von Eva-Maria Föllmer-Müller, Schweiz
Vom 2.–4. September 2022 trafen sich rund 150 Teilnehmer und mehr als 20 Referenten aus Europa, Afrika, Asien und den USA zum diesjährigen Kongress «Mut zur Ethik» im schweizerischen Thurgau. Eingeladen hatte die Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik». Seit 1993 kommen einmal im Jahr Gäste aus verschiedenen europäischen Ländern und zahlreiche Referenten zusammen, um während dreier Tage im gleichwertigen Dialog brennende Fragen der Zeit miteinander zu diskutieren. Wie schon im vergangenen Jahr wurden die Gespräche wieder im Hybrid-Format geführt, so dass neben den Anwesenden auch Referenten und Teilnehmer aus verschiedenen Ländern zugeschaltet werden konnten.
Am Beginn des Kongresses stand das Gedenken an Bischof Dr. Elmar Fischer aus Feldkirch im österreichischen Vorarlberg, der im Januar des Jahres im Alter von 85 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit verstorben war. Elmar Fischer war Ehrenmitglied der Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik» und hatte keinen Kongress ausgelassen. Sie waren ihm ein Herzensanliegen. Er hat es verstanden, seine Kernthemen Ehe und Familie, Jugend, Liebe, menschliche Bildung, Menschsein mit Blick auf das Weltgeschehen und christliche Glaubensinhalte fruchtbar zu verbinden.
Auf die eigene Substanz besinnen
Das Thema des diesjährigen Kongresses war: «Europa – welche Zukunft wollen wir?»
Mit Europa war dabei nicht die EU gemeint und mit der Frage nicht etwa die nach einer Wunschliste. Der Themenwahl lag die Überlegung zu Grunde, dass die Völker und Staaten Europas einen eigenen Weg in der Weltpolitik finden müssen, nicht zuletzt, weil die jahrzehntelange, zu enge Bindung an die Politik der USA mittlerweile die Existenz Europas gefährdet. Die Staaten und Völker Europas müssen sich auf ihre eigene Substanz besinnen.
Im Juni dieses Jahres war in «Zeit-Fragen» zu lesen: «Der Weg hin zu einem eigenständigen Europa, einem Europa, das sich auf seine geschichtlichen Wurzeln, auf seine mitmenschlich orientierte kulturelle und staatspolitische Substanz besinnt und so zum Frieden in Europa beiträgt, wird nicht einfach sein. Zu dieser Substanz gehören sicherlich Christentum, Humanismus und Aufklärung. Kultur heisst aber immer auch Kulturentwicklung. Europa hat immer dann Fortschritte gemacht, wenn es seine Türen für andere Kulturkreise und deren Errungenschaften zum Wohl der Menschen geöffnet hat, also weltoffen war. Der Austausch, der Dialog der Kulturen ist unverzichtbar.» Dementsprechend waren auch dieses Jahr wieder Referenten aus aussereuropäischen Kulturkreisen eingeladen worden.
Menschenverachtende Hasstiraden gegen Russland
Seit dem 24. Februar 2022, so die den Kongress einführenden Worte, tobt ein Informations- und Propagandakrieg, der in seiner Heftigkeit bislang einzigartig ist – ein Umstand, der auch von altgedienten, renommierten Investigativjournalisten wie dem Australier John Pilger konsterniert angemerkt wird. Die Medienwalze, die jeden Tag, auch schon vor dem 24. Februar, über uns im Westen hinwegfegt, erinnert an totalitäre Systeme und ist völlig menschenverachtend. Dieser radikale Ausbruch von Hasstiraden gegen Russland, seinen Präsidenten, die Verfolgung russischer Staatsbürger im europäischen Ausland – einschliesslich russischer Kulturschaffender –wurde über Jahre hinweg vorbereitet. Nachdem die USA und ihre Verbündeten das Völkerrecht, so wie es in der Charta der Vereinten Nationen grundgelegt ist, durch zahlreiche Völkerrechtsbrüche und ihr Verhalten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen praktisch ausgehöhlt haben, versuchen sie, der Welt ihre Regeln aufzuzwingen. Sie nennen es «rules based order» oder «rules based international order» und wollen damit verschleiern, dass die Regeln von der Macht festgelegt werden, die noch immer an ihr «Manifest Destiny» glaubt. Was für eine Hybris! Und wir gehorchen einfach so?
Blick über den europäischen Tellerrand hinaus
Blickt man über den europäischen Tellerrand hinaus, zeigt sich folgendes Bild: Viele Länder haben Kriegs- und Krisensituationen durch den kolonialen und neoimperialen Zangengriff am eigenen Leib erfahren und erfahren ihn auch heute noch. Sie lassen sich nicht so leicht beeindrucken von dem «westlichen Getue», sind sogar angewidert davon. Den westlichen «Charme-Offensiven», die alleine dazu dienen, auch diese Länder zur Kriegspartei zu machen, begegnen sie mit selbstbewussten, höflichen Absagen. Sie haben aus der Vergangenheit gelernt und Konsequenzen gezogen: Sie gehen ihren eigenen Weg und leisten Enormes beim Aufbau ihrer Länder und eines neuen, gleichberechtigten Weges in der internationalen Zusammenarbeit. Wir könnten von ihnen einiges lernen.
Was ist los mit der westlichen Welt?
Die Frage ist, was mit uns in Europa, man könnte auch sagen mit der westlichen Welt, eigentlich los ist. Wissen wir, in welcher Lage wir sind? Aus Deutschland ist bekannt, dass mehr und mehr Menschen das Land verlassen, weil sie es nicht mehr ertragen. Viele mittelständische Unternehmen wandern ab, weil sie im Land keine Zukunft mehr sehen. Wie kommen unsere Regierungseliten dazu, einen solch selbstmörderischen Weg einzuschlagen? Unser reichhaltiges Erbe von 2500Jahren so in den Wind zu schlagen?
