Meine erste Auslandsreise als Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU führte mich im Oktober 1985 nach Frankreich. Ungefähr ein Jahr zuvor, im Dezember 1984, hatte ich an der Spitze einer Delegation des Obersten Sowjets der UdSSR Grossbritannien besucht. Diese beiden Reisen waren für mich Anlass, über die Rolle und die Stellung Europas in der Welt nachzudenken.
François Mitterrand sprach aus, was mir damals als Idee wichtig erschien. «Weshalb», so fragte er, «sollten wir nicht die Möglichkeit einer schrittweisen Annäherung an eine umfassendere europäische Politik in Betracht ziehen?» – Ein Jahr später erklärte er in Moskau: «Es ist notwendig, dass Europa erneut zum Handlungsträger seiner eigenen Geschichte wird, um somit in vollem Umfang seiner Rolle als Gleichgewichts- und Stabilitätsfaktor in internationalen Angelegenheiten gerecht werden zu können.» Meine Überlegungen zielten in dieselbe Richtung.
«Einige Leute im Westen versuchen,
die Sowjetunion aus Europa ‹auszuschliessen›»
Einige Leute im Westen versuchen, die Sowjetunion aus Europa «auszuschliessen». Von Zeit zu Zeit setzen sie wie aus Versehen «Europa» mit «Westeuropa» gleich.
Solche Tricks können jedoch die geographischen und historischen Gegebenheiten nicht verändern. Russlands Handel, seine kulturellen und politischen Beziehungen zu anderen europäischen Nationen und Staaten sind tief in der Geschichte verwurzelt. Wir sind Europäer. Das alte Russland war durch das Christentum mit Europa verbunden, und die Tausendjahrfeier der Christianisierung unserer Vorfahren wird 1988 kennzeichnen. Die Geschichte Russlands ist ein elementarer Bestandteil der grossen Geschichte Europas.
Unsere gemeinsame europäische Geschichte ist kompliziert und lehrreich, grossartig und tragisch zugleich. Schon seit langer Zeit sind Kriege in der Geschichte Europas die wichtigsten Meilensteine. Im 20. Jahrhundert war unser Kontinent Schauplatz zweier Weltkriege – der zerstörerischsten und blutigsten seit Menschengedenken. Unser Volk hat auf dem Altar des Befreiungskampfes gegen Hitlers Faschismus die grössten Opfer gebracht. Mehr als 20 Millionen Sowjetbürger mussten in diesem furchtbaren Krieg ihr Leben lassen. […]
«Europa ist unser gemeinsames Haus»
Europa ist unser gemeinsames Haus – diese Metapher fiel mir während einer Unterredung ein. Obgleich ich sie scheinbar ganz beiläufig aussprach, hatte ich schon lange nach so einer Formulierung gesucht. Sie kam mir nicht urplötzlich in den Sinn, sondern war die Frucht langen Nachdenkens und vor allem mancher Treffen mit vielen europäischen Regierungschefs.
Unser Kontinent hat an Kriegen und Tränen mehr als genug gehabt. Als ich die Geschichte dieser schwer geprüften Länder an mir vorüberziehen liess und über die gemeinsamen Wurzeln dieser so vielgestaltigen, doch im wesentlichen gemeinsamen europäischen Kultur nachdachte, wurden mir in zunehmendem Masse die Künstlichkeit, die zeitliche Begrenztheit der gegenwärtigen Konfrontation der Blöcke mit der veralteten Vorstellung vom «Eisernen Vorhang» bewusst.
Europa ist in der Tat ein gemeinsames Haus, da Geographie und Geschichte die Geschicke von Dutzenden von Ländern und Völkern eng miteinander verwoben haben. Natürlich hat jedes Land seine eigenen Probleme, möchte seine Eigenständigkeit bewahren und seinen eigenen Traditionen folgen. Deshalb könnte man sagen: Das Haus ist ein gemeinsames, aber jede Familie hat darin ihre eigene Wohnung, und es gibt auch verschiedene Eingänge. Doch nur gemeinsam, nach den vernünftigen Regeln der Koexistenz, können die Europäer ihr Haus erhalten, es vor Feuersbrunst und anderen Katastrophen schützen, es besser und sicherer machen.
