von Hans Rudolf Fuhrer*
Die Diskussion des Konflikts in der Ukraine zeigt aktuell noch eine grosse Verwirrung. Die Propagandalügen der Ukrainer werden nicht mehr alle unbesehen geglaubt und die russischen Gegendarstellungen nicht mehr nur als verlogene Rechtfertigung eines verbrecherischen Aggressors verurteilt. Langsam beginnt sich eine objektivere Beurteilung der Ursachen und der Gründe der russischen «Spezialoperation» zu Wort zu melden. Das Grundprinzip des römischen Rechts: «Audiatur et altera pars» (man muss auch die andere Seite hören) wird zunehmend respektiert. Es ist denkbar, dass das Freund-Feind-Verhältnis als «zentrale Bestimmung allen politischen Handelns» (Carl Schmitt 1932) wieder dem «Konzept der kommunikativen Vernunft» (Jürgen Habermas 2022) Platz macht, obwohl es Konrad Paul Liessmann, «Wissen, wer Freund ist und wo der Feind steht» («Neue Zürcher Zeitung» vom 20.8.2022), bezweifelt. Seine Gedanken will ich mit eigenen Überlegungen erweitern.
Ist dereinst sogar eine Präventivkriegsthese zu diskutieren?
In der GMS-Jahresschrift 2022 «Feindbild Moskau» habe ich die Diskussion um die deutsche Präventivkriegsbegründung des Überfalls auf die Sowjetunion 1941 aus neutraler Warte analysiert. Dabei hat sich gezeigt, dass der Begriff des Präventivkriegs unscharf definiert ist. Ein Schlüsseldokument, auf Grund dessen das Problem objektiv diskutiert werden kann, hat uns die US-Regierung vor 20 Jahren geliefert. Der Terrorakt des 11. Septembers 2001 auf die Twin Towers in New York hat der Diskussion um die völkerrechtliche Rechtmässigkeit eines Präventivkriegs einen entscheidenden Schub zur Klärung verliehen, der für die Beurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine mitberücksichtigt werden muss. Am 17. September 2002 legte der US-Präsident George W. Bush dem Kongress einen neuen Begriff vor: «Präemption» (Zuvorkommen). Von einem präemptiven Angriff spricht man, wenn dieser vor einer unmittelbar zu erwartenden gegnerischen Angriffshandlung stattfindet.
Als präventiv gilt eine offensive Kriegshandlung, wenn sie lediglich auf der Annahme beruht, dass vom definierten Gegner eine potentielle Gefahr ausgeht, welche die eigenen Sicherheitsinteressen existentiell bedroht.
Wertung
Diese US-Definition muss für die Beurteilung des russischen Verhaltens wegleitend sein. Präemption kann unter dem Aspekt der Selbstverteidigung durchaus legitim sein und wird auch durch die Uno-Charta (Art. 51,7) als legal gestützt. Es müssen also unmittelbar bevorstehende oder bereits ausgelöste kriegerische Akte der Ukraine gegen Russland oder gegen einen um Hilfe rufenden Verbündeten nachweisbar sein.
Die Prävention im Bush’schen Sinne, die vorbeugend die eigenen Interessen gegen einen als potentiell feindlich beurteilten Gegner mit militärischen Mitteln durchsetzt, ist meines Erachtens rechtlich nicht zu rechtfertigen und ist brutale Machtpolitik. Die russische Begründung, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine im engeren und eine Nato-Ost-Erweiterung im weiteren Sinne gefährdeten vitale Sicherheitsinteressen Russlands, gehört zur zweiten Definition. Als vergleichbare US-Beispiele drängen sich die Kuba- und die Irak-Krise auf. Es gab für die USA ohne Zweifel sicherheitspolitische Gründe, die Stationierung von Raketen auf Kuba nicht hinnehmen zu wollen und im zweiten Fall einen Machtwechsel in Bagdad anzustreben. Den ersten Fall konnte man diplomatisch lösen, den zweiten nur mit Gewalt. Stossend ist, dass die entscheidenden Gründe zur kriegerischen Intervention schon vor der Aktion durch informierte Kreise nicht geglaubt und sich in der Rückschau als völlig haltlos erwiesen. Das Problem ist also die Richtigkeit der Informationsbasis, auf Grund derer eine Entscheidung zum Waffengang gegründet wird. Fakt ist, dass die Westeuropäer keine Wirtschaftssanktionen gegen die USA aussprachen und nur wenige an ihrer Ehrlichkeit zweifelten.
