Katar-Bashing – die grosse Medienheuchelei

von Helmut Scheben*

Da zündet einer die Häuser seiner Nachbarn an. Aber man wirft ihm nicht Brandstiftung vor, sondern dass er Frauen und Homosexuelle diskriminiere. Genau so präsentiert sich der Fall Katar.

Im September und Oktober 2017 sagte Hamad bin Jassim Al Thani, der ehemalige Premier und Aussenminister von Katar, im staatlichen Fernsehen des Emirats (nicht auf dem Sender al-Jazira), Katar und Saudi-Arabien hätten zusammen mit den USA den Regimewechsel in Syrien betrieben: «Alles lief über die Türkei, in Koordination mit den USA, den Türken und unseren saudischen Brüdern, alle waren über ihr Militär daran beteiligt.»
  Al Thani nahm kein Blatt vor den Mund. Er selbst sei im Frühling 2011 nach Damaskus gereist und habe Assad 15 Milliarden Dollar angeboten, wenn er sich vom Iran distanziere. Da Assad ablehnte, habe man zusammen mit den Saudis die geplante Intervention in Syrien eingeleitet.1 «Katar und Saudi-Arabien waren verantwortlich für die Finanzierung und Bewaffnung», erklärte Al Thani. Die Arabische Liga habe sich mit Propaganda begnügt. Den syrischen Medien wurde z. B. der Zugang zu Arabsat und anderen Satelliten gesperrt. Allein die katarische Herrscherfamilie Al Thani habe mehrere Milliarden Dollar ausgegeben, um den Aufstand zu finanzieren, sagte der Scheich. Deserteure der syrischen Armee seien mit hohen Summen belohnt worden. In einem Interview mit der BBC beschreibt Al Thani in Details, wie die militärischen Operationen, der Nachschub und die gesamte Logistik in Jordanien und auf dem türkischen Nato-Stützpunkt Incirlik koordiniert wurden. Die Geheimdienste der USA, Frankreichs, Grossbritanniens, der Türkei und Jordaniens arbeiteten zusammen, um die syrische Regierung zu stürzen.

Völkerrechtsverbrechen

Was man dem weltweit zweitgrössten Gaslieferanten Katar also tatsächlich hätte vorwerfen können, ist ein Völkerrechtsverbrechen: nämlich Unterstützung und Finanzierung eines Angriffskrieges. Dass dieser vom Westen geplant war, wurde zwar schon öfter bestätigt, aber selten so lapidar eingestanden.
  Hat man von all dem in den letzten Monaten etwas im Blätterwald lesen können? Kein Wort. Statt dessen arbeitet sich eine emsige Journaille ohne Unterlass daran ab, zu beweisen, dass in Katar Frauenrechte und Rechte von LGBTQ-Minderheiten verletzt werden. Der Befund steht seit zehn Jahren fest und wird seitdem ständig wiederholt: Einem politisch dermassen unkorrekten Land wie Katar darf das weltweit grösste Sportereignis nicht anvertraut werden. Zeit online schreibt: «Katar gilt als eines der umstrittensten Gastgeber-Länder in der WM-Geschichte. Dem Emirat werden Verstösse gegen Menschenrechte, schlechter Umgang mit ausländischen Arbeitern und mangelnde Frauenrechte vorgeworfen.»

«Man will nur das sehen, was man sehen darf»

Und der Versuch, mit Milliarden Dollar einen Regime change in einem Nachbarland herbeizuführen? Daran hatten und haben unsere grossen westlichen Medien nichts auszusetzen. Imperiale Strategien der USA und ihrer Verbündeten sind politisches Routinegeschäft. Man will nur das sehen, was man sehen darf, ohne Probleme zu bekommen und sich in Widersprüchen zu verstricken. Wegen einer WM in Katar wird man sich nicht mit Washington anlegen.
  Denn Uncle Sam war zwar wütend, dass die Weltmeisterschaft nicht an die USA vergeben wurde, und Staatsanwältin Loretta Lynch liess nichts unversucht, um der FIFA an den Karren zu fahren. Der FIFA wohlgemerkt, nicht aber Katar. Denn Al-Udeid bei Doha ist der wichtigste Luftwaffenstützpunkt der Amerikaner und Briten im Mittleren Osten, und was von dort aus so alles seit dem Afghanistan-Krieg betrieben wurde, das will man nicht an die grosse Glocke hängen.