«Vom Atlantik bis zum Ural» ist Europa ein kulturhistorisches Ganzes, vereint durch das gemeinsame Erbe der Renaissance und der Aufklärung sowie der grossen philosophischen und sozialen Lehren des 19. und 20. Jahrhunderts. Dies sind starke Magnete, die den Politikern bei ihrer Suche nach Wegen zu gegenseitiger Verständigung und Kooperation eine Hilfe sind.
Ich bin froh, dass die Idee von einem gemeinsamen europäischen Haus bei prominenten Persönlichkeiten der Politik nicht nur im Osten, sondern auch im Westen auf Verständnis stösst. So hat der bundesdeutsche Aussenminister Genscher die Bereitschaft signalisiert, «die Konzeption eines gemeinsamen europäischen Hauses zu akzeptieren und mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten, um Europa tatsächlich zu einem gemeinsamen Haus zu machen». Der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der italienische Aussenminister Giulio Andreotti und andere haben sich mir gegenüber in ähnlicher Weise geäussert. […]
«Die Geschichte verlangt von uns,
dass wir korrekt miteinander umgehen»
Die Geschichte verlangt von uns, dass wir korrekt miteinander umgehen. Stabile Beziehungen zwischen der BRD und der UdSSR wären in der Tat von historischer Bedeutung. Auch wenn die beiden deutschen Staaten innerhalb ihrer Systeme und ihrer Bündnisse ihre eigene Identität bewahren, so können sie doch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung Europas und der Welt spielen. Die Sowjetunion ist an der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland interessiert. Wenn die BRD nicht gefestigt wäre, könnte es keine Hoffnung auf Stabilität für Europa, und somit für die ganze Welt, geben. Umgekehrt würden gefestigte Beziehungen zwischen der BRD und der UdSSR die Lage Europas spürbar verbessern.
Bei Gesprächen mit ausländischen Regierungschefs frage ich manchmal ganz direkt: «Glauben Sie, dass die Sowjetunion beabsichtigt, Ihr Land und ganz Westeuropa anzugreifen?» Fast alle antworten dann: «Nein, das glauben wir nicht.» Aber einige äussern sofort Bedenken und behaupten, die blosse Tatsache der enormen militärischen Stärke der UdSSR schaffe eine potentielle Bedrohung.
Man kann derartige Argumente durchaus verstehen. Doch es ist höchste Zeit, mit den Lügen über die Aggressivität der Sowjetunion Schluss zu machen. Unser Land wird niemals, unter welchen Umständen auch immer, militärisch gegen Westeuropa vorgehen, es sei denn, wir und unsere Verbündeten werden von der Nato angegriffen.
Im Westen spricht man von Ungleichheit und Ungleichgewicht. Es stimmt, in einigen Bereichen der Rüstung und der Streitkräfte herrschen auf beiden Seiten Europas Ungleichgewicht und Asymmetrie, bedingt durch historische, geographische und andere Umstände. Wir sind dafür, solche Ungleichheiten zu beseitigen, aber nicht, indem diejenigen, die hinter den anderen zurück sind, aufrüsten, sondern indem diejenigen, die einen Vorsprung haben, ihr Potential abbauen.
Auf diesem Gebiet gibt es eine Menge spezifischer Probleme, die darauf warten, gelöst zu werden: der Abbau und schliesslich die Beseitigung der taktischen Atomwaffen, verbunden mit einem drastischen Abbau aller Streitkräfte und der konventionellen Waffen, der Rückzug von Angriffswaffen, um die Möglichkeit eines Überraschungs-angriffs auszuschalten, eine Veränderung in der Gesamtstruktur der Streitkräfte mit dem Zweck, den Armeen ausschliesslich Verteidigungscharakter zu verleihen.
