Friede im Südkaukasus: Nächstes Opfer westlicher Geopolitik?

von Ralph Bosshard

In den letzten Tagen wurden Nachrichten verbreitet, wonach im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ein Friedensabkommen in Sicht sein könnte, das nicht nur dem jahrzehntealten Konflikt um Berg-Karabach, sondern dem alten Konflikt zwischen den beiden Staaten im Südkaukasus ein Ende setzen soll.1 Allerdings ist dieses Abkommen noch nicht in trockenen Tüchern: Noch könnten der Krieg in der Ukraine und geopolitische Konzepte das Vorhaben zum Scheitern bringen.

Am 9. November 2020 war auf Vermittlung Russlands ein Waffenstillstandsabkommen in Kraft getreten, das dem sechswöchigen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan ein vorläufiges Ende setzte. Stein des Anstosses in den Friedensverhandlungen war danach der sogenannte Zangezur-Korridor, der das aserbaidschanische Mutterland mit der Exklave Nakhichevan verbinden soll, die westlich Armeniens liegt. Die aserbaidschanische Führung verstand sich schon immer auf die Ausübung politischen Drucks mit militärischen Mitteln. Zu diesem Zweck scheute sich Baku in den letzten Monaten nicht, armenisches Territorium zu beschiessen und Geländeteile zu besetzen, über deren Zugehörigkeit zu Armenien kein Zweifel bestehen kann. Ausser Worten hatte der Westen den Armeniern bislang aber wenig zu bieten.2

