ts. Er konstatiert in der Schweiz eine zunehmende Kluft und Entfremdung zwischen einer «akademischen Bildungselite und den Fachkräften namentlich in der Privatwirtschaft». Einen Riss, der sich durch die Gesellschaft zieht, der weder mit dem «alten Klassenschema noch mit der Höhe des Einkommens» zu erklären sei. Und: «Viele sind sich dieser zunehmenden Kluft nicht bewusst. Leider auch Medienschaffende nicht.» Der dies moniert, ist niemand geringerer als Rudolf H. Strahm, ehemaliger Zentralsekretär der SP Schweiz (1978–1985) und Nationalrat (1991–2004).
Als ältestes von fünf Geschwistern 1943 im Emmental geboren, lernte Strahm beide Seiten der nun angemahnten Kluft kennen: Nach seiner Lehre als Chemielaborant absolvierte er ein Studium der Volkswirtschaft.
Diesem lebensgeschichtlichen Hintergrund ist es vor allem auch geschuldet, dass sich Strahm seit Jahrzehnten für die Wertschätzung der Berufsbildung engagiert, ein auch im Ausland oft nachgefragtes Juwel, dem es Sorge zu tragen gelte: «In der Deutschschweiz absolvieren 63 Prozent der Leute zuerst eine Lehre, oft dann mit tertiären Weiterbildungen. Wenn die Schweiz funktioniert, dann dank den Leuten, die eine Berufslehre gemacht haben.» Strahm weist in dem Zusammenhang auch darauf hin, dass wir deswegen «eine vergleichsweise gute Integration von Ausländern in den Arbeitsmarkt» haben. Die wirtschaftliche, aber auch die soziale und den inneren Frieden stärkende Bedeutung der Berufsbildung werde heute leider auch von seiner eigenen Partei viel zu wenig gewürdigt. Warum? Wie alle Schweizer Parteien sei auch seine eigene viel zu elitär geworden.
Da müsse ein Umdenken stattfinden, ist Strahm überzeugt. Weg von einer falsch verstandenen Identitätspolitik, hin zu einem die Gegenseite würdigenden Miteinander – und vor allem raus aus den eigenen Meinungsblasen: «Die gender- und colour- und klimaaktiven Leute, die von den Universitäten kommen und die Diversität bis zum Exzess betonen, merken in ihrer Meinungsblase nicht, dass man am Stammtisch des Turnvereins über sie spottet.» Doch leider hätten umgekehrt auch «viele Facharbeiter das Gefühl, dass nur sie selber Leistung erbringen würden». Solche «mentalen Brüche» seien vielerorts zu konstatieren – und dagegen müsse angetreten werden, da müssten Brücken gebaut werden. Zum Beispiel, indem man über die wirklich relevanten Themen diskutiere – also statt über Gendersterne und Rastalocken zum Beispiel über die allgegenwärtige Explosion der Lebenshaltungskosten. Dabei nimmt Strahm auch die Medien in die Pflicht, die mit ihren Schlagzeilen die betriebene «Symbolpolitik» noch unterstützten, die nach dem Motto funktioniere «Leg dich quer, so bist du wer». Zudem verweist Strahm auf ein leidvolles Kapitel der Schweizer Geschichte, die gar zu einem zum Glück nur kurzen und milde ausgefochtenen Bürgerkrieg geführt hatte: dem Sonderbundskrieg. Wir hätten «es heute mit einer Identitätspolitik zu tun, wie sie die Schweiz vielleicht erst einmal erlebt hatte: im 19. Jahrhundert, als sich die Liberalen und die Katholisch-Konservativen spinnefeind gegenüberstanden». Es war dem umsichtigen Handeln von Persönlichkeiten wie General Dufour zu verdanken, dass der Graben nicht zu tief wurde, und eine unglaubliche Leistung unserer Vorfahren, dass man die Besiegten im jungen Bundesstaat einbezog, ihnen mit dem Föderalismus und dem späteren Gewähren eines Bundesratssitzes entgegenkam. Strahm: «Heute werden Identität und Diversität polarisierend bis zum Exzess thematisiert – und die Sozialen und anderen Medien verstärken dies. Reale wirtschaftliche und soziale Probleme kommen zu kurz.»
