Vor wenigen Tagen gingen die mit Spannung erwarteten Gespräche über die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien über die Bühne. In der aufgeheizten Stimmung dämpften die Protagonisten vor den Gesprächen die Erwartungen. Für die westliche Seite war der Zeitdruck zur Durchführung umfassender Konsultationen in der Tat hoch gewesen. So schlecht, wie zuweilen dargestellt, war das Gesprächsklima offenbar doch nicht, auch wenn man über einen Austausch von Meinungen offenbar nicht hinauskam.1 Wer viel mehr erwartet hatte, war wohl nicht ganz realistisch.
Wenn Russland die angestrebten Sicherheitsgarantien nicht bekommen kann, dann wird es sich fragen, wieso es der Ukraine solche gewähren soll. Diese wiederum hatte sich jahrelang darüber beschwert, dass Russland diejenigen Garantien, die es 1994 am OSZE-Gipfel in Budapest gegeben hatte, verletzt habe.2
In den entsprechenden Vertragsentwürfen sind Kraut und Rüben durcheinandergemischt: Fast scheint es, als habe Mitte Dezember jemand im russischen Aussenministerium oder vielleicht auch in der Präsidialadministration die akuten Probleme aufgelistet und Vorschläge zu deren Lösung formuliert.3 Obwohl die beiden Vertragsentwürfe mit der Nato und mit den USA über weite Strecken dieselben Probleme ansprechen, unterscheiden sich Formulierungen und auch die Reihenfolge der Erwähnung. Das mag als Hinweis darauf gewertet werden, dass sich unterschiedliche Amtsstellen in Moskau mit der Redaktion befassten und dass die Zeit für einen inhaltlichen Abgleich fehlte. In vielen Bereichen gibt es noch erheblichen Klärungsbedarf im Hinblick auf die Umsetzung, und die angesprochenen Problembereiche sind wohl Stoff für verschiedene Gesprächsformate und Plattformen. So sind beispielsweise Bemühungen um die Vermeidung gefährlicher Zwischenfälle sowie um Transparenz bei militärischen Grossübungen ein typisches Thema für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE, die auf diesen Gebieten grosse Erfahrung hat.4 Auf der anderen Seite sind Rüstungskontrollfragen wohl eher das Thema bilateraler Gespräche, bei denen die OSZE eher organisatorisch als inhaltlich unterstützen kann.5
Gefahr in Verzug
Störend wirkt, dass Probleme nicht-dringlicher Natur mit solchen gekoppelt sind, welche rasch einer Lösung bedürfen. Gerade die Gefahr von Zwischenfällen in der Luft muss jetzt rasch gebannt werden, bevor sich erneut ein Zwischenfall wie jener vom Dezember wiederholt, bei welchem über dem Schwarzen Meer ein russisches Passagierflugzeug durch einen US-amerikanischen Aufklärer gefährdet wurde.6 Solche Zwischenfälle können sich über dem Baltikum, wo infolge der EU-Sanktionen gegen Belarus der Flugverkehr dichter geworden ist, dem Schwarzen Meer oder dem Ostmittelmeer wiederholen – mit fatalen Folgen. In diesem Licht betrachtet wäre es wünschbar, wenn hier rasch Fortschritte erzielt würden. Dafür muss dieser Punkt allenfalls von den anderen entkoppelt werden.
Enttäuschung
Vorerst zeigte sich die russische Regierung enttäuscht über die Ergebnisse der bilateralen Gespräche mit den USA in Genf, der Sitzung des Nato-Russland-Rats in Brüssel und der Sitzung des Ständigen Rats der OSZE in Wien.7 Wie weit dies Verhandlungstaktik ist, kann derzeit kaum abgeschätzt werden. Es entspricht der üblichen Praxis, dass Verhandlungsparteien zu Beginn eines Gesprächsprozesses mit markigen Worten ihre Maximalforderungen präsentieren und später in jenen Bereichen, wo ein Entgegenkommen möglich ist, Kompromisse eingehen. Klar ist aber, dass Russland eine schriftliche Antwort auf seine Initiative erwartet, die nach Lage der Dinge durchaus auch Gegenvorschläge enthalten könnte. Auch für Ergänzungen und Präzisierungen wäre durchaus Raum vorhanden.
Russland wird aber eine Paketlösung erwarten und kein «choose-and-pick» erlauben, bei welchem der Westen die ihm genehmen Punkte aufnimmt und andere ignoriert. Ein solches Paket müsste nach dem Grundsatz «do-ut-des»** geschnürt sein und gegebenenfalls Vorschläge enthalten, mit welchen der Westen Russland entgegenkommt, wenn er einzelne Punkte des russischen Vertragsentwurfs ablehnt oder abschwächen will.