«Der Meutenjournalismus hält es mit den drei Affen»

Nicht jetzt, nicht im Ukraine-Krieg und nicht in den Midterms in USA. Der Meutenjournalismus hält es mit den drei Affen: nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Hingegen wird mit grossem Marktgeschrei verbreitet, was politisch korrekt daherkommt und Applaus garantiert. Mit Unfallstatistiken auf der WM-Baustelle hat man die Parteien und die Gewerkschaften auf seiner Seite, und mit Genderthemen und Frauenrechten ist ebenfalls leicht öffentliche Erregung zu machen. So das Kalkül.
  Zumindest beim Baustellen-Hype ging der Schuss nach hinten los. Unsere Zeitungen fütterten grosse Schlagzeilen mit mutmasslichen Tausenden von Unfalltoten unter den Arbeitsmigranten auf WM-Baustellen, wobei kein Mittel der Manipulation zu fragwürdig erschien. Findige Investigative hatten die Zahlen der aus Katar ausgeführten Särge und andere Statistiken über Todesfälle interpoliert, um auf horrende Zahlen zu kommen. Die Schweizer Gewerkschaft Unia, die dem Thema in Katar nachging und die WM-Baustellen besuchte, fand heraus, dass es weitgehend substanzlose Behauptungen waren. Ihre Vertreterin sprach kürzlich in der SF-Tagesschau von «drei Toten» beim Stadionbau, also weniger als der vergleichbare Durchschnitt in der Schweiz.
  Was den Krieg im Jemen angeht, so ergibt sich das gleiche Bild: Katar gehörte zu der Militärallianz, die unter Führung von Saudi-Arabien 2015 begann, den Jemen zu bombardieren. Für unsere Journalisten kein Grund, Katar als unseriöses Gastgeberland einzustufen. Die USA und ihre Nato-Verbündeten unterstützten diesen Angriffskrieg, um letztlich den Iran einzudämmen und den Öltransport durch die Meerenge von Bab-al-Mandab zu sichern.
  Wenn Katars WM-Botschafter Anfang November in einem ZDF-Interview Homosexualität als «damage in the mind» bezeichnet, sehen Westeuropas Medien Feuer im Dach. Die 370 000 Toten im Jemen und die weltweit schlimmste humanitäre Krise scheinen dagegen, wo es um Katar und die Weltmeisterschaft geht, kein Argument von Interesse.

Gründe für das grosse Schweigen

Die Gründe für das grosse Schweigen über die Aussenpolitik von Katar liegen auf der Hand. Sassen sie doch alle im selben Boot, als der Syrien-Krieg begann: die USA, ihre Nato-Alliierten, die Golfemirate, der Westen mit seinen Medien, seinen Think tanks und prominenten Hilfswerken und Menschenrechtsorganisationen.
  Ein grosses Wehklagen über Verletzung der Menschenrechte stieg zum Himmel. Da war – wie in Afghanistan, im Irak, in Libyen – erneut die Weltgemeinschaft gefordert, um Syrien auf den Weg der Demokratie zu führen. Und diese International Community hatte auch einen Namen: Sie hiess Hillary Clinton, Barak Obama, David Cameron, François Hollande und ihre «Freunde des syrischen Volkes».
  Diese Freundesgruppe wollte unter dem Kommando der Neokons in Washington in Syrien Regime change machen, um einen Korridor frei zu haben für den Aufmarsch gegen den Iran.!
   Assad schiesst auf sein eigenes Volk, so hiess der Textbaustein, auf den kein News-Moderator verzichten wollte. Die Frage, auf wen eigentlich die Dschihadisten aus weit mehr als 50 Nationen schossen, die in Syrien christliche Madonnenbilder zerfetzten, wurde in unseren Zeitungen kaum gestellt. Die Kopfabschneider, die in westlichen Medien als «Rebellen» gefeiert worden waren, kassierten Petrodollar aus Saudi-Arabien und Katar.
  Der in der arabischen Welt wegen seiner Unerschrockenheit geschätzte katarische Sender al-Jazira wurde mit Beginn des Syrien-Krieges zum Lautsprecher der «Rebellen» umfunktioniert. Integre Journalisten, wie der Berliner Korrespondent Aktham Suliman, warfen das Handtuch und verliessen den Sender.2