Wechselvolle Geschichte

Die historische Region Zangezur war in der wechselvollen Geschichte Armeniens Teil der Region Syunik, die erheblich grösser war als die gleichnamige heutige Provinz im Süden Armeniens. Nach der Oktoberrevolution von 1917 kam es zwischen den unabhängig gewordenen Republiken Armenien und Aserbaidschan zu Streitigkeiten über den Besitz einiger Gebiete mit gemischter Bevölkerung, darunter auch Zangezur. Nach heftigen armenisch-aserbaidschanischen Auseinandersetzungen wurde der Grossteil der Region 1924 der Armenischen SSR zugeschlagen, die inzwischen Teil der Sowjetunion geworden war. In der Folge wanderten die ethnischen Aserbaidschaner aus diesem Gebiet ab.3 Die Diskussionen um Zangezur wecken nun Ängste, Aserbaidschan könnte auch auf diese Gebiete Anspruch erheben.
  Das Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 beinhaltet neben militärisch geprägten Bestimmungen der Feuereinstellung auch solche, die auf die Beilegung politischer Streitigkeiten abzielen. Insbesondere die Aufhebung sämtlicher Verkehrsblockaden in der Region gehört dazu.4 Das käme einem grossen Schritt vorwärts gleich, denn die Grenzen zwischen Armenien auf der einen und der Türkei und Aserbaidschan auf der anderen Seite waren seit dem Ende des Kriegs 1994 hermetisch geschlossen und nicht einmal für Diplomaten und Waffenstillstandsbeobachter der OSZE durchlässig gewesen. Ein Abkommen über das Ende der Blockade zwischen der Türkei und Armenien war am 10. Oktober 2009 in Zürich ausgehandelt, aber nie umgesetzt worden.5
  Was die Bestimmung der Aufhebung aller Blockaden im Waffenstillstandsabkommen aber genau bedeutet, darüber scheiden sich die Geister: Armenien hat die Neueröffnung von Grenzübergängen zum aserbaidschanischen Mutterland in Karahunj und Sotk vorgeschlagen sowie einen zur aserbaidschanischen Provinz Nakhichevan in Yeraskh. Besonders jener in Karahunj wäre in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung, denn er würde nicht nur die Strasse aus Goris in Armenien nach Qubadli in Aserbaidschan öffnen, sondern auch die Reise auf der Strasse ins armenische Syunik erleichtern, die über weite Strecken entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze verläuft. Über die Benutzung dieser Strasse hatte es im vergangenen Jahr schon Streitigkeiten gegeben, als die aserbaidschanischen Behörden von iranischen Transportunternehmen plötzlich Zölle verlangten.
  Aserbaidschan hingegen besteht auf der Eröffnung der Strassen- und Eisenbahnverbindung entlang des Arax-Flusses, der die Grenze zwischen dem Iran und Armenien bildet. Aber Baku möchte mehr als das: Es möchte auf dieser Strecke Transporte ohne armenische Kontrolle durchführen.6 Im Waffenstillstandsabkommen vom November 2020 war vereinbart worden, dass die Verkehrswege zwischen Aserbaidschan und Nakhichevan unter Kontrolle der russischen Grenztruppen stehen sollen.7
  Schon rein die Bezeichnung «Zangezur-Korridor» weckt in Armenien Misstrauen, denn der Vergleich zum Laçin-Korridor (armenisch Berdzor) ist nicht weit. Dieser verbindet Berg-Karabach mit Armenien und stellt ein Stück ursprünglich aserbaidschanischen Territoriums dar, das mit dem Waffenstillstand vom November 2020 unter Kontrolle der Republik Artsakh verblieb.8 Eriwan befürchtet, dass der aserbaidschanischen Seite eine ähnliche Lösung für die Region am Arax-Fluss vorschwebt und dass es dadurch die Kontrolle über die Grenzregion verliert. Damit wäre dann aber der wichtigste Grenzübergang zwischen dem armenischen Agarak und Nurduz im Iran unter aserbaidschanischer Kontrolle. Und das wiederum weckt das alte Misstrauen wieder, dass es Aserbaidschan und der Türkei letzten Endes nicht um die Öffnung von Verkehrswegen in der Region geht, sondern um die totale Isolation Armeniens.9 Von einer Abtretung von armenischem Territorium an Aserbaidschan war im Waffenstillstandsabkommen nie die Rede gewesen, und eine solche an der armenisch-iranischen Grenze wäre genau das Gegenteil dessen, was eigentlich beabsichtigt war.
  Aus armenischer Sicht geht es um Sein oder Nichtsein des armenischen Staats und seiner Bevölkerung, inklusive jener von Berg-Karabach. Kürzliche Meldungen über Kurse der Nato in Aserbaidschan und gemeinsame Übungen der aserbaidschanischen, türkischen und georgischen Armee verstärken die Ängste der Armenier, eingekeilt zu sein zwischen dem Erzfeind und Nato-Staat Türkei, einem sich zunehmend feindlich gebärdenden Georgien und Aserbaidschan, das sich dank seiner Bedeutung als Erdgaslieferant für Europa alles erlauben kann.10 Gleichzeitig droht Armenien die Isolation vom Iran, mit dem es bisher gute Beziehungen unterhalten hatte, und seinem Verbündeten Russland.

Rolle des Panturkismus

Aber es geht in diesem Ringen um weit mehr als die Region Südkaukasus. In den letzten Jahren forcierte insbesondere der türkische Präsident Recep Erdoğan seine Vision von der turksprachigen Welt, die in der Organisation der Turkstaaten ihren politisch-diplomatischen Ausdruck findet. In dieser bislang eher lockeren Staatengruppe, der neben Aserbaidschan auch die zentralasiatischen Länder Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan angehören, erhebt die Türkei als bevölkerungsreichstes Land einen Führungsanspruch.11 Nur allzu gerne greifen die Anhänger des Panturkismus solche Bestrebungen auf und erinnern daran, dass auch in Griechenland, Bulgarien, auf der Krim, im Irak, in Syrien, Afghanistan, China, Moldawien und Russland turksprachige Minderheiten leben. Mit dem Zangezur-Korridor würde Aserbaidschan eine Landverbindung zwischen den Türken am Mittelmeer und den Turkvölkern Zentralasiens schaffen. Dem Land käme dann innerhalb der Staatengruppe eine Schlüsselrolle zu. Mit dem Liefervertrag für Erdgas, welchen Aserbaidschan mit der EU kürzlich abschloss, realisierte das Land bereits den wirtschaftlichen Aspekt dieses Anspruchs, nämlich denjenigen als Drehscheibe für den Handel mit Erdöl und -gas aus der Region des Kaspischen Meers.12
  Natürlich möchten die zentralasiatischen Mitgliedsländer die Türkei nicht brüskieren, aber sie haben unterschiedliche geschichtliche Erfahrungen, sozio-kulturelle Normen und politische Systeme.13 Diese Länder machten zwar ambivalente Erfahrungen mit Russland und der Sowjetunion, waren aber nicht in die Erzfeindschaft involviert, welche das russische Zarenreich und das osmanische Imperium voneinander trennten. Im Gegenteil: Die Sowjetunion und namentlich Russland hatten im 20. Jahrhundert grossen Anteil an der Entwicklung der Region Zentralasien. Der türkische Führungsanspruch stösst dort auf eine gewisse Skepsis. Dafür ist das Selbstbewusstsein dieser Nationen mit ihrem reichen kulturellen und historischen Erbe zu stark entwickelt.