Dass die Nato schon aus formellen Gründen Russland kein Mitbestimmungsrecht über Nato-Mitgliedschaften einräumen kann, wird auch dem Kreml klar sein. Hier müssten sich die Parteien auf eine Lösung einigen, welche die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigt und es der Nato erlaubt, ihr Gesicht zu wahren.8 Ein Zwischenziel hat Russland aber wohl schon jetzt erreicht: Den jungen Staaten «in between» muss mittlerweile klargeworden sein, dass ein Nato-Beitritt ihnen keinen Zuwachs an Sicherheit beschert, sondern sie im Gegenteil auf die Zielliste Russlands bringen könnte. Damit steht eine allfällige Ost-Erweiterung der Nato de facto eben doch zur Disposition. Und auch in Kiew sollte sich allmählich die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass vom Westen keine unmittelbare militärische Hilfe zur Rückeroberung der Rebellenrepubliken im Donbass und der Krim zu erwarten ist. Nachdem Kiew jahrelang die von Frankreich und Deutschland vermittelten Minsker Abkommen torpedierte, wird es jetzt und in Zukunft keine Zustimmung dieser Länder zu einem Nato-Beitritt erwarten dürfen.
Handlungsoptionen
Was bleiben für Handlungsoptionen? Die Gespräche auf Expertenebene werden bestimmt weitergehen. Die permanenten Drohungen der USA mit weiteren politischen und wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland zeigen doch nur, dass die Amerikaner kaum militärische Handlungsoptionen haben.9 Nicht einmal Waffenlieferungen an die Ukraine sind eine sinnvolle Option, denn es würde Russland leichtfallen, darauf mit gleicher Münze zu antworten.10 Ausser mehr Opfern und grösseren Schäden ist von so einem Vorgehen nicht viel zu erwarten. In Washington und Brüssel muss man sich auch darüber im klaren sein, dass Russland ebenso wenig «at gunpoint» zu verhandeln bereit ist, wie der Westen angesichts einer militärischen Drohung Russlands gegen die Ukraine. Es fällt der US-Regierung sicher um so leichter, Russland mit Wirtschaftssanktionen zu drohen, wenn es weiss, dass in erster Linie Deutschland dafür zu bezahlen hätte.
Es wäre töricht, wenn Russland direkt den militärischen Druck auf die Ukraine erhöhen würde, denn damit schüfe es nur den Vorwand für eine westliche Intervention. Nato-Truppen in der Ukraine, das ist das Szenario, das der Kreml ja gerade verhindern möchte. Mit den derzeit zwischen Smolensk und Rostow am Don stehenden russischen Truppen wird eine Invasion der Ukraine kaum möglich sein, auch wenn westliche Think tanks nicht müde werden, eben dies zu behaupten.11 Russland kann sich aber der Revision der Minsker Abkommen, welche sich die ukrainische Regierung so sehr wünscht, verweigern. Das wäre als Signal schon einmal genug. Im diplomatischen Bereich kann Russland weiter eskalieren bis hin zur diplomatischen Anerkennung der Volksrepubliken von Luhansk und Donezk. Damit würde Moskau die Tür für Gespräche mit der Ukraine für Jahrzehnte zuwerfen. Das ist wohl nur im äussersten Notfall eine Option.
Angesichts seiner wirtschaftlichen Unterlegenheit gegenüber dem Westen wäre es ungeschickt von Russland, sich in einen neuen Rüstungswettlauf hineinziehen zu lassen. Das Schema der späten achtziger Jahre wird sich wohl kaum wiederholen.
Auf militärischem Gebiet kann Moskau genau in jenen Bereichen agieren, die in den Vertragsentwürfen für Sicherheitsgarantien vorkommen, zum Beispiel mit der Stationierung von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern kurzer und mittlerer Reichweite. Andere Möglichkeiten bestehen in der Durchführung von Patrouillenfahrten bzw. -flügen von Schiffen und Langstreckenbombern mit strategischen Waffen. In diesen Bereich gehören auch Tests mit strategischen Waffen aller Art. Eine weitere Variante besteht in der Durchführung militärischer Übungen nahe an den Grenzen von Nato-Verbündeten, mit einer Anzahl Übungsteilnehmer, die knapp unterhalb der Meldeschwelle des Wiener Dokuments liegt.12 Grundsätzlich hat Russland ausserhalb Europas mehr Handlungsfreiheit, zum Beispiel in Syrien, dem Irak oder generell in Afrika und Lateinamerika. Besonders viel Freiheiten geniesst Russland gegenüber allen nichtstaatlichen Verbündeten des Westens.
Trotz markiger Worte, welche offizielle Vertreter Russlands derzeit äussern, wird Moskau seine Optionen sorgsam prüfen, sich dabei keinen unnötigen Zeitdruck auferlegen und überlegt vorgehen. Wirkten die Russen früher zuweilen etwas grobmotorisch, so zeigte spätestens das Jahr 2014, dass sie bei Bedarf auch sehr fein dosiert vorgehen können. •
1 Der ehemalige Generalsekretär der OSZE und heutige Direktor des Geneva Centre for Security Policy, Thomas Greminger, widersprach in einem Interview mit dem Schweizer Radio DRS den vorherrschenden pessimistischen Einschätzungen: https://www.srf.ch/news/international/usa-ukraine-russland-mit-der-pistole-auf-der-brust-laesst-sich-nicht-verhandeln.