Fakten-Verschweigen wird immer öfter
zur Methode der Meinungsmanipulation

Der ganze Katar-Menschenrechtshype ist in zweierlei Hinsicht Heuchelei. Wenn tatsächlich Menschenrechte und Völkerrecht die Kriterien wären, nach denen Sportanlässe an ein Gastland vergeben werden, dann hätten wir ein Problem. Denn von den 193 Regierungen dieser Welt ist wohl die Mehrheit der Meinung, dass weder die USA noch ihre Nato-Freunde eine saubere Weste haben. Die von den Nato-Staaten geführten oder unterstützten Angriffskriege in Afghanistan, im Irak, in Libyen, Syrien oder im Jemen mit ihren Millionen von Toten und Flüchtlingen sind in den Augen der meisten Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika schlimmere Vergehen als die Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen in einem Land wie Katar.
  Katar hat aber teilgenommen an diesen Kriegen, meist sogar als militärische und logistische Drehscheibe der USA. Die zweite Heuchelei besteht darin, dass unsere Medien dies verschweigen und heute so tun, als sei ein LGBTQ-Problem das Handicap, das Katar zu einem «zweifelhaften Gastgeber» eines internationalen Sportereignisses mache.
  Ex-FIFA-Präsident Sepp Blatter sagte diese Woche im «Tages-Anzeiger» sowie in einem Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens, Ex-UEFA-Präsident Michel Platini habe ihn 2010 angerufen mit der Information, er sei bei einem Essen im Elysee von Staatspräsident Sarkozy gebeten worden, zu schauen, was er bei der WM-Vergabe «für Katar tun könne».
  Die FIFA-Ethikkommission kam später zu dem Ergebnis, dass bei der Abstimmung FIFA-Funktionäre bestochen wurden. Einige Wochen nach der Vergabe der WM 2022 an Katar wurde Platinis Sohn Laurent Europa-Chef der «Qatar Sports Investments», und sechs Monate später kaufte Katar französische Kampfflugzeuge für 14,6 Milliarden Dollar. Platini sagte im Westschweizer Fernsehen in schöner Offenheit3, an besagtem Essen habe der Kronprinz von Katar teilgenommen, aber er, Platini, sei nicht direkt gebeten worden, sich für Katar einzusetzen: «Ich kenne die Kataris seit dreissig Jahren. Mir muss kein Staatspräsident sagen, ich sollte etwas für Katar tun.»
  Das Emirat Katar teilt sich mit dem Nachbarn Iran das South-Pars-Gasfeld unter dem Wasser des Persischen Golfs. Das Vorkommen hat mehr gewinnbare Gas-Reserven als alle anderen Felder der Welt zusammen. Mit den Erlösen aus dem Gasexport kauft sich die Qatar Investment Authority in westlichen Firmen ein. In der Autoindustrie, in Banken, in der Telekommunikation, im Transportwesen, in Seehäfen und nicht zuletzt im Fussballclub Paris Saint Germain.
  Wenn Katar den Zuschlag für die WM bekommen hat, dann geschah dies nach dem Gesetz, das den Fussball regiert: big money. Eine Sportart, in der die Spieler seit langem gehandelt werden wie Aktien, wird sich kaum des hohen Ethos der olympischen Idee erfreuen.  •



1 vgl. z. B. Raimbaud, Michel. Les guerres de Syrie, S. 158ff.
2 Aktham Suliman ist Autor von Krieg und Chaos in Nahost. Eine arabische Sicht. Frankfurt 2017
3 vgl. SRF 1 Dokumentarfilm vom 10.11.2022

Quelle: https://globalbridge.ch vom 11.11.2022


Helmut Scheben (*1947 in Koblenz, Deutschland) studierte Romanistik in Mainz, Bonn, Salamanca und Lima. 1980 promovierte er zum Doktor phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.

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