Wir müssen davon ausgehen, dass die Rechte, die eine Grossmacht wie die USA in Anspruch nimmt, grundsätzlich auch einer anderen Grossmacht zugestanden werden müssen. Diese können somit, gestützt auf ihre Sicherheitsinteressen, auch präventiv handeln. Damit stellen sich für den konkreten Fall «Ukraine» viele Fragen, die bisher in der westlichen Beurteilung weitgehend ausgeklammert wurden. Trotz der verbreiteten Meinung, diese verbrecherische Handlung Moskaus sei nicht zu diskutieren, sollen exemplarisch drei Fragen gestellt werden:
1. Bestand für die russische Führung eine «Notwendigkeit» des präemptiven Losschlagens?
Definitionsgemäss muss also objektiv eine unmittelbar bevorstehende oder bereits ausgelöste ukrainische Offensive gegen Russland vorhanden sein.
Zwei Dokumente
Am 9. März veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium erbeutete geheime Dokumente der ukrainischen Nationalgarde, die einen geplanten Angriff auf die Separatisten im Donbass für den 8. März 2022 beweisen sollten. Die GEHEIM klassifizierten Dokumente – leider sind sie als Befehlspaket unvollständig, aber dennoch aussagekräftig genug, um Schlüsse ziehen zu können – wurden durch einen ausgewiesenen Experten auf meinen Wunsch hin untersucht, übersetzt und bewertet. Sie stammen vom 1. Stellvertreter und Stabschef der ukrainischen Nationalgarde. Dieser befiehlt am 22. Januar 2022 verschiedenen Kommandostellen (u. a. 4. Brigade mit Nato-Instruktoren) in einem ersten Befehl die Aufstellung von Bataillons-Kampfgruppen zur Erfüllung «spezieller Kampfaufgaben» im Rahmen der «Operation der Vereinten Kräfte» (Bezeichnung für die Operation ukrainischer Regierungstruppen gegen die bewaffneten Formationen der beiden abtrünnigen Oblaste). Der Empfang des Befehls wurde bestätigt.
Dieses erste Dokument ist fehlerfrei in einer einfachen ukrainischen Sprache abgefasst, die angebracht ist, denn der Verfasser musste sich dessen bewusst sein, dass es von Offizieren gelesen werden kann, deren Muttersprache Russisch ist. Registriervermerke sind nach sowjetischer Tradition handschriftlich eingefügt. Erstaunlich ist, dass das Dokument mit EDV-Mitteln geschrieben wurde, was seinerzeit in der Roten Armee bzw. ab 1946 in der Sowjetarmee verboten war.
Das zweite Dokument ist ein Befehl des Kommandanten der Nationalgarde vom gleichen Tag. Es basiert auf dem Befehl des Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte vom 19. Dezember 2021. Auch dieser Befehl ist als GEHEIM klassifiziert. Es wird zur Stärkung der Kampfkraft ebenfalls die Bildung von Bataillons-Kampfgruppen befohlen. Gemäss einem Ablaufplan werden die zu treffenden Massnahmen angeordnet, zum Beispiel Verbindungsaufnahme mit dem Kommando der Luftlandetruppen zwecks Unterstellung der Bataillons-Kampfgruppen bis zum 24. Januar, Inspektion der Logistik bis zum 3. Februar, Schulung der Zusammenarbeit mit der 80. Luftlande Brigade (Lla Br) bis zum 28. Februar im Ausbildungszentrum für Friedenserhaltende Operationen und Sicherheit der Armee in Staychi bei Lwow/Lwiw.
Was mit den Bataillons-Kampfgruppen nach dem 28. Februar geschehen sollte, ist aus dem Befehl nicht ersichtlich. Fest steht, dass die 80. Lla Brigade zu dieser Zeit nicht im Donbass eingesetzt war. Die auf den Befehlen ersichtlichen zusätzlichen Verbände sind Heeresflieger mit Helikoptern und Drohnen sowie Übermittlungsformationen. Das deutet auf einen grossen operativen Einsatz hin.
