Kultureller Austausch – ein Mittel gegen Ausgrenzung, Hass und Krieg

Die Ideologie der «kulturellen Aneignung» – selber ein «völkisches», rassistisches Konstrukt?

von Thomas Schaffner, Historiker und Theologe

Während die Schweizerbürger mit ihren direktdemokratischen Mitteln wie Initiative und Referendum eine sich allenfalls vergaloppierende Classe politique jederzeit friedlich und zivilisiert in die Schranken weisen können, scheint das übrige Europa vor einem heissen Herbst zu stehen, voller innenpolitischer Unruhen und Demonstrationen. Zeitgleich sind die Spalten vieler Medien voll mit Themen, die nur vordergründig absurd und lachhaft erscheinen. Unter dem Vorwurf, es finde «kulturelle Aneignung» statt, man raube gewissen Menschengruppen ihre Kultur und demütige sie erneut, werden etwa Konzerte weisser Reggaemusiker mit Rastalocken abgesagt. Alles mit der Begründung, man wolle Rassismus bekämpfen. Doch immer mehr Stimmen geben zu bedenken, dass hier unter dem Deckmantel des Antirassismus ein neuer Rassismus, ja gar ein völkisches Denken, Urständ feiert. Desungeachtet muten uns einige Medien unwidersprochen Artikel zu, welche Menschen auf Grund ihrer Nationalität ausgrenzen und in Bild und Text, unter Nennung von Namen und Wohnadressen, an den Pranger stellen. Hatten wir das nicht schon mehrfach in der Geschichte? Wohin es führte, wissen wir. Zeit, sich auf ein einschlägiges Unesco-Übereinkommen zu besinnen.

Susanne Schröter, Ethnologin der Uni Frankfurt, weist in ihrem soeben erschienenen neusten Buch1 darauf hin, dass der Begriff der «kulturellen Aneignung» aus wissenschaftlicher Sicht auf etwas «höchst Triviales» verweise: «Menschen erfinden die Gegenstände und Techniken, die sie nutzen, die Sitten und Bräuche, die sie praktizieren, oder die Glaubensvorstellungen, mit denen sie sich die Welt erklären, nicht permanent neu, sondern sie greifen auf das zurück, was sie vorfinden.» (S. 119) Diese Aneignung geschehe sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Kulturelle Aneignungen ermöglichen die Entwicklung menschlicher Kultur, indem Erworbenes über die eigene Gruppe hinaus weitergegeben wird. Davon leben unter anderem die Wissenschaften der Archäologie und Ethnologie. Eines sei gewiss: «Kultur ist fluide. Sie ist immer in Bewegung und kann – über einen längeren Zeitraum betrachtet – nur in seltenen Fällen einem geografischen Raum oder einem bestimmten Kollektiv zugeordnet werden.» (S. 120) So lassen sich verfilzte Haare in vielen Teilen der Erde nachweisen. Indische Gurus etwa tragen sie, in afrikanischen Ländern hingegen sind sie nur selten anzutreffen.
  Schröter ortet in der freien kulturellen Aneignung aber auch ein Mittel gegen Ausgrenzung, Hass und letztlich Krieg: «Sie dient nämlich ganz massgeblich der friedfertigen Verständigung unterschiedlicher Gruppen bzw. ist bereits Ausdruck einer Haltung, die auf Kontakt und Akzeptanz zielt.» (S. 120) Erst so würden vorurteilsfreie Beziehungen möglich, erst so, wenn man neugierig auf einander zugehe, werde man immunisiert gegen feindselige Abgrenzungen. «Wer dagegen betont, dass jeder Hautfarbenträger oder Angehörige einer kulturellen Gruppe im alleinigen Besitz kultureller Attribute sein müsse, die mit anderen nicht geteilt werden könnten, der zementiert Differenzen und verspielt die Chance eines gemeinsamen Miteinanders.» (S. 120)

«Man nennt eine solche Haltung völkisch,
und man kennt sie aus der Geschichte»

