Trotz allem: «Gemeinsinn, Herz und Humor auf den Lippen»

Eine Retrospektive von Titine Kriesi auf den Nordirland-Konflikt bis zum Friedensschluss 2007

von Diana und Winfried Pogorzelski

Mit ihrem Buch hat Titine Kriesi ein wichtiges Werk zu einer Zeit vorgelegt, in der der Konflikt um Nordirland nahezu in Vergessenheit geraten ist. Die Autorin entwickelte ihr Interesse an postkolonialen Auswirkungen während eines halbjährigen Aufenthalts in Sri Lanka. Dort entstand auch ihr Interesse für Irland bzw. Nordirland, das 1920 von Grossbritannien durch willkürliche Grenzziehung von Irland abgetrennt wurde. Ihre Motivation, das Buch zu verfassen, war, zum besseren Verständnis der «Troubles» (1969–2007) und früherer irischer Rebellionen beizutragen und ihren Abscheu gegen den Krieg auf der Welt (S. 17) zum Ausdruck zu bringen. Die Autorin hielt sich in drei Jahren jeweils während drei Monaten in Nordirland auf.
  Der erste Teil des Buches enthält einen Abriss der Geschichte Irlands und Nordirlands und zum Hintergrund des Nordirland-Konflikts bis zum Friedensschluss 2007 (S. 12f.). In ihm spiegeln sich die Erfahrungen der Autorin und ihre Begegnung mit Betroffenen. Er ist geprägt von der Anteilnahme am persönlichen Schicksal der betroffenen Menschen. Der zweite Teil mit dem Titel «Bürger in schweren Zeiten» enthält bisher unveröffentlichte Interviews und Dokumente. Es sind Verschriftlichungen von Tonbandaufnahmen, an denen nichts verändert wurde (S. 117–237). Der Band ist reich bebildert, die etwa 60 Schwarz-Weiss-Fotos stammen bis auf zwei von der Autorin.

«Zum Hintergrund» – ein historischer Überblick

Schwerpunkt dieses Teils des Buches (S. 15–116) sind die sogenannten «Troubles», also der seit den 1960er Jahren bis 2007 dauernde bewaffnete Konflikt – in den Augen der Autorin ein Krieg – zwischen den Katholiken, die sich als Republikaner für ein vereinigtes Irland und damit für eine Loslösung von Grossbritannien einsetzten, und den Protestanten, die als Unionisten bzw. Loyalisten ein Teil Grossbritanniens bleiben wollten. Eine Chronologie zeigt die Geschichte Irlands von 3000 v. Chr. über die Eroberung des autonomen Königreichs Irland durch Oliver Cromwell (1649) bis hin zum Osteraufstand 1916 und zum Unabhängigkeitskrieg, der 1921 zur Teilung des Landes führt: Nordirland mit seiner «irisch-katholische[n] Bevölkerung sah sich mit einer Zweidrittelmehrheit von ehemals aus England und Schottland angesiedelten Protestanten in ein britisches Herrschaftsgebiet verschlagen – und das bis heute.» (S. 19) Die demographische Entwicklung wird dazu führen, dass die Katholiken einmal in der Mehrheit sein werden, so dass es sein kann, dass die Abstimmungen in ihrem Sinn ausgehen.

Die «Troubles» – ein fast 40jähriger Krieg (1969–2007)

«‹Troubles›, das war ein Euphemismus» (S. 21), denn es handelt sich um einen Krieg, der sich vor unserer Haustür abspielte. Es gab kaum eine Familie, «von der nicht Angehörige erschossen, interniert oder auf der Flucht waren». (S. 22f.) Die britische Besatzungsmacht ging mit unvorstellbarer Härte gegen die katholisch-irische Bevölkerung vor. Betroffen waren vor allem die Menschen in den Armenvierteln, die sich vehement gegen die britischen Soldaten wehrten. Die Bevölkerung war unvorbereitet mit den britischen Elitetruppen konfrontiert, Türen und Fenster wurden deshalb zugemauert.
  Politische Gefangene waren üblich, sie wurden im «Internment Camp Long Kesh» oder «Maze Prison» interniert (S. 23), wo auch Folterungen vorkamen.
  Im folgenden seien nur einige wenige markante Ereignisse aufgeführt, die den Charakter der «Troubles» deutlich machen.