Wertung
Es kann ausgeschlossen werden, dass diese befohlene Verstärkung der Kampfkraft der ukrainischen Regierungstruppen im Januar 2022 eine Folge von besonderen Aktivitäten der Aufständischen gewesen ist. Im Donbass war es seit Wochen ruhig.
Denkbar sind Massnahmen des ukrainischen Oberkommandos als Reaktion auf den russischen Truppenaufmarsch ab Ende November 2021. In diesem Sinne wären sie als Verteidigungsvorbereitungen legitimiert.
Der Plan ist jedoch offensiv und seine Authenzität seither durch weitere Puzzleteile, welche im Dorf Bugaevka in der Region Charkiw erbeutet wurden, aus russischer Sicht bestätigt. Alles deutet darauf hin, dass er kein propagandistisches Machwerk des russischen Verteidigungsministeriums ist, doch fehlen wesentliche beweiskräftige Elemente.
Da der ukrainische Angriffsplan gegen die abtrünnigen Landesteile gerichtet war und nicht gegen Russland im territorialen Sinne, stellen sich zwei Folgefragen.
2. Gibt es ein Sezessionsrecht?
Das Sezessionsrecht hängt vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ab. Es ist ein international verbrieftes positives Recht. Durch Artikel 1,1 der beiden Internationalen Menschenrechtspakte aus dem Jahr 1966 (IPWSKR) und durch die Charta der Vereinten Nationen (Artikel 1,2) ist es vertraglich unter bestimmten Voraussetzungen (u. a. eine erhebliche Mehrheit muss für die Sezession stimmen) gesichert und gilt universell. Trotzdem gibt es beispielsweise die deutsche Staatsrechtslehre, welche die Sezession eines Staatsteiles von einem Staat als illegal erklärt.
Wertung
Die verschiedenen Sezessionsstreitigkeiten (u. a. Baskenland/Katalonien, Kurdistan, Taiwan), die alle eigenständig beurteilt werden müssen, die umstrittene Definition, was ein «Volk» ist, dem das Sezessionsrecht zukommt, und das grundsätzliche Bestreiten des Sezessionsrechts durch Staatsrechtler zeigen, dass alles viel komplizierter ist und nationale Interessen die Anwendung dieses Rechts oft verhindern.
Sehr wichtig scheint mir die Tatsache zu sein, dass beispielsweise die Anerkennung des von Serbien abtrünnigen Kosovo durch keine Volksabstimmung im Kosovo (nur ein Parlamentsbeschluss) legitimiert ist. Nur ein Urteil des IGH in Den Haag hat das Sezessionsrecht der Kosovaren bestätigt. Dieses wegweisende Urteil hätte implizite auch für die Krim und in den beiden Oblasten Donezk und Lugansk angewendet werden müssen (in allen mit Volksentscheiden). Erschwerend kommt hinzu, dass die Krim nach einem Beitrittsgesuch in Russland integriert wurde und die beiden Oblaste nach einer Bitte durch einen Beschluss der Duma am 22. Februar 2022 anerkannt wurden. Präsident Putin hat sich lange geweigert, diesen Schritt zu vollziehen. Der Westen hat diese beiden Prozesse nie akzeptiert und beide als völkerrechtswidrig verurteilt. Die Rechtmässigkeit wurde also anders beurteilt als in der Kosovo-Frage. Eine neutrale Begründung dieser unterschiedlichen Haltung des Westens wurde bislang nicht erbracht.
