Daran erinnern, dass es auch anders geht

Alternativen zu einer auf Abwege geratenen Einheitsmeinung

von Karl-Jürgen Müller

Eigentlich wurde in den vergangenen neun Monaten alles Notwendige zur Charakterisierung der westlichen Kriegstrommeln gesagt. Auch, dass dabei vieles, was Europa einmal sehr wichtig war, auf der Strecke geblieben ist: nicht nur Freiheit und Recht, sondern auch Mitmenschlichkeit und Völkerverständigung. Wenn ein offen rassistisch auftretender Schriftsteller den «Friedenspreis» des Deutschen Buchhandels erhält, müssten eigentlich überall die Alarmglocken läuten. Man hat sie – von Ausnahmen abgesehen – nicht hören können. Das kann doch nicht alles sein, was Europa zu bieten hat.

Im Sommer 1947 reisten John Steinbeck und Robert Capa, zwei US-Amerikaner, im Auftrag der «New York Herald Tribune» mehrere Wochen durch die vom Krieg stark gezeichnete Sowjetunion. Sie wollten über die Menschen im Land berichten und deren Leben in Bildern festhalten. Daraus entstand ein Buch, das 1948 das erste Mal in englischer und erst 2010 in deutscher Sprache erschienen ist. Der Titel des Buches: «Russische Reise».
  John Steinbeck und Robert Capa waren schon 1947 weltbekannt. Capa war ein berühmter Fotograf. Noch heute sind in Leipzig eine Strasse und ein Haus nach ihm benannt. Steinbeck war Journalist und Schriftsteller. 1940 wurde ihm für seine journalistische Arbeit der Pulitzer-Preis verliehen, und für seinen Roman «Früchte des Zorns» sollte er 1962 den Literaturnobelpreis erhalten.
  Hier sollen nur die letzten Sätze des Buches zitiert werden: «Wie wir vermutet hatten, stellte sich heraus, dass die Russen Menschen wie du und ich sind und dass sie sehr nett sind. Die Menschen, die wir trafen, hassten den Krieg, sie wollten, was alle Menschen wollen – ein gutes Leben, mehr Komfort, Sicherheit und Frieden. […] Es gibt keine Schlussfolgerungen, die man ziehen könnte, ausser jener, dass sich das russische Volk nicht wesentlich von den anderen Völkern dieser Welt unterscheidet. Ganz bestimmt gibt es einige Bösewichter darunter, aber die weitaus meisten sind sehr anständige Menschen.»
  Haben Sie so etwas in den vergangenen neun Monaten in unseren offiziellen westlichen Medien auch nur annähernd lesen, hören oder sehen können? Statt dessen sind aus den Russen Barbaren geworden und aus der politischen Führung des Landes Dämonen, die die Welt bedrohen.

«Umwertung aller Werte» …

Viele Überzeugungen, die die Generationen vieler europäischer Staaten in den Jahren nach 1945 prägten, wurden zur Makulatur erklärt oder gerieten in Vergessenheit. Wie oft musste ich in den vergangenen Wochen und Monaten an die vergangenen 30 Jahre, den Plan US-amerikanischer «Full-spectrum dominance», der letztlich auch zum Krieg in der Ukraine geführt hat, und an die alte Weisheit denken, dass Machtstreben und Krieg nicht nur Tod und Zerstörung bedeuten, sondern auch die «Umwertung aller Werte».
  Heute möchte ich nicht nur an die «Russische Reise», sondern auch an zwei Texte aus einer ganzen Fundgrube wertvoller Dokumente erinnern, die auf ein anderes Europa, ein anderes Deutschland verweisen.
  Das erste Dokument ist ein Aufsatz von Adolf Süsterhenn aus dem Rheinischen Merkur vom 12. April 1946.1 Der Titel des Aufsatzes: «Freiheit und Recht». Adolf Süsterhenn war ein deutscher Staatsrechtler und Politiker und gilt als «geistiger Vater» der Landesverfassung für Rheinland-Pfalz, war Minister in Rheinland-Pfalz, Mitglied des Parlamentarischen Rates zur Formulierung des deutschen Grundgesetzes, Präsident des Oberverwaltungsgerichts und Vorsitzender des Verfassungsgerichtshofs von Rheinland-Pfalz sowie Mitglied des Deutschen Bundestages. In seiner Wahlheimat Rheingönheim zählte er 1945 zu den Mitbegründern der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU).