2 Siehe zum Budapester Gipfel https://www.osce.org/event/summit_1994
3 Siehe die Vertragsentwürfe auf der Homepage des russischen Aussenministeriums in englischer Sprache bei https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790803/?lang=en&clear_cache=Y und unter https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790818/?lang=en
4 Das Wiener Dokument für sicherheits- und vertrauensbildende Massnahmen ist online verfügbar unter https://www.osce.org/files/f/documents/b/e/86599.pdf.
5 So war der INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen ein bilateraler Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion.
6 Zum Zwischenfall vor Sochi siehe https://twitter.com/attilaXT/status/1467150527368728580
7 Siehe Interview mit dem Ständigen Vertreter Russlands bei der OSZE; Botschafter Alexander K. Lukashevich, online unter https://ria.ru/20220113/obse-1767713301.html
8 Vgl. einen Artikel von Samuel Charap von der Rand Corporation, der eine Kompromisslösung betreffend Nato-Mitgliedschaft der Ukraine vorschlägt: https://on.ft.com/3qpc5Cp
9 Insbesondere mit der Verweigerung der Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2, siehe https://sputniknews.com/20220117/berlin-warns-of-appropriate-measures-against-nord-stream-2-in-event-of-escalation-over-ukraine-1092318122.html
10 Es sei daran erinnert, dass die Grenze zwischen Russland und den Rebellengebieten der LNR und DNR in der Ostukraine über weite Strecken nicht deutlich markiert ist und nicht unter Kontrolle der Ukraine steht. An zwei Grenzübergängen steht eine Beobachtermission der OSZE: https://www.osce.org/observer-mission-at-russian-checkpoints-gukovo-and-donetsk-discontinued.
11 Das neuste Elaborat in dieser Reihe stammt von Seth G. Jones und Philip G. Wasielewski vom Center for Strategic and International Studies, siehe https://www.csis.org/analysis/russias-possible-invasion-ukraine. Dieses soll nicht zuletzt Lobbying für die US-Rüstungsindustrie betreiben: https://www.nytimes.com/2016/08/08/us/politics/think-tanks-research-and-corporate-lobbying.html.
12 Das Wiener Dokument für vertrauens- und sicherheitsbildende Massnahmen legt Obergrenzen für Truppen und Waffensysteme fest, ab denen militärische Übungen den OSZE-Teilnehmerstaaten angekündigt werden müssen und ab denen sie inspiziert werden können.
* Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee. Im Anschluss daran folgte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er unter anderem als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz tätig war.
** «Ich gebe, damit du gibst», altrömische Rechtsformel für gegenseitige Verträge oder Austauschgeschäfte (Anm. d. Red.)
Einige persönliche Bemerkungen und Überlegungen zur aktuellen Lage
rb. US-Präsident Joe Biden verbreitet derzeit die These, Russland bereite zusammen mit Belarus lokale Einfälle («incursion») auf ukrainisches Territorium vor und stelle zu diesem Zweck Truppen bereit. Hier findet eine Vermischung mit der Verlegung von Truppen für die angekündigte Übung «Союзная решимость 2022» statt.1 Allein der Name «Soyuznaya Reshimost» (Verbündete Entschlossenheit) ist Programm.
Derzeit zeigen ukrainische Quellen folgendes:
Ausser im Fall von Yelsk (Punkt 3.) würde ich nicht von einem grenznahen Aufmarsch sprechen. Und was Yelsk betrifft: Für eine Bereitstellung zum Angriff lädt man in der Regel keine Fernseh-Journalisten ein.
Der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine, Oleksiy Danilov, sprach am 20. Januar von 127 000 russischen «service members» an der ukrainischen Grenze, davon 106 000 Heerestruppen. Das reiche nicht für eine Invasion.6
Fazit:
Biden hat offenbar gemerkt, dass er den Mund mit der russischen Invasion in der Ukraine zu voll genommen hat, denn im Januar wird eine solche wohl nicht mehr erfolgen. Jetzt verlegt er sich auf einen lokalen Einfall, der auch nicht stattfinden wird, wenn nicht jemand einen solchen noch inszeniert. Solches möchte ich nicht ausschliessen: Die belarussischen Kollegen reklamierten nämlich wegen der Präsenz von ukrainischen Freiwilligenbataillonen an der Grenze zu Belarus.
1 http://www.mil.by/ru/news/143258/
2 https://twitter.com/MotolkoHelp/status/1484193896187969537
3 https://twitter.com/TadeuszGiczan/status/1484150876390445059
4 https://twitter.com/konrad_muzyka/status/1484114916663508993
5 https://liveuamap.com/en/2022/20-january-military-equipment-at-maslovka-railway-station
6 https://www.ukrinform.net/rubric-defense/3388287-danilov-127000-russian-troops-amassed-on-ukraines-border.html
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