Verbündete und Nachbarn Armeniens

Mehrere Staaten Zentralasiens sind aber auch Mitglied der Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS) und damit militärische Verbündete Armeniens.14 Kraft seiner Grösse und militärischer Stärke kommt Russland in der OVKS natürlich eine Hauptrolle zu, während die Streitkräfte der zentralasiatischen Republiken – mit Ausnahme jener Kasachstans – wohl nicht als so stark einzuschätzen sind, wie die offen verfügbaren Zahlen vermuten lassen. Die Tatsache, dass Russland derzeit in der Ukraine militärisch gebunden ist, mag Präsident Alijew zu einem etwas forscheren Auftreten gegenüber Armenien ermutigt haben. Die Ukraine und der Westen könnten versuchen, ihn zu motivieren, noch weitergehende Zugeständnisse zu fordern. Allein, es würde schon genügen, wenn die Staaten Zentralasiens Baku signalisieren würden, dass aus den angestrebten Verbindungen nach Zentralasien nichts wird, wenn Aserbaidschan weiterhin militärisch Hand an ihren Verbündeten legen sollte.
  Besonders enttäuschend mag für viele Armenier das Verhalten Georgiens sein, dessen Geschichte wesentliche Parallelen mit jener Armeniens aufweist. Als kleines, überwiegend christliches Land an der Grenze zwischen zwei Grossreichen und umgeben von muslimisch geprägten Gebieten, würde man Georgien eigentlich als natürlichen Verbündeten Armeniens ansehen. Von den Flirts der georgischen Führung mit EU, Nato und dem türkischen Nachbarn erwartet man in Eriwan hingegen nichts Gutes.

Westliche Geopolitik

In den letzten Tagen brachte offenbar erneut russische Diplomatie die Kontrahenten im Südkaukasus an den Verhandlungstisch.15 Aber westliche Geopolitiker sehen hier auch schon ihre Chance im Kampf gegen den Iran und im weiteren Sinn im Ringen um die Vorherrschaft im Nahen Osten16 und könnten versuchen, Friedensbemühungen zu hintertreiben. In diesem Konkurrenzkampf schwammen dem Westen in jüngster Zeit die Felle davon, seit die Türkei und in den letzten Monaten auch Saudi-Arabien sich zunehmend westlichem Einfluss verwehrten. Eine Einmischung der Geopolitiker aus Washington und Brüssel, die glauben, dank des Konflikts um Berg-Karabach wieder einen Schuh in die Region zu bekommen, wäre aber das Letzte, was die Menschen in der Region brauchen.  •