Die Rüstung reduzieren
Wir glauben, dass die Rüstung auf ein vernünftiges, das heisst, auf ein für Verteidigungszwecke notwendiges Mass reduziert werden sollte. Es ist an der Zeit, dass die beiden militärischen Bündnisse ihre strategischen Konzepte ändern, um sie mehr auf die Ziele der Verteidigung auszurichten. Jede Wohnung innerhalb des europäischen Hauses hat das Recht, sich vor Einbrechern zu schützen, doch dabei darf das Eigentum des Nachbarn nicht angetastet werden.
Wir können erste Anzeichen dafür erkennen, dass sich in Westeuropa eine neue Perspektive in der Betrachtung internationaler Angelegenheiten entwickelt. Auch in Regierungskreisen verändert sich das Denken. Viele sozialistische und sozialdemokratische Parteien sind dabei, neue Standpunkte zur Verteidigungs- und Sicherheitspolitik auszuarbeiten.
Ich habe den Rat der Sozialistischen Internationale unter Leitung von Kalevi Sorsa empfangen und mich mit Willy Brandt, Egon Bahr, Felipe González und anderen führenden Sozialdemokraten getroffen. Jedes Mal merkten wir, dass unsere Ansichten zu kritischen Fragen der internationalen Sicherheit und der Abrüstung ähnlich oder sogar gleich waren. […]
Dennoch bin ich der Meinung, dass der Beitrag Europas zu Frieden und Sicherheit viel grösser sein könnte. Vielen westeuropäischen Regierungschefs mangelt es an politischem Willen und vielleicht auch an Möglichkeiten. Es ist bedauerlich, wenn die Regierungen der Nato-Länder, diejenigen eingeschlossen, die sich ausdrücklich von den gefährlichen Extremen der amerikanischen Politik distanzieren, schliesslich dem Druck nachgeben und auf diese Weise Verantwortung mit übernehmen für die Ausweitung des Rüstungswettlaufs und der internationalen Spannungen.
«Manchmal hat man den Eindruck,
dass die unabhängige Politik der Staaten Westeuropas ‹entführt› worden ist»
Es gibt eine alte griechische Sage von der Entführung der Europa. Dieses Thema ist heute mit einem Mal sehr aktuell geworden. Manchmal hat man den Eindruck, dass die unabhängige Politik der Staaten Westeuropas «entführt» und über den grossen Teich gebracht worden ist; die nationalen Interessen werden verpachtet unter dem Vorwand, damit die Sicherheit zu schützen.
Auch über der europäischen Kultur schwebt eine ernsthafte Gefahr. Diese Bedrohung geht von einer «Massenkultur» aus, die über den Atlantik kommt. […]
Man kann sich in der Tat nur wundern, dass eine starke, intelligente und von Natur aus humanistische Kultur wie die europäische zurückweicht vor dem primitiven Trubel von Gewalt und Pornographie und der Flut von billigen Gefühlen und niedrigen Gedanken aus Amerika.
