Das Referendum1 vom 23. bis 27. September 2022 im Donbass und in den südlichen Regionen Cherson und Saporoschje über den Beitritt zur Russischen Föderation ist auf den ersten Blick eine Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der einheimischen Bevölkerung, die den vom Westen unterstützten Regimewechsel in Kiew im Jahr 2014 und den Aufstieg extrem nationalistischer Kräfte mit neonazistischen Tendenzen in der Machtstruktur ablehnt.
Aber es hat auch noch andere Dimensionen. Aller Voraussicht nach wird sich das Referendum mit überwältigender Mehrheit für den Beitritt zur Russischen Föderation entscheiden. Im Donbass ist es eine einfache Frage: «Sind Sie für den Beitritt der DVR zur Russischen Föderation als Subjekt der Russischen Föderation?» Für Cherson und die Saporoschje-Kosaken sieht das Referendum drei aufeinander folgende Entscheidungen vor: die Sezession dieser Gebiete von der Ukraine, die Bildung eines unabhängigen Staates und die Aufnahme in die Russische Föderation.
In Russland gibt es eine breite Unterstützung für den Beitritt der vier Oblaste
Im Jahr 2014 wurden alle rechtlichen Verfahren für die Aufnahme der Krim und Sewastopols in die Russische Föderation innerhalb von vier Tagen abgeschlossen. Auch dieses Mal ist ein zügiger Prozess zu erwarten. In Russland gibt es eine breite Unterstützung für die Wiedervereinigung mit der russischstämmigen Bevölkerung in den östlichen und südlichen Regionen der Ukraine, die in den vergangenen acht Jahren unter der brutalen Gewalt extremistischer ukrainischer Nationalisten, die den Staatsapparat kontrollieren, zu leiden hatte. Dies ist ein sehr emotionales Thema für die russische Bevölkerung.
In der Zeit nach dem Kalten Krieg hat der Westen bei der Zerschlagung des ehemaligen Jugoslawien erstmals den Geist des Selbstbestimmungsrechts aus der Flasche gelassen. Obwohl die USA die Sezession des Kosovo von Serbien bereits zwischen 1999 und 2008 eingeleitet haben, muss die Entität noch von der Uno anerkannt werden. Serbien lehnt die Sezession trotz des anhaltenden westlichen Drucks ab.
Der Präzedenzfall Kosovo wird die westlichen Mächte jedoch nicht davon abhalten, den Beitritt von Regionen der Ukraine zur Russischen Föderation zu verurteilen.
Was ist das russische Kalkül?
Die entscheidende Frage ist heute die nach dem russischen Kalkül. Präsident Wladimir Putin hat sicherlich einkalkuliert, dass der Beitritt der «russischen Regionen» in der Ost- und Südukraine eine Entscheidung ist, die in der Bevölkerung auf breite Zustimmung trifft. Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er ein feines Gespür für die Hoffnungen und Bestrebungen seines Volkes hat. Die aufschlussreichsten (und aussagekräftigsten) Kommentare zu diesem Thema stammen von dem ehemaligen Präsidenten Dmitri Medwedew.
Medwedew schrieb in seinem Telegram-Kanal: «Volksabstimmungen im Donbass sind nicht nur für den systemischen Schutz der Bewohner der LNR, DNR (Donbass) und anderer befreiter Gebiete von grosser Bedeutung, sondern auch für die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit.»
Medwedew ist der Meinung, dass diese Plebiszite «den Verlauf der Entwicklung Russlands für Jahrzehnte völlig verändern». Er fügt hinzu: «Und nicht nur unser Land. Denn nachdem sie (die Volksabstimmungen) abgehalten und die neuen Gebiete in Russland aufgenommen worden sind, wird der geopolitische Wandel in der Welt unumkehrbar werden.»
Vor allem aber warnt Medwedew: «Ein Übergriff auf das Territorium Russlands ist ein Verbrechen, dessen Begehung es erlaubt, alle Kräfte der Selbstverteidigung einzusetzen.»
Darüber hinaus sagt er, dass, sobald der Prozess der Eingliederung der neuen Gebiete abgeschlossen ist, «kein einziger zukünftiger Führer Russlands, kein einziger Beamter in der Lage sein wird, diese Entscheidungen rückgängig zu machen. Deshalb sind diese Volksabstimmungen in Kiew und im Westen so gefürchtet. Deshalb müssen sie auch durchgeführt werden.»
Russland hat Hoffnung auf eine Verhandlungslösung aufgegeben
Es zeigt sich, dass Russland die Hoffnung auf eine Verhandlungslösung aufgegeben hat.2 Moskau war zunächst optimistisch, dass Kiew verhandeln würde, aber die bittere Erfahrung hat gezeigt, dass Präsident Selenski kein freier Mann ist. Das US-amerikanisch-britische Tandem hat das von russischen und ukrainischen Beamten im April in Istanbul unter türkischer Vermittlung ausgehandelte Abkommen untergraben. Die Biden-Administration hält die Stoppuhr für den Stellvertreterkrieg. Und Washingtons Zeitplan ist mit der Schwächung und Zerstörung des russischen Staates verbunden, was das ultimative Ziel der USA ist. Vergessen wir nicht, dass Joe Biden eine entscheidende Rolle bei der Einsetzung des neuen Regimes in Kiew im Jahr 2014 und bei der Formung der Ukraine als antirussischer Staat gespielt hat.