1 siehe Orkhan Nabiyev: «Baku, Yerevan agree on main points of peace treaty – Turkish FM», in: Trend News Agency vom 11.10.2022, online  https://en.trend.az/azerbaijan/politics/3655527.html und «Armen Grigoryan: there is agreement to sign peace treaty between Armenia and Azerbaijan by end of year», in: Arka News Agency vom 14.10.2022, online unter http://arka.am/en/news/politics/armen_grigoryan_there_is_agreement_to_sign_peace_treaty_between_armenia_and_azerbaijan_by_end_of_yea/
2 siehe «PACE President calls on Armenia, Azerbaijan to redouble efforts to resolve conflict», in: News.am vom 11.10.2022, online unter https://news.am/eng/news/724499.html, «Ombudswoman briefs OSCE Minsk Group French co-chair on consequences of Azerbaijan attack on Armenia», in: News.am vom 11.10.2022, online unter https://news.am/eng/news/724505.html, und «Azerbaijan must withdraw its forces from sovereign territory of Armenia: PACE lawmaker haunted by Azeri war crimes», in: Armenpress vom 11.10.2022, online unter https://armenpress.am/eng/news/1094605.html
3 siehe «Zangezur, which is currently part of southern Armenia, has been a disputed territory since World War I», in: TRT World vom 29.06.2022, online unter https://www.trtworld.com/magazine/what-is-the-zangezur-corridor-and-why-does-it-matter-to-eurasia-58405
4 siehe Artikel 9 des Waffenstillstandsabkommens vom 9.11.2020, online unter https://www.bbc.com/russian/news-54886782 in russischer Sprache und https://web.archive.org/web/20201111212431/http://en.kremlin.ru/events/president/news/64384 (englisch).
5 vgl. «Schweiz als Vermittlerin zwischen Armenien und der Türkei», in: Human Rights vom 29.10.2009, online unter https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/aussenpolitik/schweiz-vermittlerin-tuerkei-armenien
6 siehe «Yerevan, Baku agree to most of ‹Zangezur corridor›, Russian newspaper reports», in: Civilnet vom 29.6.2022, online unter https://www.civilnet.am/en/news/666581/yerevan-baku-agree-to-most-of-zangezur-corridor-russian-newspaper-reports/
7 siehe Artikel 9 des Waffenstillstandsabkommens vom 9.11.2020, a.a.O.
8 siehe Artikel 6 des Waffenstillstandsabkommens vom 9.11.2020, a.a.O.
9 siehe Arshaluis Mgdesyan: «Attacks on Armenia highlight ongoing disputes over ‹corridor› for Azerbaijan», in: Eurasianet vom 14.9.2022, online unter https://eurasianet.org/attacks-on-armenia-highlight-ongoing-disputes-over-corridor-for-azerbaijan
10 siehe «Georgia, Azerbaijan, Turkey to share experience in Caucasus Eagle defence drills», in: Agenda.ge vom 11.10.2022, online unter https://agenda.ge/en/news/2022/3944, und Verteidigungsministerium Aserbaidschan: Baku hosts NATO training course, 10.10.2022, online unter https://mod.gov.az/en/news/baku-hosts-nato-training-course-43145.html. Zum Lieferabkommen für Erdgas zwischen Aserbaidschan und der EU siehe «EU signs deal with Azerbaijan to double gas imports by 2027», in: Reuters vom 18.07.2022, online unter https://www.reuters.com/business/energy/eu-signs-deal-with-azerbaijan-double-gas-imports-by-2027-2022-07-18/
11 vgl. die Homepage der Organisation unter https://www.turkkon.org/en/uye-ulkeler. Ungarn (!) und Turkmenistan haben in dieser Organisation Beobachterstatus.
12 siehe «EU signs deal with Azerbaijan to double gas imports by 2027», in: Reuters, a.a.O.
13 siehe zu diesem Aspekt insbesondere Matthias Wolf: «Zwischen Osmanismus, Lenin und Turan – Warum die Turkvölker Zentralasiens ‹auf andere Art türkisch› sind», in: Deutsches Zentrum für Südkaukasus vom 27.02.2021, online unter https://sudkaukasus.de/zwischen-osmanismus-lenin-und-turan-warum-die-turkvolker-zentralasiens-auf-andere-art-turkisch-sind/
14 siehe die offizielle Homepage der OVKS: https://en.odkb-csto.org/
15 siehe «As result of mediation activity of Russian side, military clashes between Azerbaijan and Armenia have been stopped – President Ilham Aliyev», in: Trend News Agency vom 14.10.2022, online unter https://en.trend.az/azerbaijan/politics/3657048.html
16 Symptomatisch dafür ist der Artikel von Cavid Veliyev: «Iran’s Frustrations With the Zangezur Corridor», in: Eurasia Daily Monitor, Jamestown Foundation, 23.9.2022, online unter https://jamestown.org/program/irans-frustrations-with-the-zangezur-corridor/.

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