  • 1969 brannten Loyalisten 700 Häuser von Katholiken in der Bombaystreet in Belfast nieder, es kam zu vielen Verhaftungen von Personen, die keine Verbindung zur IRA hatten. Die Gewalt nahm zu, 1971 ereignete sich das «Ballymurphy Massacre», bei dem elf Bürgerrechtler von der britischen Armee erschossen wurden.
  • Ausgangspunkt des «Bloody Sunday» von 1972 war eine friedliche Demonstration von 15 000 bis 20 000 Bürgern in Derry gegen die Internierungspolitik Grossbritanniens. Mit dem unhaltbaren Vorwurf, irische Heckenschützen hätten von Dächern aus als erste geschossen, eröffnete die britische Armee «scharfes Feuer auf die fassungslose und um ihr Leben fliehende Menge», die unbewaffnet war (S. 97). 14 Bürgerrechtler, darunter sieben Jugendliche, wurden vom britischen Fallschirmjäger-Bataillon getötet.
  • 1972 zerstörte die britische Armee die Barrikaden in Derry und Belfast, dank einiger Persönlichkeiten konnte ein Blutvergiessen verhindert werden, da sie die Jugendlichen von sinnlosem Widerstand abhielten. Sie waren es auch, die während der IRA-Bombenkampagne der 1970er und 1980er Jahre mit den Jugendlichen das zerstörte Zentrum von Derry wieder aufbauten.
  • Politische Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts waren hart und zäh, und die Interessen der beiden Seiten klafften weit auseinander. Krieg und Friedensverhandlungen zogen sich hin, was weitere Menschenleben kostete; der Konflikt war militärisch nicht zu lösen. Zu den Vereinbarungen des 1998 geschlossenen Karfreitagsabkommens gehörte die Entwaffnung paramilitärischer Kämpfer auf beiden Seiten und die Garantie Londons, eine Abstimmung in Irland und Nordirland für ein vereinigtes Irland zu respektieren. Eine im selben Jahr gewählte Northern Ireland Assembly vertrat die Interessen der protestantischen wie der katholischen Bevölkerung und wählte die nordirische Regierung; die Abhängigkeit von der britischen Regierung blieb aber bestehen. 2007 kam es zu einem Friedensschluss, die britischen Truppen zogen ab. Das Ziel eines geeinten und unabhängigen Irlands ist bis heute unerreicht.

Die Autorin zieht eine gemischte «Vorläufige Bilanz» (S. 109): Man habe sich zusammenraufen und Herausforderungen stellen müssen, deren Bewältigung noch Zukunftsmusik sei. Die britische Kolonialpolitik habe «bittere, blutige Spuren» hinterlassen (S. 111), die die Widerstandskraft der Iren eher stärkte; die Auseinandersetzungen seien in einen «ernsthaft unternommenen, erfolgreichen Friedensprozess» (ebd.) gemündet. Allerdings sei der Friede fragil, die Wunden seien längst nicht verheilt.
  Mit bewegenden Worten würdigt sie abschliessend die irisch-katholische Bevölkerung Nordirlands: «Ein in seinen gälisch-christlichen Werten tiefverwurzeltes, politisch denkendes Volk mit eigener Kultur, Geschichtsbewusstsein, enger sozialer Verbundenheit, einer ausgeprägten Form von gegenseitiger Hilfe und Anteilnahme am Leid des Nachbarn und der Welt, Gemeinsinn, Herz und Humor auf den Lippen – ein Volk, das in Wissenschaft, Literatur, Musik und Kunst die Welt unermesslich bereichert hat.» (S. 113)

«Bürger in schweren Zeiten – Interviews und Dokumente»