Wenn wir auf die Bedeutung einer unabhängigen Haltung Europas hinweisen, wirft man uns häufig vor, wir wollten Westeuropa und die Vereinigten Staaten entzweien. Wir hatten nie diese Absicht. Wir sind weit davon entfernt, die historischen Bindungen zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten zu ignorieren oder zu schmälern. Es ist absurd, die europäische Linie der sowjetischen Aussenpolitik als einen Ausdruck von «Anti-Amerikanismus» zu deuten. Natürlich hätten wir es nicht gern, wenn jemand die Türen des europäischen Hauses einträte und in irgendeiner Wohnung am oberen Ende des Tisches Platz nähme. Doch das ist Sache des jeweiligen Wohnungseigentümers. […]
«Die Aussenpolitik der Vereinigten Staaten
beruht auf mindestens zwei Irrtümern»
Die Aussenpolitik der Vereinigten Staaten beruht auf mindestens zwei Irrtümern. Der erste ist die Annahme, dass das wirtschaftliche System der Sowjetunion dabei sei, zusammenzubrechen. Der zweite Irrtum besteht darin, an die westliche Überlegenheit im Bereich der Technik und der Technologie – nicht zuletzt auf militärischem Gebiet – zu glauben. Diese Illusionen bestärken eine Politik, die darauf ausgerichtet ist, den Sozialismus mit Hilfe des Wettrüstens zu schwächen, um ihn später beherrschen zu können. Das ist der Plan; er ist naiv. Die USA hegen noch immer die Hoffnung, für alle Zeiten die Führungsmacht der ganzen Welt zu sein: eine vergebliche Hoffnung, wie viele amerikanische Wissenschaftler bereits erkannt haben. […]
Wir wollen, dass im heraufziehenden 21. Jahrhundert überall in der Welt Freiheit herrscht. Wir wollen, dass sich ein friedlicher Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen entfalten kann, dass eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit, nicht Konfrontation und Wettrüsten die Beziehungen der Staaten bestimmen. Wir wollen, dass die Menschen eines jeden Landes Wohlstand, Glück und Zufriedenheit geniessen können.
Der Weg dorthin führt über eine atomwaffenfreie, eine gewaltfreie Welt. Wir haben diesen Weg eingeschlagen, und wir fordern andere Länder und Nationen auf, dasselbe zu tun. •
von Karl-Jürgen Müller
«Ich verneige mich vor einem grossen Staatsmann. Deutschland bleibt ihm verbunden, in Dankbarkeit für seinen entscheidenden Beitrag zur deutschen Einheit, in Respekt für seinen Mut zur demokratischen Öffnung und zum Brückenschlag zwischen Ost und West und in Erinnerung an seine grosse Vision von einem gemeinsamen und friedlichen Haus Europa.» So schrieb der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 30. August 2022 anlässlich des Todes von Michail Gorbatschow, des ehemaligen Generalsekretärs des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und Präsidenten des Landes. Steinmeier trug damit dem hohen Ansehen Rechnung, das Gorbatschow in der Erinnerung vieler Deutscher nach wie vor geniesst.
Aber sehr wahrscheinlich hat es der Bundespräsident selbst mit seinen Worten nicht wirklich ernst gemeint. Denn seine weiteren «Beileidsworte» waren keine Würdigung mehr, sondern eine Instrumentalisierung des Todes von Gorbatschow für einen Hieb gegen das heutige Russland: «Wer ihn in den letzten Jahren erlebt hat, konnte spüren, wie sehr er daran litt, dass dieser Traum in immer weitere Ferne rückte. Heute liegt der Traum in Trümmern, zerstört durch den brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine.»
In Tat und Wahrheit war Gorbatschows Vision eines «gemeinsamen europäischen Hauses» – bis auf wenige Episoden – von EU-europäischer, von deutscher Seite niemals ernsthaft und nachhaltig aufgegriffen worden. Anders als die Worte des deutschen Bundespräsidenten Glauben machen könnten, hat EU-Europa, hat Deutschland in den vergangenen 30 Jahren kräftig mit dazu beigetragen, dass Gorbatschows «Traum» nicht erst seit Februar 2022 in Trümmern liegt. Die Unterordnung EU-Europas und Deutschlands unter die Vereinigten Staaten und deren Pläne für eine unipolare Welt mit US-amerikanischer Vorherrschaft haben diesen «Traum» schon viel früher zur Makulatur werden lassen.
Der hier abgedruckte Text von Michail Gorbatschow ist 35 Jahre alt. Heute erscheint er wie ein Dokument aus einer lang vergangenen Zeit. Dabei ist er auch heute wieder, 35 Jahre später, aktuell und zukunftsweisend. Er erinnert daran, was von russischer Seite her 35 Jahre lang möglich gewesen wäre – wenn Europa, wenn Deutschland einen eigenständigen Weg in der Weltpolitik gesucht und gefunden hätte.
