Warum führen die westlichen Machteliten ihren Krieg gegen Russland so unerbittlich?

von Karl-Jürgen Müller

Der ehemalige Chefredakteur der «Tribune de Genève» und Grossrat des Kantons Genf Guy Mettan hat in der Weltwoche vom 1. Oktober 2022 einen sehr lesenswerten Artikel mit der Überschrift «Europa verrät seine Werte» veröffentlicht. Der Untertitel konkretisiert: «Friede, Demokratie, Menschenrechte, Umweltschutz: Im Kampf gegen Russland opfern wir alles, was uns heilig ist».
  Die Missachtung europäischer und universeller Werte durch die westlichen Machteliten ist, so muss hinzugefügt werden, schon lange ein Problem. Immer wieder haben sich aber auch Menschen gefunden, die dem entgegengetreten sind. Die vor fast 30 Jahren gegründete internationale Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik»1, in der ich mitwirke, ist eines von vielen Beispielen. Schaut man genauer hin, so währt die Missachtung europäischer und universeller Werte eigentlich, seit es so etwas wie den «Westen» gibt. Nur zwischendurch, zum Beispiel nach verheerenden Katastrophen wie dem Zweiten Weltkrieg, haben sich auch grössere Teile der westlichen Machteliten eine Zeit lang besonnen und versucht, der Politik ein neues Gesicht zu geben, eines, das sich an Grundsätzen politischer Ethik2 orientiert.
  Aber spätestens mit dem vermeintlichen «Sieg» im ersten Kalten Krieg nach 1990/91 haben die westlichen Machteliten zwar sehr laut von ihrer Werte-Mission gesprochen, realiter aber genau das Gegenteil praktiziert.

Keine ethischen Grundlagen

Der Krieg, den die westlichen Machteliten gegen Russland führen, hat also – obwohl genau dies die Kernbehauptung der westlichen Propaganda ist – keine ethischen Grundlagen, sondern andere Ursachen und Ziele. Man musss sich dies immer wieder bewusst machen: Die westlichen Machteliten führen den Krieg gegen Russland nicht so unerbittlich, weil es um die Verteidigung europäischer Werte, um Demokratie oder um heroische Tugenden3 geht. Es geht um etwas anderes.
  Dass die westlichen Machteliten Krieg gegen Russland führen, ist offensichtlich:

  • Der Informationskrieg gegen Russland arbeitet seit langer Zeit mit Vorurteilen. Schon vor mehr als 20 Jahren hiess es zum Beispiel in einer Forschungsarbeit einer Berliner Universität: «Die Analyse der Russlandberichterstattung in der ‹FAZ› und im Spiegel hat ergeben, dass aus Russland in erster Linie schlechte Nachrichten beziehungsweise ‹schlechte Ereignisse› übermittelt werden. […] Es wird mit Stereotypisierungen gearbeitet, um russische Ereignisse zu vermitteln. Der Nachrichtenfaktor ‹Negativismus› hat also im Falle der Russlandberichterstattung ein sehr grosses Gewicht.»4 Forschungen in anderen westlichen Ländern würden zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Seit dem 24. Februar 2022 werden die Vorurteile gegenüber Russland und der russischen Politik jeden Tag gleichgeschaltet in allen westlichen Mainstream-Medien äusserst aggressiv transportiert – mit einer nie dagewesenen Propagandawalze. Dabei sticht die Angst und Hass schürende Dämonisierung des Präsidenten des Landes hervor. Dieser Informationskrieg richtet sich aber nicht nur gegen den «Feind» Russland und Putin, sondern zersetzt mit seiner Verlogenheit und seinen an aggressive Affekte appellierenden Botschaften auch das Zusammenleben in unseren westlichen Gesellschaften.
  • Die westlichen Machteliten versuchen mit einem Wirtschaftskrieg ungeheuren Ausmasses (Sanktionen), Russland in die Knie zu zwingen.
  • Die westlichen Machteliten beliefern das ukrainische Militär mit riesigen Mengen an Waffen und Munition. Für diese Macht-eliten sollen vor allem Ukrainer «bis zum letzten Mann» kämpfen. Zugespitzt könnte man auch sagen: Fanatisierte ukrainische Kämpfer sind die «nützlichen Idioten» der westlichen Machteliten. Das war auch schon im Zweiten Weltkrieg so, als die deutsche Wehrmacht die extrem nationalistischen Kräfte um Stepan Bandera für ihre Ziele einsetzte. Fanatisch machende Ideologien eignen sich immer wieder besonders gut für solche «Aufgaben».
  • Die westlichen Machteliten führen ihren Krieg gegen Russland auch mit direkter Kriegsbeteiligung: bei der Ausbildung ukrainischer Kämpfer, mit Logistikleistungen, militärischer «Aufklärung», militärischer «Beratung», direkten militärischen Befehlen und militärischen Sabotageakten.
     