… oder «Freiheit und Recht»?

Am treffendsten, so Süsterhenn, charakterisiere man die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland als «System der Unfreiheit und Rechtlosigkeit». Der Mangel an Freiheit und Recht «war vom Geistigen her gesehen die schlimmste Tortur, schlimmer als körperliche Peinigung und materielle Schädigung; denn durch das auf Knechtschaft und Willkür gegründete System des Nationalsozialismus wurde der Kern der menschlichen Persönlichkeit, die allgemeine Menschenwürde angetastet».
  Mit markanten Sätzen definierte Süsterhenn, was Freiheit und Recht bedeuten und dass zur Freiheit unverzichtbar das Recht gehört.
  «Die Freiheit», so schrieb er, «ist ein natürliches Gut, auf welches jeder Mensch als solcher Anspruch hat. Sie besteht in der grundsätzlich unbeschränkten Möglichkeit des Menschen, unabhängig von äusserem Zwang seine körperlichen und geistigen Anlagen, Kräfte und Fähigkeiten selbsttätig und selbstverantwortlich zu entwickeln und zu gestalten. Als vernunftbegabtes Wesen kann der Mensch sich keiner unvernünftigen Zügellosigkeit hingeben, ohne dadurch sein wahres Menschentum zu gefährden. Nach einem Worte Goethes gegenüber dem Kanzler von Müller besteht das Wesen der Freiheit in der ‹Möglichkeit, unter allen Bedingungen das Vernünftige zu tun›. Freier Vernunftgebrauch und auf vernünftige Erkenntnis der sittlichen Normen erwachsende Selbstentscheidung und Selbstbestätigung führt erst den Menschen über die dem natürlichen Zwang unterliegenden Bereiche des vegetativen und animalischen Lebens […] hinaus und erhebt ihn zum wirklichen Menschen, zur sittlichen Persönlichkeit.»
  Und das Recht? «Die Ordnung des sozialen Zusammenlebens der freien Einzelpersönlichkeiten in der Gemeinschaft sowie die Ordnung des Verhältnisses der verschiedenen menschlichen Gemeinschaften untereinander ist aber die Aufgabe des Rechts. […] Nur das Recht ist in der Lage, die Freiheit zu verbürgen. Wo kein Recht ist […], da regieren Willkür und Gewalt, da triumphiert das sogenannte Recht des Stärkeren.»

Ein neuer Totalitarismus droht

Er warnte auch: Sollte sich die Staatsmacht erneut anmassen, alleine darüber zu bestimmen, was Freiheit und Recht sind, so drohe ein neuer Totalitarismus. Diese Gefahr bestehe insbesondere unter der Herrschaft des Rechtspositivismus, wo nur das, was beschlossenes Gesetz ist, auch Recht sein soll. 1932 und 1933 habe dies in die nationalsozialistische Diktatur geführt. So ist am Ende von Süsterhenns Aufsatz zu lesen: «Jede staatsrechtliche Neuordnung der Verhältnisse im deutschen Raum muss sich die Vorgänge von 1933 zur Lehre dienen lassen, da die Gefahr totalitärer Bewegungen auch trotz der Beseitigung des Nationalsozialismus noch fortdauert. Wie die Neuordnung im einzelnen auch aussehen mag, es darf nie wieder eine so weitgehende staatsrechtliche und tatsächliche Machtkonzentration an der Zentralstelle erfolgen […], da sonst Freiheit und Recht auch in Zukunft wieder bedroht sind. Vor allem aber muss der Geist des Rechtspositivismus und die darauf gegründete Idee der Staatsomnipotenz überwunden werden, die auch noch in vielen Köpfen herumspukt, die sonst gut demokratisch sein wollen. Oberstes Prinzip aller Politik muss die Anerkennung des Grundsatzes sein, dass der Einzelne und die dem Staate eingeordneten Gemeinschaften ihre Freiheiten und Rechte nicht vom Staat erhalten haben, sondern dass sie vorstaatlichen Ursprungs sind und daher auch vorstaatliche Rechte haben, die in der Natur des Menschen […] wurzeln.
  Der Staat, der nicht der Schöpfer allen Rechtes, sondern selbst dem Naturrecht unterworfen ist, darf den Einzelnen nicht in seiner Persönlichkeitsentfaltung hindern und die natürlichen Aufgabengebiete der vorstaatlichen Gemeinschaften nicht an sich reissen, sondern hat im Gegenteil die Aufgabe, dem Einzelmenschen und den ihm eingeordneten Gemeinschaften Schutz und Hülfe zu verleihen und ihnen freie Entwicklungsmöglichkeiten zu gewährleisten. […] Das Gemeinwohl, das heisst die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit als Staatszweck, stellt sowohl die naturrechtliche Begründung als auch die naturrechtliche Begrenzung der Staatsgewalt dar. Ein Staat, der die Freiheiten und Rechte der Einzelperson und der natürlichen Gemeinschaftsbildungen wie Familie, Berufsstand, Gemeinde oder Heimatlandschaft vergewaltigt, entzieht sich damit selbst die naturrechtliche Grundlage seiner Existenz und wird zum alles verschlingenden Moloch […].»