Gorbatschows Text ist aber nicht nur als Erinnerung an mehr als 30 Jahre verfehlter EU-europäischer und deutscher Aussenpolitik wichtig. Dieser Text formuliert auch zentrale Aufgaben Europas für die Zeit nach dem jetzigen Krieg und der erneuten Spaltung des Kontinents. Nach Trümmern muss es auch einen Wiederaufbau geben. Das betrifft vor allem die Beziehungen Europas und Deutschlands zu Russland. Die Worte Gorbatschows hierzu könnten auch heute ausgesprochen werden. Und die Frage stellt sich wirklich: Warum hält EU-Europa, hält Deutschland fanatischer als je zuvor an seiner selbstzerstörerischen Politik gegen Russland fest, an einer Politik sich immer weiter radikalisierender Konfrontation und Kriegspropaganda? Eine Politik, die gegenwärtig alle Türen zum Frieden in Europa zuschlägt.
Jüngstes Beispiel dafür ist die Hungertod-Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 30. November 2022. Nicht nur, weil der Deutsche Bundestag mit der Mehrheit von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen diesem Entschlussantrag zugestimmt und auf sachlich fragwürdige Art und Weise in die Aufgaben der Wissenschaften eingegriffen hat: Das Parlament hat den – auch von der damaligen sowjetischen Politik zu verantwortenden – Hungertod von ein paar Millionen Menschen in der gesamten Sowjetunion in den Jahren 1931–1933 als gezielten Völkermord an den Ukrainern gedeutet. – Sondern vor allem, weil dieser Entschlussantrag erneut ausdrücklich gegen das heutige Russland gerichtet ist und der aus den USA kommenden Propagandaformel folgt (Anne Applebaum, Timothy Snyder und andere), Stalin und den heutigen russischen Präsidenten Putin gleichzusetzen.
Wo sind die gewichtigen Stimmen aus EU-Europa, aus Deutschland, die sich dafür einsetzen, den Krieg in der Ukraine zu beenden? Und zwar nicht mit immer mehr Eskalation, nicht mit immer mehr Waffenlieferungen und direkter Kriegsbeteiligung, nicht mit einem Krieg «bis zum letzten Ukrainer», sondern mit der Forderung nach ernsthaften Friedensverhandlungen, die von der Achtung vor dem Willen und dem Leiden der betroffenen Menschen in der Ukraine und in Russland sowie der berechtigten Sicherheitsinteressen aller am Konflikt beteiligten Staaten getragen sind!
Es gibt ein paar wenige Ausnahmen. Eine davon ist der ehemalige Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr und hochrangige Nato-General Harald Kujat. Er hat in den vergangenen Monaten immer wieder die Nato-Propaganda über den Kriegsverlauf in der Ukraine entlarvt und nach ernsthaften Friedensverhandlungen gerufen, so erneut in einem Interview mit dem Fernsehsender n-tv (siehe Kasten).1
In der nach wie vor formal gültigen Charta von Paris vom November 1990, die alle KSZE-Staaten, also auch EU-Europa, die damalige Sowjetunion und die USA, unterzeichnet haben, heisst es: «Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. […] Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.» Das ist mehr als nur ein «Traum», das ist eine Verpflichtung, die auch künftig gilt. Diese Pflicht schliesst die Aufgabe ganz Europas – und dazu gehört auch Russland – mit ein, die erneute Spaltung Europas, die die USA spätestens seit den Jugoslawien-Kriegen der neunziger Jahre aktiv betrieben haben2, nicht das letzte Wort sein zu lassen.