Es genügt zu sagen, dass das Referendum am Mittwoch unter den gegebenen Umständen die einzige Möglichkeit für Russland ist, während Kiew auf Anraten der USA, Grossbritanniens und Polens an einer maximalistischen Position festhält.3
Der Beitritt von Donbass, Cherson und Saporoschje schafft eine neue politische Realität, und Russlands teilweise Mobilisierung auf paralleler Schiene soll die militärische Untermauerung dafür liefern. Der Beitritt bedeutet insofern einen Paradigmenwechsel, als jeder weitere Angriff auf diese Regionen von Moskau als Angriff auf die territoriale Integrität und Souveränität Russlands gewertet werden kann.
Die mutwilligen Angriffe Kiews auf die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur im Donbass, in Cherson und Saporoschje werden mit Sicherheit eine russische Reaktion auslösen.4 Jeder Angriff wird als Aggression betrachtet werden, und Moskau behält sich das Recht vor, «angemessen» zu reagieren. Die Tatsache, dass der russische Aufmarsch in diesen Gebieten erheblich aufgestockt und aufgerüstet wird, signalisiert die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden.
Wie wird der Rest Europas reagieren?
In der Zwischenzeit wird Russland seine speziellen Militäroperationen fortsetzen, bis die gesetzten Ziele vollständig erreicht sind. Das bedeutet, dass noch mehr Gebiete unter russische Kontrolle geraten können, wodurch immer neue Fakten geschaffen werden, während die Spur des Dialogs erloschen ist.5 Und natürlich spielt sich all dies zu einem Zeitpunkt ab, an dem Europa in die Rezession abrutscht, weil die Sanktionen gegen Russland zum Bumerang werden. Es ist unwahrscheinlich, dass die europäische Öffentlichkeit ihre Regierungen dabei unterstützen wird, wegen der Ukraine in einen Krieg mit Russland einzutreten. Kiew und seine Mentoren in Washington und London müssen dies alles sehr sorgfältig bedenken.
Niemand wird das Spiel mit dem Feuer riskieren
Der Pentagon-Sprecher Patrick Ryder hat wie folgt reagiert: «Niemand wird solche gefälschten Referenden ernst nehmen, und die USA werden ihre Ergebnisse sicher nicht anerkennen. Wie wird sich das auf unsere und die internationale Unterstützung für die Ukraine auswirken? Das wird sich in keiner Weise auswirken, wir werden weiterhin mit der Ukraine und unseren internationalen Partnern zusammenarbeiten, um ihnen die notwendige Unterstützung zum Schutz ihres Territoriums zukommen zu lassen.»
Das ist eine hinreichend ausweichende Erklärung, die in mutige Worte gekleidet ist. Weder das Pentagon noch die russische Militärführung werden das Spiel mit dem Feuer riskieren. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der Beitritt der neuen Gebiete zur Russischen Föderation weder von den USA noch von der Nato militärisch in Frage gestellt wird.
Abgesehen davon befindet sich Russland ohnehin im Krieg mit der Nato, wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte, wenn auch nicht in bezug auf US-Waffenlieferungen, für die «wir Mittel und Wege finden, ihnen zu begegnen», sondern in bezug auf die bestehenden westlichen Systeme – Kommunikationssysteme, Informationsverarbeitungssysteme, Aufklärungssysteme und Satellitenaufklärungssysteme.6
Das Nato-Konzept der Stellvertreterkriege hat ausgedient
Der Beitritt der Regionen Donbass, Cherson und Saporoschje zur Russischen Föderation ist ein unwiderruflicher Schritt, der nicht rückgängig gemacht werden kann und wird, solange die Russische Föderation ein unabhängiger Staat ist, wie Medwedew betonte. Die USA – und der «kollektive Westen» und die Nato – würden das wissen. Im Klartext: Der von der Nato entwickelte Algorithmus für Stellvertreterkriege hat ausgedient und wird zu einem Museumsstück.
Die Analogie der CIA zum afghanischen Dschihad in den 1980er Jahren gilt nicht mehr – wenn sie überhaupt jemals galt. In der Tat hat Russland einen «Sumpf» in der Ukraine vermieden und ist auf dem Weg, den Spiess gegen die Nato umzudrehen.
In seiner nationalen Ansprache am Mittwoch sagte Putin: «Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen. Das ist kein Bluff.»7 Putin sagte auch, dass Russland über eine überlegene nukleare Schlagkraft verfügt.
Um doppelt sicherzugehen, dass die Botschaft angekommen ist, hat Moskau heute den Schleier über seiner neuesten Interkontinentalrakete Sarmat8 gelüftet. Die Ergebnisse des Referendums müssen spätestens fünf Tage nach dem letzten Abstimmungstag (27. September) feststehen, und die Frage des Beitritts zu Russland gilt als angenommen, wenn mehr als 50 % der Teilnehmer des Plebiszits dafür stimmen. Bezeichnenderweise wird die russische Staatsduma am 27. und 28. September in Moskau zu einer Plenarsitzung zusammentreten. •
1 https://tass.com/world/1510633
2 https://tass.com/politics/1511139
3 https://tass.com/world/1511459
4 https://www.rt.com/russia/563315-donetsk-market-shelling-referendum/
5 https://tass.com/politics/1511139
6 https://tass.com/politics/1511125
7 http://en.kremlin.ru/events/president/news/69390
8 https://tass.com/defense/1511677
Quelle: https://www.indianpunchline.com/why-ukraine-referendum-is-a-big-deal/ vom 22.9.2022
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, im Iran und in Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».
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