«Ein freies Volk soll wiedererstehen»

Das zweite Dokument ist ein Parteiprogramm von nur wenigen Seiten.2 Ende Juni 1945 verabschiedete eine Programmkommission der Christlichen Demokraten in Köln diesen Entwurf für ein Parteiprogramm für die deutsche CDU. «Ein Ruf zur Sammlung des deutschen Volkes» ist als Überschrift zu lesen, und der Text besteht aus einer Analyse der deutschen Katastrophe und 20 kurz gefassten Programmpunkten für die künftige Gestaltung des Landes. Hier sollen nur ein paar Sätze zitiert werden:
  «So erlagen allzu viele der nationalsozialistischen Demagogie, die jedem Deutschen ein Paradies auf Erden versprach. Ohne eigenen sittlichen Halt verfielen sie dem Rassenhochmut und einem nationalistischen Machtrausch. Mit dem Grössenwahnsinn des Nationalsozialismus verband sich die ehrgeizige Herrschsucht des Militarismus und der grosskapitalistischen Rüstungsmagnaten. Am Ende stand der Krieg, der alle ins Verderben stürzte.
  Was uns in dieser Stunde der Not allein noch retten kann, ist eine ehrliche Besinnung auf die christlichen und abendländischen Lebenswerte […]. Darum fort mit Diktatur und Tyrannei, Herrenmenschentum und Militarismus! Ein freies Volk soll wiedererstehen, dessen Grundgesetz die Achtung menschlicher Würde ist. Ein neues Deutschland soll geschaffen werden, das auf Recht und Frieden gegründet ist. Unsere Jugend soll wieder lernen, dass nicht Macht, sondern Geist die Ehre Deutschlands vor der Welt ausmacht. Wahrheit, Ehrlichkeit und Treue zum gegebenen Wort soll unser öffentliches Leben leiten. Lüge, Verstellung und Heuchelei, diese Pest des Hitlerismus, sollen niemals wiederkehren. Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe sollen eine neue Volksgemeinschaft beschirmen, die die gottgegebene Freiheit des Einzelnen und die Ansprüche der Gemeinschaft mit den Forderungen des Gemeinwohls zu verbinden weiss.»
  Punkt 20 als letzter der «Leitsätze für den Wiederaufbau unseres Vaterlandes» lautete: «Die Grundlage der deutschen Aussenpolitik ist die Achtung fremden Volkstums und die treue Innehaltung der Verträge. Es muss Gemeingut des ganzen Volkes werden, dass die Politik der Gewalt und des Krieges nicht nur eine Versündigung am eigenen Vaterland, sondern auch ein Verbrechen an der Menschheit ist. Deutschland muss führend sein in der Verwirklichung der Sehnsucht der Völker nach einem ewigen Frieden.»