3. Gibt es ein Recht zur Intervention in einem innerstaatlichen Konflikt?
Seit 2014/15 (Minsker Abkommen) hat die ukrainische Regierung trotz Unterschrift die geforderte umfassende Autonomie der beiden Oblaste weiterhin als Teil der Ukraine nie akzeptiert. Sie hat sich auf nationale Interessen und auf vertragliche Zusicherungen der territorialen Unantastbarkeit ihrer Nation berufen. Sie hat deshalb seit acht Jahren unablässig Krieg gegen die abtrünnigen Landesteile geführt. Russland hat in verschiedenster Weise den Kampf der Separatisten unterstützt, ohne offen zu intervenieren. Im Gegensatz zur verdeckten und offenen Unterstützung der ukrainischen Armee durch die Nato unter US-Führung ist das russische Verhalten immer scharf kritisiert worden. Am 24. März 2021 hat Präsident Selenski das schon seit dem Amtsantritt geäusserte strategische Ziel zur Zurückeroberung der abtrünnigen Provinzen und der Krim durch ein Dekret bestätigt. Daraufhin begann sich die ukrainische Armee an der Konfrontationslinie ständig zu verstärken. Die US-Satellitenbilder müssen zweifellos – sollten sie jemals freigegeben werden – neben dem russischen auch den ukrainischen Truppenaufmarsch belegen können. Seit dem 15. Februar 2022 registrierten die OSZE-Beobachter intensive Funkstörungen und gesteigertes Artilleriefeuer in den Donbass ohne Veranlassung durch den Beschuss ukrainischer Stellungen durch die Separatisten (15. Februar: 41; 16. Februar: 76; 17. Februar: 316; 18. Februar: 654; 19. Februar: 1413; 20.–21. Februar: 2026; 22. Februar: 1484). Zu den über 15 000 Opfern unter der Zivilbevölkerung und den Zerstörungen der vergangenen acht Jahre kamen viele neue dazu. Im Westen erhoben sich trotz Unterschrift unter die Minsker Verträge weiterhin keine Proteste.
Fakt ist, dass die ukrainischen Verbände am 24. Februar nicht erst aus der Tiefe des Raumes an die Ostfront herbeigeführt werden mussten. Die ukrainischen Angriffsverbände der ersten Staffel waren an der Konfrontationslinie zum Donbass bereit (14–15 mechanisierte Brigaden).
Das Dispositiv der ukrainischen Armee hat sich seit 2019 kaum verändert. Die Truppen wurden zwar teilweise ausgetauscht, so dass die Verbandsnummern für den Februar 2022 mit gewissen Vorbehalten zu betrachten sind, was der Aussagekraft des Aufmarsches jedoch keinen Abbruch tut.
Den russischen Nachrichtendiensten blieb diese Truppenkonzentration nicht verborgen, und die sich abzeichnende Gefahr wurde beispielsweise in der «Komsomolskaja Prawda» vom 9.–15. Februar in vier möglichen Szenarien der Leserschaft zur Kenntnis gebracht. Es wurden umfangreiche Evakuationen der Zivilbevölkerung vorgenommen.
Am 24. Februar 2022 kamen zwei weitere Elemente dazu: der Hilferuf der beiden von Russland anerkannten Republiken und unter diesem Gesichtspunkt die Intervention aus humanitären Gründen.
Präsident Putin hat, indem er den beiden Republiken angesichts des unmittelbar bevorstehenden militärischen Niederwerfens zu Hilfe gekommen ist, Nothilfe geleistet. Aus seiner Sicht hat die vertragsmässige Hilfe das Interventionsverbot des Völkerrechts ausser Kraft gesetzt. Vor dem Entscheid zur sogenannten «Spezialoperation» hat er mehrmals darauf hingewiesen, dass es gelte, ein «Srebrenica» im Donbass zu verhindern. Er stützte sich dabei auf die Geschehnisse der vergangenen acht Jahre (u. a. in Mariupol), auf die deklarierten ukrainischen Angriffsabsichten und die nachrichtendienstlich zweifelsfrei festgestellten Angriffsvorbereitungen und vor allem auf die dokumentierte Realisierung der mehrmals geäusserten Drohung der Vernichtung der ethnischen Russen durch den «Rechten Sektor» in den vergangenen acht Jahren (u. a. «Russen sind Tiere, sie müssen eliminiert werden.» Dmitri Janosch).