Alfred Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel, der breiteren Öffentlichkeit durch seine herrlichen Krimis um Rabbi Klein bekannt, schrieb unlängst2, der wahre Skandal bei der Debatte um die «kulturelle Aneignung» sei das «völkische Kulturverständnis», das dahinterstecke. Die bisher vorgebrachten Argumente seien alle zu defensiv, etwa, wenn zwar richtig bemerkt worden sei, «dass die Musikkultur der Moderne ohne kulturelle Aneignung gar nicht existieren würde, dass genau das Vorstossen in andere kulturelle Welten deren Akzeptanz andernorts vermehren würde, dass auch erst so die wirklich spannenden Synthesen entstünden, die Kultur weiterbrächten und deren Spannung erzeugten.» In ihrer Defensivität enthüllten diese Argumente «ein Unverständnis für das wahre Skandalon des Vorwurfs, Angehörige bestimmter Kulturen, Hautfarben oder Ethnien hätten nicht das Recht, eine Vorliebe für bestimmte Kleider, Musikstile oder Frisuren zu pflegen, die ihnen ‹fremd› seien.» Und weiter: «Man nennt eine solche Haltung völkisch, und man kennt sie aus der Geschichte.» Ein Paukenschlag von Bodenheimer. Er erinnert daran, dass nach 1933 jüdische Künstlerinnen und Künstler «gecancelt» worden seien, man sprach ihnen die Befugnis ab, sich an die Interpretation von Werken «arischer» Komponisten oder Dichter zu wagen – wie es dann weiterging Richtung Massenmord, ist hinlänglich bekannt. Damals habe man sich noch nicht «mit begrifflichen Verrenkungen wie ‹kulturelle Aneignung›» herumgeschlagen, sondern offen rassistisch argumentiert respektive gehetzt: «Die Kriterien künstlerischer Interpretation waren von der Hingabe und Virtuosität in die Rassetabellen einer wissenschaftlich fehlgeleiteten, menschenfeindlichen Medizin verschoben worden.» Natürlich bestünden Unterschiede zwischen damals und heute: Alles nicht-arische zu verbannen hiess auch, dass deutsche Orchester und Opernhäuser nur noch Mahler oder Offenbach aufführten. Heute aber, zum Glück, «würde niemand dagegen demonstrieren, dass aus Korea oder Senegal stammende Violinisten oder Dirigentinnen Beethoven interpretieren.» Zugleich zeige das aber auf, «auf welche Abwege das Kulturverständnis geraten ist. Denn heisst das nicht, dass ‹weisse› Kultur, westliche Konzertsaalrituale und der Auftritt in rituell strikt festgelegten schwarzen Kleidern, Smokings oder Abendroben universal gültig sind, während Reggae samt den dazugehörigen Markern wie Kleidung und Haarpracht zur jamaicanischen Provinzkultur verzwergt wird?»

Biologistisch zementierte kulturelle Apartheid

Auch Harald Fischer-Tiné, Professor für Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich mit Forschungsschwerpunkt Kolonialismus und Imperialismus, sieht in der Debatte eine Annäherung an «rassistische Denkansätze»3: «Nämlich, dass es so eine Form von Authentizität oder ‹kultureller Reinheit› gebe und man zu einer Deckungsgleichheit kommen müsse zwischen einer ethnisch definierten Gruppe und einer bestimmten kulturellen Ausdrucksform.» Etwas, was in der Willensnation Schweiz mit ihren vier hauptsächlichen Sprachgruppen schon gar nicht geht. Der Ansatz der kulturellen Aneignung negiere, «dass es gegenseitige Anleihen, Befruchtungen, Bereicherungen geben kann.»
  Der NZZ-Journalist Martin Senti wiederum konstatiert ein statisches Verständnis von Kultur, das biologistisch zementiert werde und letztlich in eine Art von «kultureller Apartheid» münde.4
  Der Pariser Philosoph François Jullien warnt deswegen auch vor den Konstruktionen Samuel P. Huntingtons. In seinem Werk «Kampf der Kulturen» bediene er sämtliche tradierten Klischees einer «chinesischen», «islamischen» und «westlichen» Kultur, als gäbe es «homogene Kulturen», die unweigerlich zusammenprallen müssten.5
  Einer, dem ob der Debatte um Dreadlocks usw. angesichts der drängenden Probleme auf dieser Welt die Hutschnur platzte, ein altgedienter, der Ethik der christlichen Nächstenliebe verpflichteter Sozialdemokrat, machte kürzlich seinem Unmut in seiner Kolumne in einer Schweizer Regionalzeitung mit dem Titel «Aneignung – so ein Schmarren» wie folgt Luft: «Übrigens: Es herrscht immer noch Krieg in Europa. Vielleicht ist das ein wirkliches Problem, um das wir uns Gedanken machen müssen.» Und weiter: «Vielleicht hätte ja auch da kultureller Austausch das Schlimmste verhindern können – anstatt nationalistischer Ab- und Ausgrenzung.»6

