Schweizergeist – gerade heute unerlässlich

Eine schweizergeschichtliche Besinnung aus aktuellem Anlass, in drei Teilen

von Dr. Peter Küpfer

Meine Generation (erste Nachkriegsgeneration) ist im Geiste einer grundsätzlichen Rückbesinnung auf den Kern unseres Staatswesens aufgewachsen. Im Elternhaus und im Klassenzimmer waren sich unsere Erzieher, von links bis rechts, einig in der Überzeugung: Nie wieder Krieg! Dazu gehörte auch ein ruhiger, aber selbstbewusster Stolz unserer Eltern- und Lehrergeneration (von denen einige den Aktivdienst hinter sich hatten) darauf, dass die Schweiz den Weltkrieg zwar mit Entbehrungen, aber ohne Katastrophe für unser Land überlebt hatte – und dies in tätiger Anteilnahme am Schicksal weniger glücklicher Völker.

Dieser nationale Grundkonsens, er war 20 Jahre lang im wesentlichen unwidersprochen, ist spätestens in den Jahrzehnten nach 1960 gründlich verlorengegangen; nicht einfach so, wie wir heute wissen (können), sondern durch gezielten kulturpolitisch motivierten Dauerbeschuss auf alles, was für Generationen zu Recht den Stolz der Schweiz ausmachte: auf unsere Geschichte, auf unsere zusammengesetzte und immer wieder auch Spannungen ausgesetzte Mehrkultur-Bevölkerung; auf unsere weltweit immer noch einzigartig ausgestaltete direkte Demokratie; auf unsere ebenso einzigartige wirkliche Volks-Armee (jeder Schweizer ist militärpflichtig, das steht auch heute noch in unserer Verfassung); auf unser weltweit anerkanntes gutes Schulsystem, auf unsere tätige Solidarität in internationalen Notsituationen sowie auf unsere ausgebauten Sozialwerke. Daraus resultierte ein bestimmter politischer Volkscharakter: das ruhige Selbstbewusstsein des souveränen Bürgers (der seine Abgeordneten und seine Regierungen selbst wählt und immer noch das letzte Sagen hat, sogar bei der Festsetzung des auch für ihn selbst geltenden Steuerfusses), das Misstrauen gegenüber politischer Rhetorik und Schaumschlägerei, auch gegenüber geschürten Emotionen. Das führte in der Vergangenheit auch zu einem entsprechenden öffentlichen Debattenstil, der Polemik und persönliche Angriffe meidet und auf die Sache hin orientiert ist.
  Dies alles war weder ein Geschenk der Vorsehung noch das Resultat genialer und vom Volk abgehobener «Führer». Dieser Schweizergeist hat sich in Jahrhunderten entwickelt, er musste reifen, oft erst schubweise und dramatisch, bis er Früchte tragen konnte. Deshalb ist das Wissen um die entsprechenden geschichtlichen Zusammenhänge und der Respekt gegenüber überkommenen Errungenschaften einzufordern (auch dann, wenn ihnen lange Irrtümer und Fehlorientierungen vorangegangen sind). Dieser Respekt vor dem Gewesenen und Gewachsenen ist gerade auch bei unseren heutigen Generationen zu legen, und damit auch einzufordern, die Jüngeren profitieren von den oft bitteren Lektionen der Älteren, welche die Geschichte ihnen auferlegte. Es ist in jeder Generation Aufgabe der Älteren, diesen kollektiven Schatz (es ist das, was im wirklichen Sinn mit dem Begriff Kultur gefasst wird) an die Jüngeren weiterzugeben, die moderne Anthropologie nennt das den kulturellen Transfer (vgl. Nestor, Moritz. Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, Zeit-Fragen Nr. 3/4 vom 5. Februar 2022). Dieses kollektive geistige Erbe zu beschneiden, zu verwässern, zu verfälschen und gering zu reden ist ein Akt der Selbstzerstörung. Diejenigen in unseren Zeiten, die ihn betreiben, Politiker, Historiker, Lehrpersonen, Journalisten, «Kulturschaffende» (sie sind leider heute oft das Gegenteil von ihrem sich selbst gegebenen Titel, nämlich Kulturzerstörer) müssten so ehrlich sein zu sagen, mit welchem Ziel sie diese systematische kulturelle Aushöhlung der Schweiz und ihres in stetigen Auseinandersetzungen gewachsenen Geistes betreiben. Und es müsste noch mehr Menschen geben, die dem Treiben mit einem freundeidgenössischen, aber bestimmten Veto kurz und sachlich Einhalt gebieten.
  Gerade in der heutigen Zeit, wo die ernsthafte öffentliche Sachauseinandersetzung zunehmend durch Rhetorik, das Schüren blosser Emotionen und ein vereinfachendes «Gut-Böse-Schema» ersetzt wird, sind solche Qualitäten wie die genannten von grundlegender Bedeutung. Diese Qualitäten, die Historiker früher «Schweizergeist» nannten, ohne ihn nur für Schweizer zu reservieren, sollten auch in unseren Schulen, unseren Vereinen, in den Medien und im politischen Geschehen wieder mehr beachtet und geübt werden.
  Deshalb möchte ich in diesem Text an drei Förderer und Bewahrer des Schweizergeistes erinnern und dazu auffordern, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ihr geistiges Erbe zu achten und es für unsere Gegenwart zu nutzen. Die Essenz ihrer Art Schweizergeist sollte auch heute wieder vermehrt wehen, nicht nur innerhalb unserer Grenzen.  •

