungen, theoretische Grundlagen und aktuelle Diskurse. Bielefeld: Athena-Verlag, 2021, S. 141ff.
6 vgl. Kissling, Beat. Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung. Bern: Hogrefe-Verlag, 2022, S. 109ff.

«‹Markt statt Staat› lautete die Devise»

von Urs Graf

Ohne Kenntnis der geopolitischen Zusammenhänge der Schul-«Reformen» stochern wir in Details herum und finden keine Remedur, nicht in der Pädagogik, nicht in der Lehrerausbildung und auch nicht in den Verwaltungsstrukturen. Und man kann nach dem Prinzip «teile und herrsche» die halbinformierten Betroffenen sich durch gegenseitige Schuldzuweisungen ermüden lassen – und das strategische Ziel weiterverfolgen.
  Nun könnte gerade diese Feststellung als reine Verschwörungstheorie apostrophiert werden, hätten nicht viele Autoren (nicht nur in «Zeit-Fragen») seit den neunziger Jahren immer wieder diese Zusammenhänge aufgezeigt.
  Durch Einbindung in internationale Abkommen und Unterstellung unter supranationale Behörden wie OECD, WTO, WHO wollte man – ich war zugegen, als man das Mitte der neunziger Jahre im Zürcher Limmathaus unter SP-Exponenten diskutierte – die Schweiz «aus ihrem Reformstau befreien». Und während globalisierende Linke «aus dem Staat Gurkensalat» machten, favorisierten globalisierende Rechtsbürgerliche das New Public Management, die Entstaatlichung des Staates. «Markt statt Staat» lautete die Devise. Folgenschwere Veränderungen, vor allem die Grundversorgung betreffend, wurden der demokratischen Diskussion entzogen.
  Das Abschmettern der Volksinitiativen «Staatsvertragsreferendum» und «Landesrecht vor Völkerrecht» war wohl nur durch Vermeidung eines vertieften Nachdenkens über diesen Sachverhalt möglich.
  Man müsste vielleicht noch sagen, dass diese Reformschule nicht nur Versager (Loser) hervorbringt, sondern eben auch erfolgreiche (Winner), aber willfährige Handlanger dieses Systems, weil die Kinder nicht mehr in einer Klassengemeinschaft aufwachsen, die eine gefühlsmässige Verbundenheit mit allen festigt und ein soziales Gewissen fördert.

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