Bald schon Weimarer Verhältnisse in der Schweiz?

Strafrechtler Marcel Niggli warnt vor der Erosion des Rechtsstaates

ts. Kriminell und strafbar, oder ziviler Ungehorsam im Gefolge eines Gandhi und Martin Luther King? Die Rede ist von Aktivisten für den Klimaschutz, die sich vermehrt auf Strassen und anderswo festkleben. Was aber, wenn eine Ambulanz deswegen zu spät an einen Unfallort gelangt und die verunfallte Person stirbt? So offensichtlich unlängst in Berlin vorgefallen und in den Medien zumeist schöngeredet.
  Klartext spricht Marcel Niggli, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg und unter anderem Autor des Kommentars zur Schweizer Rassismusstrafnorm. Dass mit der Klimafrage ein Notstand vorliege, der solches Handeln rechtfertige, wie die Aktivisten geltend machen, weist Niggli klar zurück: «Ein Notstand bezeichnet eine Konstellation, die mich berechtigt, in die Rechtsgüter eines andern einzugreifen, um mich aus einer unmittelbaren Gefahr zu retten. Diese Gefahr muss laut Gesetz ‹unmittelbar und nicht anders abwendbar› sein.» Im Falle der Klimaaktivisten fehle es an beidem. Im Sinne der geltenden Gesetze sei der Klimawandel keine unmittelbare Gefahr. Zudem, insbesondere in der direktdemokratischen Schweiz, könne er «sehr wohl anders abgewendet werden als durch Strassenblockaden. Zum Beispiel, indem man eine Volksinitiative startet.»
  Niggli klärt auch das gängige Missverständnis, bei den Aktionen handle es sich um «zivilen Ungehorsam», also quasi etwas Legitimes, ja sogar «Gutes», Zukunftsweisendes. «Ziviler Ungehorsam» sei ein Begriff aus der Rechtsphilosophie: «Der Amerikaner Henry David Thoreau prägte ihn im 19. Jahrhundert. Er sagte, die USA seien ein Unrechtsstaat, solange sie die Sklaverei anerkennten.» Thoreau weigerte sich deshalb, seine Steuern zu bezahlen, und wurde publizistisch tätig, mit spätem Einfluss auf Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Niggli betont: «Wichtig ist: Thoreaus Normbruch richtete sich nicht gegen unbeteiligte Dritte, sondern gegen den in seinen Augen fehlbaren Staat. Und er war gewaltfrei. Das erfüllen weder eine Blockade noch ein Hausfriedensbruch. Beides sind Eingriffe in die Freiheit eines anderen, und das ist im strafrechtlichen Sinn: Gewalt.» Zudem habe sich Thoreau nicht gerechtfertigt und die Strafe für seinen Normbruch akzeptiert.
  Niggli gibt zu bedenken, dass der Begriff völlig falsch verwendet werde, da man Ungehorsam nur gegenüber jemandem leisten könne, dem man gehorchen müsse. «Wenn ich Ihnen Ihren Znüni wegnehme oder in einem Museum Bilder beschmiere, damit der Staat merkt, dass etwas nicht stimmt, dann ist das doch nicht Ungehorsam. Das ist von der Grundstruktur her eher eine Erpressung.»
  Der oft geäusserten Aussage der Aktivisten, angesichts des Klimawandels reiche die Zeit nicht für demokratische Mittel, hält Niggli in aller Deutlichkeit entgegen: «Wenn die Zeit nicht reicht, um das Recht einzuhalten, dann können wir sowieso einpacken!»
  Niggli lässt auch die Medien sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Die Medien seien «im Zeitalter der Aufmerksamkeitsknappheit der eigentliche Adressat». So würden strafbare Delikte zur politischen Manifestation umgedeutet: «Stellt jemand sein Auto offensichtlich ins Parkverbot, dann wird er gebüsst – und fertig. Aber […] wenn er es zur Protestform gegen die grüne Verkehrspolitik erklärt, dann nervt das nur.»
  Begehren seien politisch nach den Regeln der direkten Demokratie einzubringen. Greife man aber in seinem Unmut in die Sphäre anderer Menschen ein, dann sei das Recht am Ende. «Genau das sollte das Recht nämlich verhindern.»
  Niggli warnt auch vor einer Erosion des Rechtsstaates oder gar einem Dammbruch – mit historisch bekannten Folgen: «Es geht nicht, dass jemand sagt, er kämpfe für das Gute – und dann alles tun darf.» Begehe jemand Hausfriedensbruch, weil er in einer fremden Privatwohnung kontrollieren wolle, ob alle Geräte abgestellt seien, stehe dahinter sicher ein guter Zweck, und Hausfriedensbruch sei ja nicht das schwerste Delikt. «Aber möchten Sie das? Wenn jemand straflos fürs Klima Regeln brechen kann, wieso dann nicht auch der Rechtsextreme für seine Ziele? Wir brauchen Regeln, wann wer in welche Sphäre eindringen kann. Und die haben wir gegenwärtig. Sie heissen Recht.»
  Leider seien diese Regeln, somit unser Rechtsstaat, brüchig geworden. Niggli warnt vor dem weiteren Beschreiten dieses Weges, der nur in den Abgrund führen könne. Er sage es ungern, weil es pathetisch klinge, und öffnet damit den Blick über den helvetischen Tellerrand hinaus: Genau daran sei die Weimarer Republik gescheitert, «dass man kein Terrain fand, auf dem man rational und vorurteilsfrei miteinander verhandeln konnte». Jeder habe gedacht, das einzige, was nütze, sei, den anderen anzuschreien oder Gewalt gegen ihn zu verüben. «Gehen wir auf diesem Weg, kommt es richtig schlecht.»
  Es wäre zu wünschen, dass die Klimaaktivisten und die involvierten Journalisten Nigglis Worte ernst nehmen und sich auf ihren Staatskunde-Unterricht zurückbesinnen – haben ja zumindest letztere noch zu einer Zeit Schulen durchlaufen, an denen am Freitag unterrichtet wurde. Dass sie im Geschichts- und Staatskundeunterricht gut zugehört haben, wäre der zweite Wunsch – oder bleibt auch dieser bloss fromm, weil Geschichte und Staatskunde seit Jahren abgebaut werden und/oder allenfalls von Lehrkräften unterrichtet wurden, denen der Sinn für das Friedenskonzept der direkten Demokratie zum Beispiel wegen einer EU-Schwärmerei abhandengekommen ist? Um so wichtiger für uns alle deshalb solche staats- und rechtskundlichen Nachhilfestunden wie jene von Professor Marcel Niggli.   •

Quelle: NZZ am Sonntag vom 6.11.2022

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