ts. Von den Zeitschriften Foreign Policy und Prospect wird er als einer der 100 grössten Intellektuellen der Welt aufgeführt, von der «Financial Times» in die Liste der 50 wichtigsten Persönlichkeiten aufgenommen, die die Debatte über die Zukunft des Kapitalismus prägen werden. Auch wurde er als «die Muse des asiatischen Jahrhunderts» bezeichnet. Kishore Mahbubani, Politologe und hoch dekorierter Diplomat aus Singapur, gab unlängst in einem Interview Einblick, wie eine asiatische Perspektive auf die aktuelle Krise zwischen den USA und China und USA und Russland aussieht. Die Menschen im Westen sind gut beraten, so Mahbubani, einzusehen, dass die westliche Dominanz vorüber ist, das asiatische Jahrhundert längst begonnen hat und Konflikte durch Verhandeln und vertiefte Handelsbeziehungen zu lösen sind – Pragmatismus statt ideologisch verblendetem Vorherrschaftsstreben sind angesagt. Ein Weg, Kriege künftig zu vermeiden.
Wenn es einen neuen Kalten Krieg gibt, dann gehen die USA fälschlicherweise davon aus, dass er dasselbe Ergebnis haben wird wie der erste Kalte Krieg, meint Kishore Mahbubani: «Aber der Unterschied zwischen dem Kalten Krieg 1.0 und dem Kalten Krieg 2.0, und das ist ein wenig provokant, besteht darin, dass es heute die Vereinigten Staaten sind, die sich wie damals die Sowjetunion verhalten, während sich China heutzutage wie die USA von damals verhält.» Die Amerikaner von heute würden in Selbstgefälligkeit abgleiten nach dem Motto: «Hey, wir hatten einen Kalten Krieg und haben ihn natürlich gewonnen, wir werden auch einen neuen Kalten Krieg gewinnen.» Das sei aber eine krasse Fehleinschätzung. Denn China sei heute bestens in die Welt eingebunden, China unterzeichne Freihandelsabkommen mit der Welt, so wie die USA im ersten Kalten Krieg, aber ganz im Gegensatz zu den USA heute. China tätige Investitionen mit der Road-and-Belt-Initiative, während die USA sich aus der Welt zurückzögen. Mahbubani empfiehlt den USA, ihre falsche Einschätzung zu überdenken und China nicht weiterhin zu unterschätzen. Die westliche Vorherrschaft habe lediglich die letzten zweihundert Jahre bestanden und sei nichts anderes als eine Anomalie der Weltgeschichte. Die 1800 Jahre zuvor seien immer China und Indien die beiden grössten Volkswirtschaften der Welt gewesen. China existiere seit viertausend Jahren und habe schon vieles durchgemacht: «Es wird auch diesen Wettbewerb überstehen.»
Ein grosser geopolitischer Wettstreit ist ausgebrochen
Mahbubani war im Juli als Vorsteher einer asiatischen Handelsdelegation in Washington D. C. und konstatiert, dass die Beziehungen zwischen den USA und China auf dem niedrigsten Stand seien seit mindestens 1989. Die Situation sei vergleichbar mit jener von zwei Zügen, die den Bahnhof verlassen haben und mit voller Geschwindigkeit aufeinander zu rasen. «Ein grosser geopolitischer Wettstreit ist ausgebrochen. Und das Traurige daran ist, dass er sowohl unvermeidlich und vermeidbar zugleich ist.»
Der Handel innerhalb Chinas, von China mit Südostasien und mit dem Rest der Welt sei in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. «Lassen Sie mich nur ein paar Daten nennen: Im Jahr 2000 betrug der Handel der USA mit Südostasien 135 Milliarden Dollar, mehr als das Dreifache des Handels Chinas mit Südostasien. 2021 ist der US-Handel mit Südostasien auf über 300 Milliarden gestiegen – ein Anstieg um das Zweieinhalbfache. Chinas Handel mit Südostasien ist hingegen von 40 Milliarden auf 800 Milliarden gestiegen, ein Anstieg um das Zwanzigfache! Und das ist erst der Anfang!»
Was wir im 21. Jahrhundert, dem asiatischen Jahrhundert, sehen werden, sei eine massive Explosion der wirtschaftlichen Produktivität und Gewinne in Asien. Und China werde ein Teil davon sein, die USA hingegen werden aussen vor bleiben: «Es sei denn, sie planten wirklich ernsthaft ein langfristiges, umfassendes wirtschaftliches Engagement in der Region; was wir übrigens wollen: Wir wollen, dass die USA sich in der Region engagieren; aber sie haben keine Strategie, dies zu tun.»