Niklaus von Flüe verhindert einen drohenden Bürgerkrieg in der frühen Eidgenossenschaft (Teil I)

pk. Zur Sprache kommen soll hier zunächst der schon zu seiner Zeit weitherum berühmte und geschätzte Einsiedler im Flüeli ob Sarnen, Niklaus von Flüe (1417–1487). Der asketische Eremit war in seinem «ersten Leben» ein vorausschauender, tüchtiger Obwaldner Bauer und fürsorglicher Familienvater, angesehener Bürger, Oberrichter und Soldat, der alle eidgenössischen Feldzüge seiner Zeit mitgemacht hatte (auch die grausamen Schlachten des Alten Zürichkrieges, des ersten «Bruderkrieges» der Eidgenossenschaft), auf Grund seiner Verdienste bald im Grade eines Hauptmanns. Der nachmalige Einsiedler im Ranft war auch Obwaldner Abgeordneter der Eidgenössischen Tagsatzung. Viele hätten ihn gerne als Obwaldner Landammann gesehen, ein Amt, das er aus Bescheidenheit ablehnte. Schon früh «mit einem zweiten Gesicht» begabt, wie Zeitzeugen versicherten, zur inneren Frömmigkeit hingewandt, zu Gebeten und Fasten, wurde sein Wunsch übergross, seine gesicherte Existenz zu verlassen und «ganz Gott und dem Glauben» zu leben. Mit seiner viel jüngeren Frau einigte er sich nach längerer gegenseitig ehrlicher und ruhiger Auseinandersetzung. So nahm «Bruder Klaus», wie er sich fortan nannte, in der Mitte des Lebens Abschied von ihr und seinen zehn Kindern und zog sich in seine nahe und doch abgelegene Klause zurück, wo er häufig Besuch Ratsuchender und Verzweifelter empfing. Bald war er weit über seinen angestammten Wirkkreis hinaus bekannt und sein Rat begehrt. Pilger von und nach Einsiedeln machten oft einen Umweg übers «Flüeli», um den berühmt gewordenen Eremiten um Rat und seelische Stärkung anzugehen, darunter auch Magistraten, sogar Potentaten, wie der Chronist (Diethelm von Schilling) berichtet.
  Nach den siegreichen Kämpfen gegen das Haus Habsburg (Morgarten, Sempach), dem für die Eidgenossen siegreichen Bruderkrieg gegen die mächtige Stadt Zürich im eidgenössischen Bündnis (Alter Zürichkrieg) und dem Kampf der Eidgenossen gegen den ebenso ehrgeizigen wie mächtigen Herzog Karl den Kühnen von Burgund (Burgunder-Krieg), waren Teile der kriegerprobten ländlichen Bevölkerungen übermütig geworden und sannen auf leichte Eroberungen. Von der Innerschweiz aus bildeten sich mehr oder weniger spontan sich organisierende bewaffnete Haufen als Freischärler-Züge, die in die Nachbarschaft ausgriffen, Städte belagerten und von ihnen berechtigte verspätete oder auch nur imaginäre Zahlungen verlangten. Berühmtestes Beispiel war der sogenannte «Saubannerzug» von 1477, bei dem ein Heer übermütiger Innerschweizer Bauern-Recken bis vor die stolze Stadt Genf zogen und sie, wegen angeblich ausbleibender Schutzzahlungen, in Angst und Schrecken versetzte. Obwohl dieser Zug von mehr als tausend Freischärlern von den Eidgenossen selbst gestoppt und ihre Aufwiegler zur Besinnung gebracht werden konnten, setzten solche eigennützigen Gewalt-Aktionen die bisherige eidgenössische «Richtschnur», ihre von Alters überkommenen und vom Reich garantierten Rechte gegenüber ungerechtfertigten Ansprüchen von Fürsten zu verteidigen, aufs Spiel.