Diese Politik laufe Gefahr, bei breiten Bevölkerungskreisen ein Misstrauen gegenüber dem Staat zu vertiefen – sie fühlten sich schlicht abgehängt. Aus aktuellem Anlass gibt Strahm zu bedenken: «Deshalb finde ich es wichtig, dass im Bundesrat auch Nicht-Studierte vertreten sind: Leute mit praktischer Intelligenz, ‹gesundem› Menschenverstand und verständlicher Sprache, die diesen Schichten auch eine Identität anbieten können.»
Strahm wäre nicht Strahm, wenn er nicht auch für seine Partei ganz heisse Eisen anpacken würde. Stichwort «Migration», Stichwort «Polarisierung in unserer Parteienlandschaft». Wie schnell seien sachliche Diskussionen zu drängenden Fragen verunmöglicht, weil SVP-Nähe unterstellt werde: «Seit Anfang der neunziger Jahren galt in der SP die Devise: ‹Links ist das Gegenteil von Blocher.› Diese Polarisierung hat ein pragmatisches Herangehen an heikle Themen verhindert.» So seien «gemässigte Besorgte gegenüber der Migration zum Schweigen gebracht» worden. Dasselbe Lied in der EU-Debatte, wo Strahm als Elefanten im Raum die Personenfreizügigkeit inklusive Lohnschutz und Unionsbürgerschaft ortet: «Wenn ein neues Abkommen kommt, das diese Bereiche dem Europäischen Gerichtshof unterstellen will, dann kann man es vergessen: Das wäre ein No go!»
Wer kennt es nicht aus eigener Anschauung? Debatten im Kreis von eher urbanen Arbeitskollegen, Freunden, Bekannten, Verwandten, die oft endeten mit dem Totschlagargument: «Das ist Blocher, das ist SVP.» Und wie oft wurde einem dann – notabene als Nicht-SVP-Mitglied – später hinter vorgehaltener Hand zugeraunt, «bin ja ganz Deiner Meinung, aber ich will nicht in den Geruch der SVP-Nähe kommen. Mühsam, sobald die SVP ihre Pranke auf ein Thema legt, ist es nicht mehr diskutabel».
Strahms angemahnte Versachlichung der Debatten zu Fragen, die uns alle betreffen, unbesehen der parteipolitischen Zugehörigkeit, verdient es, aufgegriffen zu werden. Auch und vor allem in diesen schwierigen Zeiten, auch und vor allem wenn sich die Schweizer Bevölkerung nun wieder verstärkt mit der Frage auseinandersetzt, wie wir es mit unserer Neutralität halten wollen. Wie betonte ein Mitglied des Initiativkomitees der Neutralitätsinitiative, der parteilose Historiker und Leiter des Forschungsinstituts direkte Demokratie (FIDD), René Roca, anlässlich der Medienkonferenz der Initianten? Es sei keine SVP-Initiative. Auch wenn die Medien bereits wieder fleissig Etiketten verteilten. Er habe die Idee einer Initiative auch gehabt, als Parteiloser.
Sachlich statt polarisiert geführte Meinungsdebatten tragen aber nicht nur dazu bei, das friedliche Miteinander auch bei gegensätzlichen Standpunkten zu sichern; sie und die daraus resultierenden Ergebnisse von Volksabstimmungen brachten der Schweiz im europaweiten Vergleich bessere, auch wirtschaftlich gesehen vernünftigere und nachhaltigere Ergebnisse als Beschlüsse von sogenannten Sachverständigen-Räten. Ein Umstand, den auch die nicht gerade durch Volksnähe bekannte HSG St. Gallen in einer eigens angestrengten Forschungsarbeit konstatieren musste, wenn auch fast etwas contre-coeur. •
Quelle: Interview mit Rudolf Strahm, Neue Zürcher Zeitung vom 18.11.2022
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