Wertung
Da die abtrünnigen Republiken Russland völkerrechtskonform in Notwehr um militärische Hilfe angerufen haben (Art. 51 Uno-Charta), stellt sich die entscheidende Frage, ob eine aussenstehende Macht auf Grund eines Hilferufs in jedem Fall berechtigt ist, in einen inneren Konflikt eines Staates einzugreifen. Das Problem ist mindestens so komplex wie die früheren Fragen. Die historische Erfahrung zeigt, dass «Hilferufe» vom Aggressor auch konstruiert werden können. Es darf durchaus wieder ein Vergleich mit dem Kosovo-Krieg gezogen werden. Es ist heute umstritten, ob die US-Rechtfertigung, man habe einen Völkermord verhindern wollen und sei von den zum Tod geweihten Kosovaren um Hilfe gerufen worden, einer objektiven Prüfung standhält (vgl. GMS Jahresschrift 2023, erscheint im September 2022). Die gleiche Sorgfalt der Wertung muss auch im Fall Donbass angewendet werden, ausser man sei der Meinung, dass, wenn zwei dasselbe tun, es nie dasselbe sei. Zu berücksichtigen wäre auch, dass die von der Nato geführten Luftschläge gegen Serbien vor allem zivile Einrichtungen zum Ziel hatten, um den Widerstandswillen der Bevölkerung zu brechen. Das führte kaum zu internationalen Protesten und nicht zu Wirtschaftssanktionen gegen die Nato-Staaten. Das 3. serbische Korps im Kosovo blieb unbehelligt. Die russische Kampfführung in der Ukraine müsste in gleicher vorbehaltloser Weise analysiert werden. Die gleiche Forderung beträfe die ukrainische Seite. Inzwischen hat Amnesty International erste Schritte in diese Richtung vollzogen und erschreckende Ergebnisse aufgedeckt.
Zwei offene Fragen
1. Ich frage mich, warum die angesprochenen Aspekte des Präventivkriegs und vergleichbare bisherige und aktuelle Aktionen der USA bisher von russischer Seite propagandistisch kaum genutzt wurden. Auch wenn die Veröffentlichungen in russischen Medien im Westen nicht zur Kenntnis genommen oder gezielt unterdrückt werden, gäbe es Möglichkeiten. Dabei müssten von der Moskauer Regierung die wahren strategischen Ziele offen deklariert werden. Es müssten die Schlagworte «Entmilitarisierung und Entnazifizierung» der Ukraine entschlüsselt werden. Insbesondere müsste sich daraus stringent ergeben, was einen integralen Angriff auf einen souveränen Staat, den Versuch, dessen Regierung zu stürzen und das Land zu filetieren, rechtfertigt, statt einer begrenzten Intervention zugunsten bedrängter Sezessionisten. Hätte sich die offene russische Intervention nach erfolgter Auslösung der ukrainischen Offensive auf die beiden Donbass-Oblaste beschränkt, so wäre die Reaktion des Westens wahrscheinlich anders ausgefallen. Dieses Delta der Verhältnismässigkeit ist in jedem Fall irritierend. So bleibt die alles vergiftende Befürchtung des Westens und insbesondere der Zwischenzone Ost, Moskau wolle alle verlorenen Gebiete der ehemaligen Sowjetunion wieder «heim ins Reich» holen. Das traditionelle «Feindbild Moskau» erhielt durch die «Spezialoperation» neue Nahrung und verhindert seither die Wiederaufnahme der in den 1990er Jahren angestossenen Diskussion einer Sicherheitszone Europa vom Atlantik bis zum Ural unter gleichberechtigten und saturierten Partnern. Im Gegenzug müsste das strategische Ziel der USA-Falken, Russland machtpolitisch zu marginalisieren, einer partnerschaftlichen Alternative weichen. Dann wäre auch die logische Folgerung, die Ukraine führe einen «Stellvertreterkrieg» für verdeckte Nato-Interessen, gegenstandslos. Die Folge wäre ein Überdenken des transatlantischen Verhältnisses und der aktuellen Vasallenschaft der EU, aber auch ein Überdenken der Politik der ukrainischen Führung im Umgang mit ihrer Bevölkerung. Nur schon dieser Problemaufriss zeigt, dass alles sehr komplex ist und das Spiel mit verdeckten Karten und der Lügen beider Seiten unmöglich zu einer nachhaltig friedlichen Verständigung, sondern im Extremfall zu einer nuklearen Selbstzerstörung führen kann.