Folgen von Kolonialismus und Imperialismus noch längst nicht aufgearbeitet

Hans Köchler, Präsident der International Progress Organization, hatte in Zeit-Fragen vom 30. November 2021 gewarnt: «Die Gefahr eines bewaffneten Konflikts, die von zunehmender Entfremdung zwischen den Kulturen ausgeht, darf nicht unterschätzt werden.» Inzwischen tobt der Krieg in der Ukraine, der nicht nur von Bundesrat Ueli Maurer als Stellvertreterkrieg zwischen den USA/Nato und Russland bezeichnet wird. Und ein möglicher Krieg des Westens gegen China wird immer wahrscheinlicher.
  Es ist schon richtig: Die Folgen von Kolonialismus und Imperialismus sind noch längst nicht aufgearbeitet – gemäss dem ehemaligen Uno-Diplomat Hans Christoph von Sponeck harren die Bewohner von 20 Territorien immer noch der Befreiung von ihren Kolonialherren – und dies heute, anno domini 2022! Und: Die Verächtlichmachung anderer Kulturen war und ist ein reales Problem. Zum Glück aber erobern sich immer mehr Historikerinnen und Historiker der ehemaligen Kolonien ihre Geschichte zurück und werden dabei assistiert von rechtschaffenen westlichen Kollegen.7
  Eines der Ziele des Unesco-Übereinkommens über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, in Kraft seit 2007, auf das Hans Köchler im selben Artikel hinwies, lautet: «Einen ausgewogenen Austausch an kulturellen Gütern und Dienstleistungen erreichen und die Mobilität von Kunst- und Kulturschaffenden steigern.» Wären wir nicht gut beraten, dem Anliegen der Unesco-Erklärung Nachachtung zu verschaffen? Wieder Brücken zu schlagen, anstatt sie abzureissen? Auch als Antidot gegen weitere kriegerische Verstrickungen.  •



1 Schröter, Susanne. Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmassung und Selbsthass. Freiburg i. Br. 2022
2 https://www.nzz.ch/meinung/lauwarm-und-die-documenta-unterwegs-zu-einem-voelkischen-kulturverstaendnis-ld.1695607
3 Quelle: Radio SRF, Echo der Zeit vom 25.8.2022
4 Senti, Martin. «Kulturelle Apartheid in Berner Szenequartier: Blonde Dreadlocks sind nicht mehr genehm». In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.7.2022
5 Jullien, François. Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin 2017
6 Walter Hugentobler in der Thurgauer Zeitung vom 29.8.2022
7 Zu erwähnen wäre da etwa die umfassende Geschichte des britischen Empires durch Caroline Elkins, Professorin für Geschichte und Afroamerikanistik an der Harvard University, mit dem Titel «Legacy of Violence: A History of the British Empire.» Siehe auch Interview mit ihr: https://www.youtube.com/watch?v=O19wvq2cXqg


Rösti bald verboten? Denn die Kartoffel stammt aus Lateinamerika!