Die Schweiz ist dem Druck gewichen und hat mit ihrer immerwährenden bewaffneten Neutralität gebrochen, und das sehr schnell. Es sind nur wenige Intellektuelle, die mit ihren erworbenen geistigen Gaben kritisch und logisch denkend in der öffentlichen Auseinandersetzung Position beziehen.
«Die Ära der unipolaren Welt gehört der Vergangenheit an», sagte Wladimir Putin in seiner Rede anlässlich der «10. Internationalen Moskauer Sicherheitskonferenz» vom 15.–17. August 2022, an der 700 Delegierte aus 70 Ländern teilgenommen haben. Dabei versuchten, so Putin, die «westlichen globalistischen Eliten […] mit allen Mitteln, die Hegemonie, die Macht, die ihnen aus den Händen gleitet, zu bewahren, indem sie versuchen, Länder und Völker in der de facto neokolonialen Ordnung zu halten. Ihre Hegemonie bedeutet den neoliberalen Totalitarismus, Stagnation für die ganze Welt und für alle Zivilisation, Obskurantismus und Abschaffung der Kultur.»
Derzeit wird in unseren westlichen Ländern in rasendem Tempo mit zahlreichen, Jahrzehnte und teilweise Jahrhunderte bewährten Institutionen (Neutralität), bewährten Traditionen gebrochen. Über viele Jahre entwickelte Beziehungen (Völkerverständigung) wurden und werden einfach abgebrochen. Dialog, Vernunft und gesunder Menschenverstand bleiben auf der Strecke. In den internationalen Beziehungen hat der Westen den letzten Rest Anstand verloren. Der geopolitische Machtkampf im Übergang von der unipolaren zur multipolaren Welt ist heftig und betrifft alle Lebensbereiche. Wir leben im Krieg – nicht erst seit dem 24. Februar.
Auch eine Geschichte der Überwindung von Unrecht und Gewalt
Die Einführung erinnerte abschliessend daran, was der Kongress «Mut zur Ethik» im Jahr 2015, also vor sieben Jahren, in Sorge um ein Leben in politischer Freiheit, kultureller Vielfalt und rechtsstaatlicher Demokratie in unserem Manifest «Wir wollen ein Europa des Friedens und des Rechts» festgehalten hatte:
«Die Geschichte Europas ist eine Geschichte des Unrechts und der Gewalt, aber auch eine Geschichte ihrer Überwindung aus eigener moralischer Einsicht und politischer Kraft. Die christlich-humanistische abendländische Tradition hat tragfähige Grundlagen für Rechtsgleichheit, Humanität und Anerkennung der Menschenwürde entwickelt. Immer wenn diese Grundlagen geschichtsmächtig geworden sind, wurde das Zusammenleben der Menschen und Völker friedlicher, gerechter und sicherer.»
Rechtsentwicklung
Und weiter:
«Europa ist geprägt durch eine reiche Vielfalt von Kulturen und Nationen auf kleinem Raum, von Kreta bis zum Nordkap, von Lissabon bis Jekaterinburg. Menschen in ganz Europa haben in mehr als 2500 Jahren in allen Bereichen vieles hierzu beigetragen. Für das Zusammenleben in Frieden und Freiheit war die Rechtsentwicklung hin zu immer mehr Gerechtigkeit von grundlegender Bedeutung für Europa und die Welt.»
Treu und Glauben
Die Kongressteilnehmer stellten auch fest:
«Treu und Glauben müssen wieder Grundlage allen menschlichen Zusammenlebens und politischen Handelns sein. Ohne dieses Prinzip gibt es kein Vertrauen in Verträge innerhalb der Staaten und zwischen den Staaten, und der Willkür ist Tür und Tor geöffnet. Steuerungsmechanismen (‹Governance›) und Manipulationstechniken aller Art, die durch den Missbrauch psychologischer Methoden Menschen ohne vollständige und offene Information beeinflussen wollen, rauben dem Bürger die Möglichkeit der unabhängigen Meinungsbildung. Sie verletzen dadurch die Würde der Person und zerstören die Grundlage des politischen Dialogs und der Rechtsordnung.»
Vernunft und menschliches Mitgefühl
Demgegenüber gelte:
«Menschen sind fähig, mit ihrer Vernunft und ihrem Mitgefühl die notwendigen Grundorientierungen eines sittlichen und politischen Handelns zu erkennen und mitmenschlich zu denken, zu fühlen und zu handeln. Dies ist dem Menschen als Disposition gleichsam ins Herz geschrieben. Von Vernunft und Gewissen geleitet, sind diese Orientierungen dazu bestimmt, die Gesamtheit der sittlichen, rechtlichen und politischen Festlegungen, die das Leben des Menschen und der Gesellschaft leiten, grundzulegen. Sie garantieren die Würde der menschlichen Person angesichts vorübergehender Ideologien.»
In dieser Ausgabe veröffentlichen wir eine erste Auswahl von Kongressbeiträgen. Weitere Beiträge werden in folgenden Ausgaben von Zeit-Fragen publiziert. •
ef. Seit 1993 veranstaltet die Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik» jedes Jahr einen Kongress mit Wissenschaftlern und Experten aus verschiedenen Disziplinen und Ländern. Mit den Kongressen und durch den kontinuierlichen Austausch während des Jahres wurde inzwischen ein Verbund geschaffen, der Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt miteinander in einem fruchtbaren, konstruktiven Dialog verbindet und aus dem immer wieder auch konkrete Projekte und Aktivitäten hervorgehen.
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