Denk ich an Europa in der Nacht …

von Karin Leukefeld, Damaskus/Bonn*

Danke für die Einladung, hier zu sprechen.

Ich melde mich aus Syrien, aus einer anderen Welt. Vor wenigen Stunden bin ich von einer mehrtägigen Fahrt durch die Provinzen Hama, Idlib und Aleppo zurückgekommen und möchte darüber kurz berichten.

Morek

In Morek, einem kleinen Ort in der Provinz Idlib, wurde ich über den Stand der diesjährigen Pistazienernte informiert. Morek ist das Zentrum des Anbaus von «Fistiq Halabi», den Aleppo-Pistazien.
  Es fehlt an Regen, die Kosten des Anbaus sind wegen der Sanktionen massiv gestiegen. Dünger kann nicht importiert werden, weil man daraus auch Sprengstoff machen könnte und weil Syrien keine Devisen hat, die es braucht, um auf dem Weltmarkt einzukaufen. Der Transport ist teuer, weil es kaum Diesel gibt. Die nationalen Ölressourcen Syriens im Nordosten sind von US-Truppen besetzt, die inzwischen fast täglich in Konvois das Öl aus dem Land in den Irak bringen. Sie stehlen das Öl, das Syrien gehört, sie plündern die syrischen Ressourcen. Der Verlust wurde kürzlich vom syrischen Aussenministerium mit 107,1 Milliarden US-Dollar angegeben.
  Sanktionen, Besatzung, das US-Caesar-Gesetz haben einen Ring von Verboten um Syrien gelegt, der dem Land die Luft abschnürt. Ergebnis ist der Mangel wichtiger Ressourcen. Mangel treibt die Preise in die Höhe und fördert Korruption. Die Menschen zahlen den Preis. Sie arbeiten an zwei oder mehr Arbeitsstellen, und es gelingt ihnen dennoch kaum, sich und ihre Familie zu ernähren.
  Inflation und Preisanstieg machen das Leben so teuer, dass die Menschen es sich nicht mehr leisten können.
  Vielleicht erinnern Sie sich, bei einem meiner Vorträge zeigte ich Bilder von den Pistazienbauern, die ich erstmals vor zwei Jahren, im September 2020 traf. Sie haben geweint, als sie mir ihre erste Ernte nach acht Jahren Krieg präsentierten.
  Zwei Brüder, Jasser Kazem und sein jüngerer Brüder Mohammad, gaben mir einen Appell mit auf den Weg. Sie wollten den Leuten in Europa und insbesondere in Deutschland etwas sagen: «Bitte tun Sie etwas, damit die europäischen Sanktionen gegen Syrien aufgehoben werden. Diese Bestrafung schadet den Leuten, nicht der Regierung. Alle Syrer müssen darunter leiden. Wir wollen leben und arbeiten, unsere Häuser wiederaufbauen. Helfen Sie, damit die Sanktionen aufgehoben werden.»
  Während Mohammad Kazem sprach, wurde sein Bruder Jasser still und stützte seinen Kopf in die Hände. Als er wieder aufblickte, standen ihm Tränen in den Augen.
  In ihrer Not wandten diese Menschen sich – wie so viele meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in den letzten 11 Jahren in Syrien – an «die Leute in Europa und insbesondere an Deutschland».
  Nichts ist geschehen. Deutschland und Europa sind nicht bereit, die einseitigen wirtschaftlichen Zwangsmassnahmen, wie die Sanktionen offiziell genannt werden, gegen Syrien aufzuheben.
  Im Gegenteil. Bei der sogenannten «Geberkonferenz der EU Mitte Mai 2022» unter dem Titel «Die Zukunft von Syrien und der Region unterstützen», sagte der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell zwar, man dürfe «Syrien nicht vergessen». Doch bereits zuvor hatte Borrell wiederholt klargemacht, dass die EU an ihren «drei Neins» gegenüber Syrien festhalten werde, bis eine «politische Lösung entsprechend der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 fest im Gange» sei. Die «drei Neins» bedeuten: keine Wiederaufnahme von Beziehungen mit Syrien, keine Hilfe für den Wiederaufbau und keine Aufhebung der Sanktionen.
  Das ist ein Schlag ins Gesicht der Pistazienbauern und aller Syrer, die ihr Land wieder aufbauen wollen und es nicht können, weil die EU und die USA das mit ihren «einseitigen wirtschaftlichen Strafmassnahmen» verhindern.