ts. Seit es die Menschen gibt, haben sich die Kulturen andauernd gegenseitig beeinflusst. Kulturelle Aneignung wurde durchweg als Bereicherung empfunden, die aus Bewunderung und ohne böse Absicht geschieht. Man denke nur an den Kulturtransfer über die antike Seidenstrasse. Ohne kulturelle Aneignung würden Schweizer keine Rösti essen – stammt doch die Kartoffel aus Lateinamerika. Man vergesse die Engadiner Nusstorte – die Nüsse stammen nicht aus dem Bündner Hochtal. Christentum ohne Kreuz? War es doch das Hinrichtungsmittel der Römer. Mitteleuropäer ohne Sofas oder Apfelstrudel? Beides hat seinen Ursprung in asiatischen Kulturen. Wer kann heute noch nachvollziehen, woher eine bestimmte Tradition oder ein bestimmtes Objekt stammt? So wurden zum Beispiel die oft zitierten Dreadlocks schon von Persern, Azteken und Tataren getragen.
  Schauspielerei besteht bekanntlich darin, eine andere Person zu spielen. Wenn in letzter Konsequenz jeder nur noch sich selbst spielen darf, wäre das nicht mehr Film oder Theater, sondern Selbstdarstellung. Dasselbe gilt für die Literatur: Darf man nicht mehr über Menschen aus anderen Lebenswelten schreiben, bleiben nur noch Autobiografien – auch interessant, aber was für eine Verarmung, was für ein Egozentrismus, was für ein Verlust an Schulung der Empathie, des Verständnisses für den anderen und das ganz andere – auch eine Art Kriegsvorbereitung?

Vergleiche auch: Fabian Köhler: Wem gehört welche Kultur?
In: Deutschlandfunk Kultur, 16. August 2017


Syllabus errorum und Index librorum prohibitorum sind wieder da

ts. Britische Hochschulen versehen Klassiker der Literatur mit Warnhinweisen, sogenannten «trigger warnings», und «rahmen» so die Lektüre, so sie denn nicht gänzlich verboten wird, in einer Art und Weise, die man aus totalitären Staaten kennt: Was die katholische Kirche glücklich überwunden hat – den Index der verbotenen Bücher und den Syllabus errorum, eine Liste mit verbotenen Gedanken –, was Nationalsozialisten und Marxisten mit gewaltsam durchgesetztem Rassen-, respektive Klassenstandpunkt aufoktroyiert haben, feiert nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern auch in den USA und zunehmend in Kontinental-Europa Urständ. Vor der Bibel wird gewarnt wegen «schockierender sexueller Gewalt» oder vor Shakespeare wegen «Klassendenken», um nur wenige Werke zu nennen. 2021 wurden in den USA 1597 Bücher aus den Bibliotheken entfernt. Schöne neue Welt?

Etymologie des Begriffs Kultur

«Der aus lateinisch cultura ‹Pflege (des Ackers), Bearbeitung, Bestellung, Anbau, Landbau›, auch ‹geistige Pflege, Ausbildung intellektueller Fähigkeiten, (religiöse, huldigende) Verehrung› (zu lateinisch colere) entlehnte Ausdruck wird gegen Ende des 17. Jahrhunderts ins Deutsche integriert, nachdem er in lateinisch flektierter Form bereits vorher in deutschen Texten üblich war. Er gewinnt zunächst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Aufschwung der Land- und Forstwirtschaft an Verbreitung (Agrikultur), erhält sein eigentliches Gewicht jedoch in seiner (ebenfalls im Lateinischen vorgezeichneten) metaphorischen Verwendung, indem Kultur (seit etwa 1700) auch die Ausbildung und geistige Vervollkommnung des Individuums bezeichnet. Ins Gesellschaftliche ausgeweitet und zu einem Schlagwort der Epoche wird das Wort im philosophischen Denken der deutschen Aufklärung; besonderen Anteil an seiner inhaltlichen Ausformung und Präzisierung haben Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant

Quelle: https://www.dwds.de/wb/Kultur


Albert Schweitzer: Kultur nicht ohne Ethik

ts. «Kultur definiere ich ganz allgemein als geistigen und materiellen Fortschritt auf allen Gebieten, mit dem eine ethische Entwicklung der Menschen und der Menschheit einhergeht.» So definiert Albert Schweitzer den Begriff Kultur. Kultur betrifft die Menschheit insgesamt, und sie hat für Schweitzer mit Ethik zu tun. Nun gibt es auch Unkultur, und dazu muss wohl der Medien-Hype um das Thema der kulturellen Aneignung gezählt werden.

Quelle: Albert Schweitzer. Aus meinem Leben und Denken. Leipzig 1957. S. 192

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