Dieser Teil des Buches enthält zahlreiche Quellen wie Protokolle von Interviews der Autorin mit Katholiken, Briefe, Reden sowie ein Gebet und einen bewegenden Bericht der Autorin über ihren Besuch im Gefängnis «Her Majesty’s Prison Maze». Die Texte, von denen hier nur wenige vorgestellt werden können, repräsentieren besonders die arme Bevölkerung, die vor allem drangsaliert wurde und am direktesten unter dem Konflikt litt. Hausfrauen, Politiker, Pfarrer, Jugendliche und andere kommen zu Wort.
  Beeindruckend sind beispielsweise die drei Gespräche mit Father O’Bradaigh (1973). Er erläutert die Ursachen des Nordirland-Konflikts, die in einer Diskriminierung der Katholiken gründen, und des Hasses der Protestanten, die Angst vor einem Machtverlust haben. Die Katholiken waren – sowohl was Arbeitsstellen als auch den Universitätsbesuch betrifft – benachteiligt, und deswegen waren Arbeitslosigkeits- und Auswanderungsrate hoch. Es gab eine Abstimmung über die Zugehörigkeit zu Grossbritannien, die damals für die Katholiken negativ ausfiel, weil sich eine Mehrheit für das Verbleiben Nordirlands im britischen Königreich aussprach. O’Braidaigh betont, dass Nordirland zu Irland gehöre. Auf Bombenattentate der IRA in London angesprochen, äussert er seine Ablehnung; sie hätten der irischen Sache geschadet (S. 119–135).
  Gewalt von britischen Soldaten gegen Frauen und junge Mädchen kam immer wieder vor. So trägt die Mutter einer gesuchten Jugendlichen eine Augenverletzung davon; eine andere Frau wird auf offener Strasse mit einem Gewehrkolben blutig geschlagen (S. 137f.); auch vor Schlägen gegen Kinder schrecken die Soldaten nicht zurück, was grösste Verbitterung bei den Angehörigen hinterlässt (S. 149). Im Frauengefängnis Armagh spielen sich schreckliche Szenen mit Verletzungsfolgen für die Opfer ab. Männer waren in «Long Kesh» immer wieder Folterungen ausgesetzt (S. 172).
  Die Autorin sprach auch mit dem Ehepaar Hegerty, dessen Sohn während der «Operation Motorman» erschossen wurde. Er hatte keiner Organisation angehört und nur seinen Onkel besuchen wollen. Frau Hegerty und ihr Sohn hatten zuvor einen Polizisten und zwei englische Offiziere aus den Händen von katholischen Rebellen gerettet, ihr Sohn war also kein Molotowcocktail-Werfer, wie die britische Armee später behauptete. Das Ehepaar wehrt sich auch dagegen, dass alle Katholiken als Angehörige der IRA bezeichnet werden. Mrs. Hegerty schildert eindrücklich, in welchem Zustand die britischen Soldaten waren, die ins Land kamen: «Einmal war da ein britischer Soldat in unserem Garten, und mein Mann und Mr. Z standen draussen bei der Tür, als der britische Soldat plötzlich durchdrehte und anfing zu schreien: ‹Ich will gar nicht hier sein! Ich wollte nie hierher geschickt werden! Es waren diese Schweine, die uns hier rübergeschickt haben!›» (S. 166)
  Um authentisch berichten zu können, besuchte die Autorin das Camp (sie wird als Verwandte eines Gefangenen ausgegeben), das wegen der Verstösse gegen die Menschenrechte von den Iren «Her Majesty the Queen’s Concentration Camp Long Kesh» genannt wird. Folterungen sind dort keine Ausnahme. Die detaillierten Schilderungen dessen, was man bei einem solchen Besuch auf sich nimmt – die einem Verhör gleichende Befragung, das mehrmalige gründliche Abgetastet-Werden, das Herumstöbern in allen Taschen – gehen unter die Haut.
  Bewegend ist auch das Telefongespräch mit Richard Moore, der als Junge durch ein Gummigeschoss der britischen Armee das Augenlicht verlor. Er gab nie auf, lernte die Blindenschrift, besuchte das Gymnasium und ging zur Universität und studierte Sozialverwaltung, weil er Sozialarbeiter werden wollte. Von den Wiedergutmachungszahlungen der Briten kaufte er in Derry zwei Pubs, die er vierzehn Jahre lang leitete (S. 235). 1996 gründete er die Organisation «Children in Crossfire», die Partnerschaften in Ländern der Subsahara, in Südamerika und Asien (S. 237) vermittelte. Dort wird schutzlosen, hungrigen und behinderten Kindern geholfen.

Die Fotos – Ausdruck gelebter Mitmenschlichkeit

Die Fotos im Buch sind beeindruckend. Sie zeigen Kinder, die Krieg spielen, Barrikaden, britische Soldaten im Einsatz, viele einfache Bürger und gestandene Persönlichkeiten, die nicht bereit sind aufzugeben, die zusammenhalten und zuguterletzt ihren Humor nicht verlieren. So sieht man zwei Strassenkehrer bei einer Pause, die – gestützt auf ihr Arbeitsgerät – den Betrachter anlächeln, oder eine ältere Frau beim Saubermachen vor ihrer zugemauerten Haustür, die selbstbewusst in die Kamera blickt. Zahlreiche Kinderzeichnungen dokumentieren, dass die Jüngsten ständig Zeugen unvorstellbarer Gewalt sind. «Saracens [gepanzerte Mannschaftstransportfahrzeuge], Flugzeuge und Helikopter machen mir Angst!» steht unter einer eindrücklichen Zeichnung (S. 65).
  Wer das Problem des Nordirland-Konflikts verstehen will, dem sei das Buch von Titine Kriesi sehr empfohlen. Bilder, Schilderungen und Gesprächsprotokolle legen ein beredtes Zeugnis ab von der Situation der katholischen Nordiren in den siebziger Jahren. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die Autorin die Betroffenen persönlich kannte, so dass sie sich öffneten und ihre Geschichte erzählten. Wer die Texte gelesen hat und die Abbildungen auf sich wirken liess, wird sie so schnell nicht vergessen. Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung dieses Teils unserer Geschichte und zum Frieden zwischen den Konfliktparteien.  •

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK