Europa verrät seine Werte

Friede, Demokratie, Menschenrechte, Umweltschutz: Im Kampf gegen Russland opfern wir alles, was uns heilig ist

von Guy Mettan*

Timothy Snyder, Professor für Geschichte an der Universität Yale, einer der prominentesten akademischen Vertreter des westlichen Establishments, beschreibt in der September-Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs, worum es beim Krieg in der Ukraine seiner Meinung nach geht. Die Einschätzung ist interessant, denn sie steht beispielhaft für den Diskurs, den uns die westlichen Politiker und Medien seit dem 24. Februar servieren. Es lohnt sich deshalb, einen längeren Abschnitt zu zitieren.
  Snyder schreibt: «Russland, diese alternde Tyrannei, versucht, die impertinente ukrainische Demokratie zu zerstören. Ein ukrainischer Sieg würde das Prinzip der freien Regierung, der Integration in Europa und der Fähigkeit von Menschen guten Willens, sich den globalen Herausforderungen zu stellen, bestätigen. Ein Sieg Russlands hingegen würde die völkermörderische Politik in der Ukraine verstärken, die Europäer versklaven, den Kampf gegen die Bedrohung durch das Klima unmöglich machen und Faschisten, Tyrannen und Nihilisten stärken, die Politik als Spektakel betrachten, das die Menschen von der Zerstörung der Welt ablenken soll. Dieser Krieg entscheidet darüber, welche Prinzipien im 21. Jahrhundert vorherrschen werden, eine Politik des Massenmords oder eine Politik, die die Menschenwürde verteidigt. Es steht die Zukunft der Demokratie auf dem Spiel.»

Völkerrechtswidrige Kriege

Das sind die Frontlinien, die Snyder zieht: Verteidigung europäischer Werte gegen Barbarei; Demokratie gegen Diktatur; heroische Tugenden gegen Kriegsverbrechen. Doch woher wissen wir, dass diese Sicht der Dinge der Wahrheit zumindest nahekommt? Dass es sich bei diesem Krieg um einen Kampf der Guten gegen die Bösen handelt? Dass Europas vielzitierte Werte den Test der Wirklichkeit bestehen? Eine Bestandesaufnahme ist dringend erforderlich. Ich komme dabei zu anderen Ergebnissen als Timothy Snyder. Aus meiner Sicht erleben wir einen Zusammenbruch der europäischen Werte, und ich glaube, viele Menschen ausserhalb Europas sehen es ähnlich.
  Beginnen wir mit dem «Frieden», dem eigentlichen Gründungswert der Europäischen Union. Wer dieser Tage Zeitungen liest und Politikern zuhört, wird dem vielbeschworenen Begriff kaum mehr begegnen. Die Forderungen lauten statt dessen: mehr Waffenlieferungen, mehr Sanktionen, mehr Energiesparmassnahmen, kurz, mehr Eskalation. Allen voran geht die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen («Jetzt ist es Zeit für Entschlossenheit, nicht für Beschwichtigung»). Diese klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit untergräbt den gesamten Diskurs über europäische Werte.
  Zwar hat das schöne Friedensideal schon länger an Glanz eingebüsst, vor allem durch die allmähliche Umwandlung der Nato in ein Angriffsbündnis nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ab den späten neunziger Jahren begannen europäische Staaten, auf der halben Welt militärisch einzugreifen (Serbien, Irak, Libyen, Syrien, Afghanistan), und das meist unter Verletzung des Völkerrechts. Trotzdem blieb der Friede, zumindest rhetorisch, ein Grundwert europäischer Politik.
  Noch Ende März schien eine Verständigung zwischen den Kriegsparteien im Bereich des Möglichen und seitens der europäischen Regierungen auch erwünscht. Die aufgepeitschte Berichterstattung über Butscha und der Besuch des damaligen britischen Premiers Boris Johnson in Kiew beendeten dann alle Verhandlungsbemühungen auf westlicher Seite. Seitdem ist das Wort «Friede» aus dem Vokabular europäischer Politiker und Journalisten praktisch verschwunden.
  Dafür werden die Meinungsführer nicht müde, den erstarkten Nationalismus als Gefahr für den Frieden in Europa zu bezeichnen, sei es in Deutschland, Frankreich, Österreich, Serbien oder, ganz aktuell, in Italien, wo die rechte Politikerin Giorgia Meloni neue Premierministerin werden dürfte. Diese Mahner und Warner wären allerdings glaubwürdiger, würden sie nicht die Augen vor den blutigen Taten der ukrainischen Nationalisten verschliessen. Ausserdem waren viele von ihnen 2008 sofort bereit, die Unabhängigkeit des Kosovo zu akzeptieren, während sie nun den Separatismus in der Ostukraine als Verbrechen geisseln. Wie geht das zusammen?

Politiker missachten Volkswillen

Ein anderer Wert, der in unseren Zeitungen oft bemüht wird, ist «Demokratie». Tag für Tag lesen wir, in der Ukraine würden Europas demokratische Traditionen verteidigt. Aber stimmt das wirklich? Auch in diesem Punkt sind die Widersprüche offensichtlich.
  So hat die ukrainische Regierung alle Oppositionsparteien verboten, alle nichtstaatlichen Nachrichtenkanäle geschlossen, alle Minderheitensprachen verbannt (im Osten des Landes mit dem Russischen sogar die Mehrheitssprache), Dutzende von Journalisten und Oppositionellen ermorden lassen, einer galoppierenden Korruption freien Auslauf gewährt, siebzehn Millionen Hektar gutes Agrarland trotz Widerstand in der Bevölkerung an drei amerikanische Konzerne verscherbelt, die männliche Bevölkerung zwangsrekrutiert, Kriegsgefangene hingerichtet, die eigene Zivilbevölkerung als Schutzschild missbraucht, Armee und Verwaltung mit notorischen Neonazis gespickt, um hier nur ein paar Beispiele zu nennen. Ist das wirklich die Demokratie, die wir verteidigen wollen?
  Und wenn wir schon bei doppelten Standards sind: Wortreich verdammen westliche Journalisten angebliche Einmischungen Russlands in die Angelegenheiten demokratischer Länder. Aber was berichten sie, wenn zwei amerikanische Sonderstaatsanwälte (Robert Mueller und John Durham) im Fall der USA keine solche Beeinflussung feststellen? Wenig bis nichts. Gleichzeitig billigen die meisten von ihnen die Einmischungen des Westens in die Politik anderer Länder. Wenn zum Beispiel in der Ukraine eine demokratisch legitimierte prorussische Regierung gestürzt wird wie 2014, und das unter tatkräftiger Mithilfe der Amerikaner, dann sehen darin die wenigsten ein Problem.
  Und was ist schliesslich von unserer eigenen Demokratie zu halten, wenn europäische Regierungen einen Krieg unterstützen, ohne ihre Bürger zu befragen? Erinnert sei an die in Deutschland durchgeführte Umfrage, die am 30. August vom Magazin Stern veröffentlicht worden ist. Die Zahlen sprechen für sich: 87 Prozent der befragten Deutschen finden, man solle mit Putin reden; 77 Prozent von ihnen sind für Friedensverhandlungen; 62 Prozent lehnen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ab. Eine Umfrage in Österreich kam zu ähnlichen Ergebnissen. Sollte uns das nicht zu denken geben?

Unterdrückung der Meinungsfreiheit

Die dritte Kategorie von Werten, die wir in der Ukraine angeblich verteidigen, sind die Grundrechte. Dazu gehört die Meinungsfreiheit. Europa stellt sich in diesem Punkt gerne als Vorbild dar, verglichen mit einem Russland, das die Meinungsfreiheit schamlos missachtet. Wie ist es dann aber zu erklären, dass unsere Medien alle Kriterien für eine objektive Berichterstattung mit Füssen treten, indem sie einstimmig Partei für die Ukraine ergreifen, ohne die Argumente der anderen Seite auch nur zur Kenntnis zu nehmen? Audiatur et altera pars – man höre auch die andere Seite –, heisst es in den Journalismus-Lehrbüchern. Dieser wichtige Merksatz scheint nicht mehr zu gelten. 
  Die Politik steht den Medien in nichts nach. Was wir sonst nur aus Diktaturen kennen – die Schliessung missliebiger Redaktionen –, ist nun auch das politische Mittel der Wahl in der angeblich werteorientierten EU. Die Europäische Kommission verbot im Frühling kurzerhand die russischen Medien RT und Sputnik. Ist das nicht ein krasser Angriff auf die Meinungsfreiheit, selbst wenn man ihn mit dem Vorwand zu rechtfertigen versucht, der «russischen Propaganda» entgegenzuwirken? Seit wann ist Zensur demokratisch und repräsentativ für die Meinungsfreiheit?
  Man könnte diese Liste der Grundrechtsverletzungen durch die EU und westliche Staaten um viele Punkte ergänzen. Es sei hier nur auf ein weiteres, besonders beunruhigendes Beispiel hingewiesen: die eklatante Verletzung des Rechts auf Privateigentum. So haben westliche Staaten die Guthaben der russischen Zentralbank und den Privatbesitz von Oligarchen beschlagnahmt. Rechtliches Gehör wurde den Betroffenen verweigert. Was hat das mit der Verteidigung von Menschenrechten zu tun? Europa verspielt gerade, was es über Jahrhunderte stark gemacht hat: die Glaubwürdigkeit seines Rechtsstaats.

Kohlekraftwerke gegen Putin

Die vierte und letzte Kategorie von Werten, die im Ukraine-Krieg verraten wird, sind die Ökologie und der Kampf gegen den Klimawandel. Seit dem Gipfel von Rio 1992 hat sich der Westen – nicht ohne Schwierigkeiten und mit heftigen internen Debatten – als Champion im Kampf für die «Erhaltung des Planeten» und die Entwicklung grüner Technologien aufgespielt. Vor allem den CO2-Emissionen hat man den Krieg erklärt.
  Und heute? Kohlekraftwerke, die noch vor zwölf Monaten als «Skandal» galten, werden in Europa mit dem Segen von Umweltministern wiedereröffnet. Europäische Politiker hofieren Autokraten und Diktatoren auf der ganzen Welt, in der Hoffnung, ein bisschen Gas oder Öl kaufen zu dürfen, das dann unter Einsatz umweltschädlicher Öltanker und Massengutfrachter nach Europa transportiert wird. Schiefergas und Schieferöl, eben noch des Teufels, sind gross in Mode. Und all das, um Wladimir Putin zu boykottieren, der als Präsident Russlands immer bereit war, uns für wenig Geld umweltfreundlicheres Gas und Öl zu liefern?
  Ich begann diesen Artikel mit einem Zitat von Timothy Snyder, dem Stichwortgeber dieser falschen Politik. Das Schlusswort gebührt George F. Kennan, dem grossen Diplomaten und Theoretiker des Kalten Krieges. Er schrieb 1951: «Die Botschaft, die wir anderen zu vermitteln versuchen, wie auch immer sie aussehen mag, wird nur dann wirksam sein, wenn sie mit unserem eigenen Verhalten übereinstimmt.»  •

Erstveröffentlichung in der Weltwoche vom 1.10.2022;
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag



* Guy Mettan ist Journalist und Abgeordneter im Grossen Rat des Kantons Genf, den er 2010 präsidierte. Er begann seine journalistische Laufbahn während seines Studiums der -Politikwissenschaften; danach arbeitete er für das «Journal de Genève», Le Temps stratégique, Bilan, «Le Nouveau Quotidien» und später als Direktor und Chefredaktor der «Tribune de Genève».
  Seit 2005 ist er Präsident der Union der Handelskammern Schweiz-Russland & GUS. Von 2006 bis 2014 war er Präsident des Genfer Roten Kreuzes und bis 2019 Mitglied des Rates des Schweizerischen Roten Kreuzes. 1996 gründete er den Schweizer Presseclub, dessen Präsident und späterer Direktor er von 1998 bis 2019 war.
  Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter «Russie-Occident, une guerre de mille ans», das in sieben Ländern, darunter China und den USA, veröffentlicht wurde. Der englische Titel lautet «Creating Russophobia: From the Great Religious Schism to Anti-Putin Hysteria».

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