  Als die städtischen Orte, insbesondere Bern, nach dem Sieg über Burgund die mit ihm verbündeten Städte Freiburg und Solothurn in den Bund der Eidgenossen aufnehmen wollten, stiess dieser Wunsch auf der Tagsatzung (1481 in Stans) auf entschiedenen Widerstand der Land-Orte Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden und Zug. Während in der damaligen noch 8-örtigen Eidgenossenschaft das Verhältnis zwischen Stadt-Orten und Land-Orten ausgeglichen gewesen war, befürchteten die Land-Orte, in Zukunft von den Städtern überstimmt zu werden. Bald wurden auch drohende Töne der Landschaftlichen gegen die Städter unüberhörbar. Verhandlungen und Schlichtungsversuche konnten die Patt-Situation auf der immer wieder neu einberufenen Tagsatzung zu Stans nicht aufweichen. Von einigen Tagsatzungs-Teilnehmern waren deshalb schon früh Versuche unternommen worden, den Eremiten im nahen Flüeli zu Rate zu ziehen. Die Überlieferung will, dass der Rat des Eremiten schliesslich, eindringlich vorgetragen von Pfarrer Heini am Grund, Pfarrer in Stans, quasi in letzter Minute angenommen wurde, als viele Abgeordnete sich schon unter allen Zeichen des konfliktuellen Gesprächsabbruchs zur definitiven Abreise gerüstet hatten, was leicht in einen neuerlichen Bruderzwist unter den Eidgenossen hätte ausmünden können. Der Eremit ermutigte die Abgeordneten der Land-Orte, nicht auf ihren maximalen Einschränkungen gegenüber den neuen Stadt-Kandidaten zu beharren, sondern in einen Kompromiss einzuwilligen, der konkrete und schliesslich auch akzeptierte Vertragspunkte1 enthielt.
  Das Resultat der erfolgreichen Vermittlung von Bruder Klaus ist als «Stanser Verkommnis» (Verkommnis im Sinne von Abkommen/Übereinkunft) des Jahres 1481 in die Geschichte der Schweiz eingegangen. Sie war nicht nur Niklaus von Flües eigene grosse Tat, sie war auch ein entscheidender Schritt in der Entwicklung des demokratischen Bewusstseins der sich konsolidierenden Eidgenossenschaft. Es drehte sich im Sinne des weisen Ratgebers alles darum, dass echte eidgenössische Einigkeit nie einfach das Resultat einer blossen numerischen Überstimmung «der anderen» sein konnte, sondern die zumindest teilweise akzeptierte, mit-realisierte und damit wenigstens ein Stück auch berücksichtigte «andere Meinung». Der Land-Stadt-Konflikt, der hier auf eindrückliche Weise als eine das eidgenössische Bündnisgeflecht spaltende Bedrohung in Erscheinung getreten war, war in den darauffolgenden Jahrhunderten vor allem als konfessioneller Konflikt (Reformation) weiter virulent. Er erhielt eine dramatische Verschärfung in den Jahren vor und nach der Gründung der modernen Eidgenossenschaft von 1848 (Industrialisierung) und arbeitete seine destruktiven Potenzen im lange andauernden sogenannten «Kultur-Kampf» zwischen Progressisten und Traditionalisten ab (s. Teil II dieses Beitrags). Die dort aufkommenden äusserst scharfen Töne sind bis zum heutigen Tag noch nicht überwunden. Ein entscheidender Schritt zu einer zumindest teilweisen Beruhigung erfolgte Jahrhunderte nach dem «Stanser Verkommnis» von unerwarteter Seite: der militärischen. Dies wird im zweiten Teil dargestellt, er ist dem General der Schweizer Tagsatzungstruppen im Einsatz 1847 gegen den «Sonderbund» gewidmet, General Guillaume Henri Dufour.  •



1 Es handelte sich konkret vor allem um den Passus, dass die beiden «neuen» Städte nur beschränkt militärische Bündnisse mit Aussenstehenden eingehen durften (vgl. Holzherr, Georg. Niklaus von Flüe, in: Jaeckle Erwin und Eduard Stäuble, Grosse Schweizer und Schweizerinnen, Th. Gut & Co. Verlag, Stäfa 1990, S. 23f.).

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