Aleppo

Östlich von Aleppo besuchte ich gestern das grösste Elektrizitätswerk Syriens, das – von Oktober 2015 bis Februar 2016 – von Kämpfern des Islamischen Staates besetzt war. Tanklager wurden abgebrannt, Turbinen und Schaltzentralen zerstört.
  Die Anlage war 1994 gebaut worden und 1997 in Betrieb gegangen. Der Manager der Anlage bezifferte im Gespräch die Kosten der Zerstörungen auf 123 450 000 Euro. Sechs Jahre lang konnte das Elektrizitätswerk nicht repariert und wieder in Betrieb genommen werden, weil fast alles, was an Ersatzteilen gebraucht wurde, aus dem Ausland gebracht werden musste. Das wurde und wird weiterhin von Sanktionen der EU und den USA verhindert.
  «Niemand hat uns geholfen», sagte der Manager.  Kein Staat, keine Regierung, keine internationale Hilfsorganisation.
  Dennoch gelang es jetzt, eine der fünf Turbinen wieder in Betrieb zu nehmen. Der Manager der Anlage zeigte mir die Zerstörungen und wie die Reparaturen vorgenommen werden. «Freunde» würden bei den Reparaturen helfen, die Ersatzteile seien durch viele Länder gereist, bis sie die Sanktionen irgendwie umschifft hätten und in Syrien angekommen seien.
  Ich konnte mit einigen der Techniker sprechen, die für die Kontrolle und Steuerung der wiederhergestellten fünften Turbine zuständig sind. «Wir hier gehören alle zur Generation der ersten Stunde dieser Anlage», sagte der Manager. Das Elektrizitätswerk war 1994 gebaut worden und 1997 in Betrieb gegangen. Einige hätten in den fast 30 Jahren graue Haare bekommen, einige hätten gar keine Haare mehr, meinte er, und alle lachten.
  «Wir sind so stolz, hier wieder arbeiten zu können und dabei zu helfen, Strom zu den Menschen zu bringen», sagte einer der Techniker. Alle strahlten, auf einem der Arbeitsplätze lagen Jasminblüten.
  «Wir haben nichts gegen die Deutschen oder die Menschen in Europa», sagte der Manager zum Abschied. «Aber wir sehen, dass die Regierungen dort alles tun, um uns zu schaden.»