1 https://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Alte-Sowjet-Systeme-im-Einsatz-Haelt-Russland-strategisches-Potenzial-zurueck-article23748244.html vom 28.11.2022
2 vgl. den Brief des damaligen Vizepräsidenten der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Willy Wimmer, an Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 2.5.2000; https://www.perseus.ch/PDF-Dateien/bracher-wimmer.pdf
Auszüge aus einem Interview des Fernsehsenders n-tv mit Harald Kujat*
n-tv: Manche Experten erwecken den Eindruck, dass Russland in einer geschwächten Lage sei. Der Verteidigungsminister von Estland hat aber jetzt gesagt, dass sich nach neun Monaten Krieg die Situation für Russland eigentlich gar nicht gross verändert habe und auch die Luftwaffe noch ähnlich gross ist wie vorher. Wie sehen Sie das?
Harald Kujat: Das sehe ich genauso. Russland hat einfach am Anfang über ein sehr grosses Potential verfügt, hat natürlich auch erhebliche Verluste erlitten, aber das, was unsere sogenannten Experten uns erklären, dass Russland sozusagen fast am Ende ist – und jeden Tag wird schon der Sieg der Ukraine gefeiert –, das ist natürlich alles Unsinn. Russland verfügt über ein enormes Potential und hat von diesem Potential immer nur einen bestimmten Prozentsatz in diesem Krieg eingesetzt. Das muss man immer wieder sehen, und ausserdem verfügt Russland personell natürlich über enorme Ressourcen, die es aktivieren kann, aber auch materiell über erhebliche Kapazitäten. […]
[Glauben] Sie wirklich, dass es jemanden gibt, der mit Russland verhandeln will oder der auch daran glaubt, dass die Russen das, was sie dann vielleicht in solchen Verhandlungen unterschreiben werden, dann auch einhalten?
Wir haben ja ein Beispiel dafür, dass Russland bereit war zu verhandeln, auch dazu, Zugeständnisse zu machen an die Ukraine. Diese Zugeständnisse gingen sogar so weit, dass Russland bereit war, seine Präsenz in der Ukraine auf den Stand vom 23. Februar [2022] zurückzuziehen. Wir wissen heute, dass diese greifbare Vereinbarung, die im übrigen auf einem Vorschlag der ukrainischen Regierung beruhte, den Russland dann in einen Vertragsentwurf umgearbeitet hat, dass diese Vereinbarung nicht zustande kam, weil hier der Westen, und zwar in der Person des damaligen britischen Premierminister Johnson, interveniert hat. Lassen Sie mich vielleicht noch anfügen: Gerade die gegenwärtige Situation ruft ja eigentlich danach, sich wieder an den Verhandlungstisch zu begeben zwischen beiden Seiten. Hier müsste natürlich zunächst von den Vereinigten Staaten Druck auf die Ukraine ausgeübt werden, dass sie tatsächlich diese Bereitschaft erklärt, und der amerikanische Generalstabschef General Milley hat ja gerade vor wenigen Tagen mehrfach dazu aufgerufen, diese gegenwärtige militärische Lage, in der die Ukraine keine weiteren Fortschritte erzielen kann, also den Krieg auch nicht gewinnen kann, dazu zu nutzen, diesen Krieg zu beenden. […]
[Wir] müssen uns langsam klar darüber werden, wo die Grenzen unserer [deutschen] Beteiligung an diesem Konflikt liegen. Unser Grundgesetz enthält schon in der Präambel das Friedensgebot für Deutschland. Jede Kriegsbeteiligung oder jede Unterstützung einer Kriegspartei muss immer darauf gerichtet sein, am Ende zu einer friedlichen Lösung zu kommen. Das ist das Gebot des Grundgesetzes. Ich erwarte deshalb auch von der Bundesregierung, dass sie der Bevölkerung einmal klarmacht, wo die Grenzen dessen liegen, was sie unterstützt und was sie nicht unterstützt […]. Wie weit wollen wir gehen? Wenn ich beispielsweise höre, dass gesagt wird, wir werden die Ukraine unterstützen, solange es nötig ist. Was heisst das denn? Das heisst doch, dass wir die Entscheidung darüber, wie lange und in welchem Masse wir die Ukraine unterstützen, an die Ukraine abtreten. Ein Teil unserer Staatsgewalt wird auf die Ukraine übertragen. Das kann doch nicht das Ziel deutscher Politik sein, vor allen Dingen nicht im Einklang mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes.