2. Ich frage mich auch, warum der in meinem Lead erwähnte NZZ-Artikel vom 20. August 2022 von einer liberalen und sich als objektiv verstehenden Zeitung so reisserisch angekündigt wird: «Der Ukraine-Krieg hat die Europäer aus ihren Blütenträumen von einem neuen ewigen Zeitalter von Vernunft, Dialog und Ausgleich herausgerissen. Nun steht für sie eine schmerzhafte Lektion der Wiedergewinnung des Politischen an.» Der Text ist in der Folge differenzierter formuliert, räumt aber den bellizistischen Überlegungen «vieler Zeitgenossen» weitgehend ungewertet viel Platz ein. So drängen sich plakative Sätze ins Scheinwerferlicht wie: «Der Krieg hat eine ungeheure Klarheit in die Gedanken gebracht.» «Man weiss nun, wo der Feind steht.» «Mit dem Feind geht man keine innige Verbindung ein.» … Der «Kronjurist» des Dritten Reiches, Carl Schmitt, verdrängt mit seiner Behauptung, das Freund-Feind-Verhältnis sei die zentrale Bestimmung allen politischen Handelns, leider relativierende Äusserungen. Die Kritik wird sehr dezent gesetzt: «Der Kontrahent, dem man noch verhandelbare Interessen zubilligen kann, wird zum Verbrecher, zum Verworfenen, zum Barbaren, zum absoluten Feind, der nicht besiegt, sondern vernichtet, zumindest für das Unrecht, das er getan hat, bestraft werden muss. Dies setzt nicht nur einen überlegenen moralischen Standpunkt voraus, sondern vor allem die Erringung eines Macht- und Gewaltmonopols, dem nichts mehr entgegengesetzt werden kann. Ob dies überhaupt ein erstrebenswerter Zustand wäre, bleibe dahingestellt.» So bleiben faschistische Feststellungen weitgehend ungewertet: Erst die Verteufelung der Klimaleugner führe zu einer wirksamen Klimapolitik, und die gesellschaftliche Ächtung der Fremdenfeinde und Rassisten ermögliche eine verantwortungsvolle Migrationspolitik.
Konsequenterweise ist das Mundtotmachen von sogenannten «Putinverstehern» die wirkungsvolle Verteidigung der eigenen Wertegemeinschaft und die Legitimation einer richtigen Aussenpolitik. Aber das ist nationalsozialistisches Gedankengut, und wohin dieses Freund-Feind-Bild führt, zeigen Aufführverbote russischer Komponisten, Verbote russischer Bücher in der Ukraine und geplante Einreiseverbote für russische Staatsbürger in Sippenhaft. Der Schriftsteller Ilija Trojanow hat es meines Erachtens in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele richtig gesagt: «Nationalismus führt zu Krieg und verwirrt das Denken.»
Fazit
Ich habe versucht, den Weg der objektiven historischen Analyse mit dem Ansatz der Präventivkriegsthese und die sich daraus ergebenden Problemfelder aufzuzeigen. Selbstverständlich ist es zu früh, um dies umfassend vorzunehmen, da wir keinen Zugang zu den relevanten Quellen haben. Zudem sehe ich zurzeit keine Chance dazu. Zu festgefahren sind die Standpunkte beider Parteien, und viel zu viele Opfer hat dieser Konflikt bisher verursacht. Wenn man nicht will, dass sich der Krieg bis zur Niederlage einer Seite oder zur Ermattung beider Seiten fortsetzt, so müsste meines Erachtens zunächst bei beiden Kriegsparteien durch eine geeignete Persönlichkeit sondiert werden, ob politischer Spielraum für Vorverhandlungen besteht und eine Chance bestünde für spätere Verhandlungen. Hierfür braucht es aber von beiden Seiten Zeichen des guten Willens. Insbesondere scheint mir die amerikanische Politik die wichtigsten Schlüssel zur Lösung in den Händen zu haben. Auch wenn es zu früh ist, eine historische Analyse vorzunehmen, so ist es nie zu früh, vom Schema «hier die Guten – dort die Bösen» abzuweichen und einzusehen, dass auch Einäugige sehen, ihnen aber die Tiefenschärfe fehlt. •
* Privatdozent Dr. phil. Hans Rudolf Fuhrer (*1941). Lehrer auf allen Schulstufen, zuletzt Lehr- und Forschungstätigkeit an der Sekundarlehrerausbildung/Universität Zürich (SFA) bis 1990, an der Militärakademie/ETH Zürich und PD an der Universität Zürich bis 2006 und seither an den Seniorenuniversitäten/Volkshochschulen Luzern, Winterthur und Zürich. Ehrenmitglied der Gesellschaft für Militärhistorische Studienreisen (GMS). Diverse Publikationen vor allem zur schweizerischen Militärgeschichte. Oberst a D, als Milizoffizier zuletzt Kommandant eines Motorisierten Infanterieregiments. (Kontaktadresse: Juststrasse 32 CH-8706 Meilen, hansrfuhrer@bluewin.ch)
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