Der Abend

Als Korrespondentin bin ich in dieser Region seit mehr als 20 Jahren unterwegs.
  Oft wird es spät. Besonders in der heissen Jahreszeit mit bis zu 45 Grad trifft man Leute erst am Abend oder auch nachts. Am Mittwochabend war ich in Aleppo im Gespräch mit einem unabhängigen Politiker, Mitglied des Stadtrates von Aleppo, als es plötzlich zwei Mal hintereinander laut krachte und das Haus leicht wackelte.
  Automatisch schaute ich auf die Uhr und dachte, ein Angriff? Es war 20 Uhr, das Gespräch ging weiter. Wenig später erfuhren wir, dass die israelische Luftwaffe den Flughafen von Aleppo angegriffen hatte. Kurz darauf schlugen auch Raketen am Flughafen von Damaskus ein, wie den syrischen Nachrichten zu entnehmen war. In den europäischen Medien ist es eine Randnotiz. Im UN-Sicherheitsrat sind die anhaltenden, nicht provozierten Angriffe Israels auf Syrien keine Diskussion wert.
  Syrien wirkt in den offiziellen Medien und in der Politik vergessen. Das wird mir besonders abends und nachts deutlich, wenn ich meine tägliche Arbeit reflektiere. Meine Notizen lese, meine Aufnahmen anhöre, wenn ich mir die Fotos ansehe, die ich bei Gesprächen tagsüber gemacht habe.
  Ich sortiere. Dazu gehört auch, Presseerklärungen westlicher und anderer Politiker zu prüfen – insbesondere mit Blick auf den Nahen und Mittleren Osten. Erklärungen der Aussenministerien zumindest zu überfliegen, prüfen, was im UN-Sicherheitsrat geplant ist, was diskutiert wurde. Stellungnahmen von UN-Botschaftern müssen zumindest überflogen werden.
  Sortiert werden müssen auch deutsche und englischsprachige Medien im Internet.
  Womit beschäftigen sich die Medien? Was ist Thema? Thema ist der Krieg in der Ukraine. Genauer gesagt, «Russlands Angriffskrieg». Die Nachrichten sind sichtlich bemüht, diesen Begriff, dieses «Framing», so oft wie möglich in den Meldungen zu plazieren.
  Der Ukraine-Krieg hat auch in den Äusserungen von Politikern und Politikerinnen Vorrang: Analena Baerbock bezeichnete «russische Pipelines als Waffen in einem hybriden Krieg». Bei einer anderen Gelegenheit sagte sie, Russland müsse strategisch scheitern, egal, was ihre Wähler denken würden.
  Die Redenschreiber von Olaf Scholz benutzten für dessen Rede an der Karls-Universität in Prag kürzlich ein geflügeltes Wort vieler Protestbewegungen: Wann, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht wir – sang Rio Reiser 1987. Es wurde Slogan der Friedensbewegung in Deutschland, und zuletzt haben auch Klima-Aktivisten der «Fridays for Future» diesen Slogan auf ihre Transparente geschrieben.
  Olaf Scholz benutzte diesen Aufruf vieler Protestbewegungen, um eine militaristische Perspektive zu verkünden. Er sagt: «Wann, wenn nicht jetzt, schaffen wir ein souveränes Europa, das sich in einer multipolaren Welt behaupten kann? Und wer, wenn nicht wir, könnte Europas Werte schützen und verteidigen, im Innern wie nach aussen? Europa ist unsere Zukunft, und diese Zukunft liegt in unseren Händen.»
  Josep Borrell, EU-Aussenbeauftragter, berichtete vor wenigen Tagen vor Journalisten von einer Sitzung der EU-Aussenminister. Auch da ging es um die Ukraine, Waffenlieferungen, Unterstützung und Ausbildung ukrainischer Soldaten waren das Thema. Natürlich sei «die Nato Teil der Diskussion», so Borrell. «Unsere politische Einigkeit ist felsenfest.» EU und Nato hätten «vom ersten Tag der russischen Invasion an zusammengestanden». Die «transatlantische Einigkeit» sei das «wichtigste Kapital». Zusammen mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstütze er, Borrell, eine Erhöhung von Verteidigungsausgaben. Die «Verteidigungsindustrie» werde ihre Kapazitäten steigern müssen, um die europäischen Armeen zu versorgen.
  Im Englischen gibt es den Begriff «Beleidigung für den Verstand». Wenn Nachrichten und Politiker die Zuhörer oder Zuschauer für dumm verkaufen, bezeichnet man das als «insult for intelligence», eine Beleidigung für den Verstand.
  Wenn es nur das wäre.
  Diesen Politikern und Politikerinnen der EU, im transatlantischen Bündnis mit der Nato, geht es in Wort und in Tat um Krieg. Konzernmedien applaudieren.
  Sie haben Europa, einen ganzen Kontinent zur Geisel genommen, für eine Politik der Dominanz, die in und mit Washington entworfen wurde.
  In Ländern wie Syrien oder Libanon versteht man das besser als in den europäischen Staaten. «Wir haben nichts gegen die Deutschen oder die Menschen in Europa», sagte der Manager des Elektrizitätswerks von Aleppo. «Aber wir sehen, dass die Regierungen dort alles tun, um uns zu schaden.»
  Dieser Unterschied ist wichtig.
  Die Europäische Kommission und die Institutionen der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Machtzentren, die transatlantische Dominanz erzwingen wollen, bedeuten Krieg.

Das Europa der Nationen und seiner Menschen hat eine Chance auf gute Entwicklung.  •



* Vortrag bei der Jahreskonferenz der Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik» («Europa – welche Zukunft wollen wir?») vom 2.–4. September 2022

 

 

ef. Die freie Journalistin Karin Leukefeld pendelt seit Beginn des Krieges 2011 zwischen Damaskus, Beirut und anderen Orten in der arabischen Welt und ihrem Wohnort Bonn. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u. a.: «Syrien zwischen Schatten und Licht – Geschichte und Geschichten von 1916–2016. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land» (2016, Rotpunkt Verlag Zürich); «Flächenbrand Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat» (2015, 3. überarbeitete Auflage 2017, PapyRossa Verlag Köln). In Kürze erscheint von ihr im selben Verlag «Im Auge des Orkans: Syrien, der Nahe Osten und die Entstehung einer neuen Weltordnung».

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