Es geht um mehr als um die Zukunft der Ukraine

Die Frage, warum und wozu die westlichen Machteliten all dies tun, kann meiner Meinung nach nicht an den Grenzen der Ukraine haltmachen. So verständlich der Ruf nach einem Waffenstillstand in der Ukraine ist – dieser Ruf darf nicht vernachlässigen, dass es um viel mehr geht und dass dieser Krieg der westlichen Machteliten nicht beendet sein wird, selbst wenn die Waffen in der Ukraine ruhen.
  Ich schlage vor, noch einmal die Reden des russischen Präsidenten der vergangenen 22 Jahre bis hin zu seiner letzten ausführlichen Rede am 1. Oktober 2022 zu lesen und unvoreingenommen auf ihren Realitätsgehalt hin zu überprüfen. Möglicherweise findet man auf diesem Weg Antworten auf die Frage nach dem Warum und dem Wozu des unerbittlichen Krieges der westlichen Macht-eliten gegen Russland. In diesen Reden erfährt man, dass Russland den bisherigen Machtanspruch der westlichen Machteliten radikal in Frage stellt: mit seiner Forderung nach gleichberechtigter Sicherheit für Russland (wie auch für alle anderen Staaten der Welt), mit seiner Forderung nach Beachtung der Grundlagen der Charta der Vereinten Nationen, mit seiner Forderung nach einem eigenständigen russischen Weg in Fragen von Familie, Religion und Nation, mit seiner Forderung nach einer anderen Weltwirtschaft, mit seiner Forderung nach einem anderen Weltfinanzsystem, mit seiner Kritik am westlichen Imperialismus und Neokolonialismus.

Wie der Krieg enden kann

Der Krieg der westlichen Machteliten kann auf verschiedene Art und Weise beendet werden:

  • Die schlimmste Variante ist der totale Krieg, der in einem nuklearen Inferno endet. Einige westliche Medien, auch in der Schweiz, schreien geradezu – Goebbels gleich – nach einem solchen totalen Krieg – und nennen es perverserweise auch noch «Solidarität». Gott bewahre uns davor!
  • Eine militärische und politische Niederlage Russlands würde die westlichen Machteliten triumphieren lassen. Für die Welt insgesamt wäre dies kein gutes Ende.
  • Die westlichen Machteliten besinnen sich nach gewichtigen militärischen und/oder politischen Erfolgen Russlands und/oder auf Grund der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit bzw. der zu hohen Kosten einer Fortsetzung des Krieges und suchen «realpolitisch» nach einem neuen modus vivendi. Das gäbe Luft zum Atmen. Aber man täusche sich nicht: Auch die Zeit der Entspannungspolitik im ersten Kalten Krieg war ein modus vivendi auf dünnem Eis. Das hat die erste Hälfte der achtziger Jahre gezeigt.
  • Die Völker der westlichen Welt finden den Mut, um einen mitmenschlich gangbaren Weg zu beschreiten, der ihre Machteliten in Pension schickt und gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Verhältnisse aufbaut, die sich an den Grundsätzen politischer Ethik orientieren. Das ist weiterhin ein Ideal, an dem sich zu arbeiten lohnt.  •


1 vgl. Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (Hrsg.). Mut zur Ethik. Eine Besinnung auf gesellschaftliche Grundnormen und moralische Grundhaltungen im Individuum, Band zum Kongress vom 24. bis 26. September 1993 in Bregenz, ISBN 3-906989-35-6 und insbesondere die dort verabschiedeten Thesen auf den Seiten 543ff.
2 vgl. zur Grundlegung: Sutor, Bernhard. Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, 1992 (2. Auflage), ISBN 3-506-79090-0
3 Die Begriffe beziehen sich auf den Artikel von Guy Mettan in der Weltwoche vom 1.10.2022 und in dieser Zeitung.
4 Crudopf, Wenke. Russland-Stereotypen in der deutschen Medienberichterstattung. (Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, Arbeitsschwerpunkt Politik, 29). Berlin: Freie Universität Berlin, Osteuropa-Institut, 2000, S. 42 
https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/44025/ssoar-2000-crudopf-Russland-Stereotypen_in_der_deutschen_Medienberichterstattung.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-2000-crudopf-Russland-Stereotypen_in_der_deutschen_Medienberichterstattung.pdf

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