Wir waren schon einmal weiter

John Steinbeck und Robert Capa, Adolf Süsterhenn und die «Kölner Leitsätze», das alles ist 75 Jahre und länger her. Die grossen Sorgen in der Sowjetunion und in den USA vor einem Atomkrieg wurden schon bald nach 1947 durch die Trommeln des Kalten Krieges übertönt. Naturrechtsdenken, das nach 1945 in Deutschland tatsächlich eine Renaissance genoss, wurde schon in den sechziger Jahre erneut verdrängt.3
  Betrachtet man das heutige Deutschland und das heutige Europa des Westens, dann kann man allerdings auch sagen: Wir waren schon einmal weiter – auch wenn die Wortwahl von damals heute zum Teil übersetzt werden müsste! Die Erfahrung mit einer totalitären Diktatur und deren Schrecken hatte in den Nachkriegsjahren viele eine Zeit lang zur Besinnung kommen lassen. Unser heutiges Europa könnte von diesen Erfahrungen und Haltungen etwas lernen – um eine erneute Katastrophe zu verhindern.
  Nicht zuletzt stellt sich aber auch die Frage, warum als richtig erkannte Überzeugungen verdrängt beziehungsweise aufgegeben werden. Das ist auch eine psychologische und soziale Frage: Wie stehen wir mit all unseren guten Ideen innerlich zur Macht? Und was braucht es, um vor der Macht nicht innerlich auf die Knie zu gehen beziehungsweise selbst nach der Macht zu streben? Was braucht es, um das als richtig Erkannte auch tatsächlich zu leben?   •



1 Bucher, Peter (Hrsg.). Nachkriegsdeutschland 1945–1949. Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, Band X, Darmstadt 1990, Sonderausgabe 2011, S. 165ff.
2 ebenda S. 27ff.
3 vgl. Nestor, Moritz. «Die Renaissance des Naturrechts nach 1945»,https://naturrecht.ch/wp-content/uploads/02-Renaissance-des-Naturrechts-nach-1945.pdf; und Künnecke, Arndt. «Die Naturrechtsrenaissance in Deutschland nach 1945 in ihrem Historischen Kontext – mehr als nur eine Rechtsphilosophische Randnotiz?»; https://dergipark.org.tr/tr/download/article-file/7071


Deutsches Aussenministerium liess bei G-7-Treffen in Münster Kreuz abhängen

km. Am 5. November 2022 war bei vaticannews.va/de zu lesen: «Als ‹nicht nachvollziehbar› hat das Bistum Münster das Abhängen eines historischen Kreuzes im Friedenssaal des Rathauses kritisiert. […]
  Das Bistum bezieht sich auf eine Aufforderung des deutschen Aussenministeriums, dass die Stadt Münster das historische Ratskreuz im Friedenssaal anlässlich der G-7-Sitzung entfernen müsse. Begründet wurde dies laut Stadt Münster damit, dass Menschen mit unterschiedlichem religiösen Hintergrund an dem Treffen teilnehmen.
  Die Massnahme ‹bringt leider ein verkürztes Verständnis von Toleranz zum Ausdruck›, kommentiert das Bistum Münster. ‹Das Kreuz steht – auch, wenn das nicht immer eingehalten wurde und wird – für Toleranz, Friedfertigkeit und Mitmenschlichkeit. Das Kreuz steht für die Überwindung von Gewalt und Tod. Das Kreuz steht von daher genau für die Zielsetzungen, die die Aussenminister mit ihrem Zusammenkommen in Münster anstreben.›
  Dass die Aussenminister bewusst den Friedenssaal in Münster für ihre Beratungen ausgewählt hätten und damit an die Geschichte anknüpften, begrüsse man sehr. Traditionen und damit verbundene Symbole, die Ausdruck von Werten, Haltungen und religiösen Überzeugungen sind, lassen sich aber nicht einfach ‹abhängen›, heisst es in der Bistumserklärung weiter. ‹Vielmehr kann es hilfreich sein, sich damit zu befassen und auseinanderzusetzen. Das hätten wir uns gewünscht.› […]
  Ein Sprecher des Aussenministeriums hatte die Massnahme am Freitag protokollarisch begründet. Explizit betonte der Sprecher, dass Aussenministerin Annalena Baerbock nicht mit der Entfernung des Kreuzes befasst gewesen sei. Baerbock selbst hat die Entscheidung, dass für das Treffen der G-7-Aussenminister im Friedenssaal von Münster ein zum Inventar gehörendes Kreuz entfernt wurde, inzwischen bedauert. Dies sei ausschliesslich eine organisatorische, keine politische Massnahme gewesen, sagte sie bei der Abschlusspressekonferenz am Freitagabend in Münster. Sie selbst habe davon erst am Morgen erfahren. Auch wenn der Historische Friedenssaal im Rathaus als Konferenzraum umgebaut werden musste, so hätte das Kreuz dorthin gehört. ‹Es wäre gut gewesen, wenn es nicht weggeräumt worden wäre›, so Baerbock.»
  Wie glaubwürdig ist die nachträgliche Erklärung von Frau Baerbock?

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