Quelle: Sprachlich leicht überarbeitetes Transskript der Sendung https://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Alte-Sowjet-Systeme-im-Einsatz-Haelt-Russland-strategisches-Potenzial-zurueck-article23748244.html vom 28.11.2022
* Harald Kujat ist ein deutscher General a. D. der Luftwaffe. Er war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.
von Rafael Poch, Barcelona*
Kein einziger deutscher Politiker nahm an Gorbatschows Beerdigung in Moskau am 3. September teil. Gorbatschow, der Architekt der Öffnung der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung, hat offenbar nicht einmal eine solche Geste verdient.
Die Teilnahme an der Beerdigung hätte daran erinnert, dass die beiden Länder vor nicht allzu langer Zeit über Angelegenheiten verhandelt hatten, die von grosser Bedeutung für den Kontinent waren. Sie wäre auch ein Zeichen an diejenigen Teile der russischen Gesellschaft gewesen, die von der EU mit Sanktionen, Visa-beschränkungen, kultureller Zensur und Besuchsverboten kollektiv für das Vorgehen ihrer Regierung bestraft werden. Dies ist der endgültige Beweis dafür, dass Deutschland auf jegliche Diplomatie verzichtet.
Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die routinierte Verwalterin des Geschehens und von den Medien zur grossen staatsmännischen Politikerin Europas hochstilisiert, berief sich auf ein «Knieproblem», um nicht erscheinen zu müssen. Die anderen haben nicht einmal eine Entschuldigung vorgebracht. Wirklich ein Armutszeugnis und eine nationale Schande. Ohne Gorbatschow wären wir vielleicht immer noch in der «Bonner Republik», jenem Deutschland, das wir so sehr liebten, dass wir froh waren, dass es sogar zwei davon gab, wie man zu sagen pflegte.
Es ist offensichtlich, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam die Situation in Europa vom Diktat der Vereinigten Staaten wegführen könnten, aber es fehlt der Wille dazu. Macron beschränkt sich auf hilfloses Getöse. Ein so angesehener «Europäer» wie Wolfgang Schäuble, der «Doktor Strangelove» der Bestrafung Griechenlands, schlägt so weit hergeholte Ideen vor wie die Einbeziehung Polens in die marode deutsch-französische Kommandobrücke. Die hartnäckigen Bemühungen Ursula von der Leyens und der dummdreisten, kriegswütigen und arroganten Aussenministerin Annalena Baerbock, Waffen und noch mehr Waffen an das ukrainische Regime zu liefern, um den Krieg und damit das Leiden der Zivilbevölkerung in der Ukraine, in Russland und in Europa selbst bis in alle Ewigkeit fortzuführen, verlangen nach einem Besuch bei einem Psychoanalytiker. […]
Ist in der Russophobie der deutschen Medien und der politischen Klasse nach der Wiedervereinigung nicht ein revanchistisches Echo auf die in Stalingrad besiegten Grossväter zu finden? Wie sonst ist die Begeisterung Deutschlands zu erklären, seinen eigenen Interessen zu schaden, und sie den wahnwitzigen Plänen der Vereinigten Staaten unterzuordnen – China, seinem wichtigsten Handelspartner, einen Stoss zu versetzen, indem es den Krieg in der Ukraine vorantreibt? •
Quelle: https://ctxt.es/es/20220901/Firmas/40818/Rafael-Poch-Gorbachov-Rusia-Ucrania-Estados-Unidos-Jarkov.htm vom 18.9.2022
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Rafael Poch-de-Feliu war jahrzehntelang als Auslandskorrespondent für die spanische Zeitung «La Vanguardia» tätig, von 1988 bis 2002 in Moskau, von 2002 bis 2008 in Peking und anschliessend in Berlin und Paris. Er ist Autor mehrerer Bücher zur politischen Entwicklung in Russland, China und Deutschland.
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.