Mahbubani warnt auch vor einer westlich verengten Wahrnehmung der Welt und insbesondere Ostasiens: «Wenn man diese Region durch die Brille der angelsächsischen Medien verstehen will, wird man völlig missverstehen, was in Ostasien passiert, denn diese Medien haben eine stark voreingenommene Schwarz-Weiss-Sicht auf das, was hier passiert.»
Mahbubani verdeutlicht das am Beispiel Hongkongs. Entgegen den Darstellungen in den westlichen Medien müsse klar festgehalten werden: «Hongkong war eine britische Kolonie, die von den Briten illegal beschlagnahmt wurde im demütigenden Opiumkrieg von 1842.» China korrigiere durch die Rückeroberung Hongkongs gerade eine grosse historische Demütigung. Hongkong sei Teil von China. «Das ist die Realität, genauso wie Goa [lange von den Portugiesen okkupiert, ts.] ein Teil Indiens ist. Wenn man die angelsächsischen Medien liest, bekommt man ein völlig verzerrtes Bild.»
Asien betreibt völkerverbindenden Handel – der Westen führt Krieg
Man könne nicht genug betonen, dass von den 7,8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten 1,4 Milliarden Menschen in China und 1,3 Milliarden Menschen in Indien leben. Zusammen mit den 700 Millionen Menschen in der ASEAN (siehe Kästchen) sei das, so Mahbubani mit einem ironischen Augenzwinkern, «die neue CIA»: China, Indien, ASEAN. Das seien die drei wichtigsten Wachstumsmotoren der Welt. «Und stellen Sie sich vor, wenn Sie die angelsächsischen Medien lesen, werden Sie die ‹CIA› nie verstehen und was in dieser Region passiert.» Die Frage, wer in den zehn Jahren zwischen 2010 und 2020 mehr zum globalen Wirtschaftswachstum beigetragen habe, die Europäische Union oder die ASEAN, beantwortet Mahbubani wie folgt: «Die Antwort lautet: die ASEAN; und niemand weiss etwas über die ASEAN. Was wir hier in dieser Region haben, ist eine Kultur des Pragmatismus, die Kriege wie in der Ukraine verhindert, die die Vereinigten Staaten und die EU in den Ruin treiben werden.» Während die EU weiter Kriege führe, betreibe Asien Handel.
Natürlich gebe es auch Probleme zwischen den asiatischen Staaten. So sei die chinesisch-indische Beziehung sehr kompliziert. Sie würden nicht so bald zu Freunden werden. «Aber gleichzeitig denke ich, dass die Inder sehr kluge langfristige strategische Denker sind. Und das Schlimmste für Indien wäre, wenn es sich komplett von China entfremdet und nur noch von den Vereinigten Staaten abhängig ist.» Trotz der politischen Unstimmigkeiten zwischen Indien und China sei der Handel zwischen den beiden Ländern aber weiter gewachsen. «In gewisser Weise könnte der Krieg in der Ukraine dazu beigetragen haben, die chinesisch-indische Beziehung zu stabilisieren, denn als der Westen Indien stark kritisierte, weil es die russische Invasion in der Ukraine nicht verurteilt hatte, weiterhin russisches Öl und russische Produkte kaufte, da haben die Inder gesagt: Okay, euch gefällt nicht, was wir tun, gut, dann machen wir uns eben unabhängig. Was wollt ihr dagegen tun?» China und Indien hätten beide die russische Invasion in der Ukraine weder verurteilt noch unterstützt, und die westliche Kritik habe die beiden Länder näher zusammengeführt.
Klare Worte findet Mahbubani für die Rolle der Europäer im Ukraine-Konflikt: «Dies ist ein Konflikt, der leicht hätte vermieden werden können, wenn die Europäer etwas strategischen gesunden Menschenverstand bewiesen hätten. Sie haben keine strategische Vernunft bewiesen, als sie versuchten, die Ukraine in die Nato zu holen.» Europa zahle nun den Preis dafür: «Es ist eure Dummheit, die diesen Konflikt verursacht hat, ihr kämpft, wir aber mischen uns nicht ein.»
Es wäre im Interesse der USA, mit der Welt zu kooperieren
Was die USA betreffe, so stünden sie vor einer Richtungswahl: entweder wollten sie weiterhin Nummer eins sein, oder sie stellten das Wohl ihrer Bürger in den Vordergrund. Vorherrschaft gehe nicht ohne grosse wirtschaftliche Opfer. Wenn man das Wohl der Bürger verbessern wolle – und das wäre dringend nötig, denn die Vereinigten Staaten seien das einzige moderne entwickelte Land in dem das durchschnittliche Einkommen der unteren 50 Prozent in den letzten 30 Jahren nicht mehr gestiegen sei –, dann könne man nicht gegen China arbeiten, sondern müsse die Kooperation suchen. Die Wirtschaftskapitäne in den USA müssten sagen: «Kümmern wir uns um unsere Leute, kümmern wir uns um unsere eigenen Geschäftsinteressen, lasst uns mit China zusammenarbeiten, und versuchen wir nicht, China davon abzuhalten, die Nummer eins zu werden, denn das ist eine unmögliche Aufgabe.»
Wären Europa und die USA nicht gut beraten, ihre imperiale Sicht auf die Welt zu justieren und die ausgestreckte Hand aus Asien zu ergreifen? Pragmatismus oder ideologische Verblendung: Was sichert uns den Frieden, was führt in immer weitere Kriege? «Can Asians think?», hatte Mahbubani ein früheres Buch betitelt. Die Frage stellt sich heute wohl eher: Können wir Westler denken? Mahbubani zuzuhören, wäre das nicht ein erster Schritt auf diesem Weg? •
Quelle: Kishore Mahbubani and Steven Okun. «USA = USSR, China = USA if Cold War 2.0?» vom 1.8.2022; https://www.youtube.com/watch?v=5klNOA8WRyg
Die ASEAN, die Association of Southeast Asian Nations, der Verband Südostasiatischer Nationen, wurde 1967 gegründet und gilt als die bedeutendste zwischenstaatliche Organisation Südostasiens. Sie hat zehn Mitgliedsstaaten: Brunei Darussalam, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam. Sie fördert die regionale Integration und Zusammenarbeit und setzt sich für Frieden und Sicherheit sowie für Wohlstand und menschliche Entwicklung ein. Die ASEAN-Staaten bilden den fünftgrössten Wirtschaftsraum der Welt mit einem Markt von über 655 Millionen Menschen.
Das ASEAN-Sekretariat befindet sich in Jakarta (Indonesien) und verfügt über zahlreiche Büros und Verwaltungszentren in der ganzen Region. Der Vorsitz der ASEAN wechselt jährlich unter den Mitgliedsstaaten, und die wichtigsten Sitzungen finden im jeweiligen Land statt, welches den Vorsitz innehat. Die ASEAN steht im Zentrum weiterer regionaler Foren wie ASEAN+3 (China, Japan, Republik Korea), East Asia Summit und ASEAN-Regionalforum. Es gibt elf Dialogpartner (Australien, China, EU, Indien, Japan, Kanada, Neuseeland, Republik Korea, Russische Föderation, USA, Vereinigtes Königreich), vier sektorielle Dialogpartner (Norwegen, Pakistan, Schweiz, Türkei) und vier Entwicklungspartner (Deutschland, Chile, Frankreich und Italien).
Die Schweiz erhielt 2016 den Status einer sektoriellen Dialogpartnerin. Diese Partnerschaft stärkt die bilateralen Beziehungen der Schweiz zu den ASEAN-Mitgliedsstaaten und ihre Vernetzung im asiatisch-pazifischen Raum. In einem Aktionsplan wurden Kooperationsbereiche zwischen der Schweiz und der ASEAN gemeinsam identifiziert («ASEAN-Switzerland Practical Cooperation Areas 2017–2021»). Das EDA listet vier Schwerpunktbereiche auf: Menschliche Sicherheit, Berufsbildung, Klimawandel und soziale Forstwirtschaft sowie Katastrophenmanagement und -vorsorge.
Die Zusammenarbeit wird einmal pro Jahr an einem Treffen des Joint Sectoral Cooperation Committee evaluiert. Hochrangige politische Dialoge finden während des jährlichen Aussenministertreffens der ASEAN statt, wenn der Vorsteher oder die Staatssekretärin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) die jeweiligen Amtskolleginnen und -kollegen der ASEAN trifft.
Schweizer Unternehmen investierten gemäss EDA Ende 2019 rund 40 Milliarden Franken in die ASEAN-Länder; 1995 waren es 2,3 Milliarden Franken. Die Schweiz zählt zu den zehn grössten ausländischen Direkt-investoren in der ASEAN. Im Tourismussektor verzeichnete die Schweiz 2019 über eine Million Übernachtungen von Gästen aus Südostasien. Dies entspricht einer Zunahme um 50 % gegenüber 2013. Etwa 20 000 Schweizer Staatsangehörige leben im ASEAN-Raum und 25 000 Personen aus dieser Region in der Schweiz.
Quelle: https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/aussenpolitik/internationale-organisationen/asean.html
Ich denke, es war einer der grössten Fehler, den Europa gemacht hat, besonders nach 2014, Russland aus den G8 auszuschliessen. Denn man löst ein Problem nicht, indem man jemanden ausschliesst, der geographisch dein Nachbar ist. Es löst nichts und schafft ein zusätzliches Problem.»
Kishore Mahbubani in seinem Referat zum Buch The Asian 21st Century vom 24.6.2022; https://www.youtube.com/watch?v=Y3RYeyKIVHg
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