von Dr. Eliane Perret, Heilpädagogin und Psychologin
«In der Schweiz können die Menschen viel mehr mitbestimmen als bei uns zu Hause», stellte vor einigen Jahren Mario, ein ursprünglich aus Sizilien stammender Jugendlicher, fest, nachdem wir im Geschichtsunterricht auch über das politische System der Schweiz und die Mitbestimmungsmöglichkeiten diskutiert hatten. Er hielt damit kurz und bündig das Einmalige an der direkten Demokratie der Schweiz mit ihrem föderalen Aufbau und der subsidiären Aufgabenteilung fest: die gemeinsame Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger als Grundlage eines gleichwertigen Zusammenlebens im Rahmen unseres Rechtstaates. Dazu gehört der Anspruch auf die Einhaltung der in der Verfassung verankerten Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, das allgemeine Stimm- und Wahlrecht, die Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit sowie das Recht auf Bildung.1
Ob das wohl alle vom Volk gewählten Parlamentarier als Leitplanken ihres Handelns nach wie vor bei sich haben, fragte ich mich im stillen? Marios Feststellung zur direkten Demokratie machte mir einmal mehr bewusst, dass der Volksschule und mir als Lehrerin die wichtige Rolle zufiel, den Kindern die Wertschätzung des politischen Systems und des Landes, in dem sie lebten, zu vermitteln, denn es war in kleinen Schritten von vorangehenden Generationen geschaffen worden. Mario und auch die anderen Kinder sollten, da war ich mir sicher, die Schule mit einem Bildungsrucksack verlassen, in dem das Rüstzeug mündiger Staatsbürger reichlich vorhanden war. Dazu gehören nicht nur der sichere Umgang mit den Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch die menschliche Bildung, die es braucht, damit unsere direkte Demokratie lebendig bleiben und funktionieren kann: Sie braucht aktive Bürger, die ihre Rechte und Pflichten verantwortungsvoll wahrnehmen können.
Eine Aufgabe, die ansteht
In Vergessenheit geraten ist in den letzten Jahren nur allzu leicht, wieviel Aufbauarbeit verantwortungsbewusste, ehrliche und weitsichtige Persönlichkeiten geleistet haben, um in unserem Land eine auf einer demokratischen Verfassung beruhende Volksschule zu schaffen – mit Bildungsinhalten, die auf die Gegebenheiten unseres Landes abgestimmt sind. Daran zu erinnern scheint mir heute um so wichtiger, da die Errungenschaften der Demokratie und der Volksbildung und die damit verbundene Aufgabe der Volksschule nur noch am Rande zu den an einem globalisierten Curriculum orientierten Ausbildungsinhalten von pädagogischen Hochschulen und den Lehrplänen der Volksschule gehören (siehe unten). Das ist ein schwerwiegender Vorgang, denn er unterminiert das Zusammenleben in unserer direkten Demokratie. Um das zu korrigieren, steht eine längst fällige Aufgabe an. Wer willens ist – historisch sorgfältig dokumentiertes Material würde zur Genüge zur Verfügung stehen!2
Direkte Demokratie ist keine Folklore
Was uns heute selbstverständlich scheint, ist Resultat fast zweihundertjähriger Bemühungen, allen Kindern den regelmässigen Schulbesuch und damit den Erwerb von Bildung zugänglich zu machen. Die Erkenntnis, dass sich ein Mensch ohne Bildung nicht seiner Natur gemäss entwickeln kann, war ein Resultat des Humanismus und der Aufklärung. Schon früh wurde deshalb die Bedeutung der Bildung für alle als Grundpfeiler eines demokratischen Staates erkannt. Die Begründer der demokratischen Verfassung der Schweiz richteten ihr Augenmerk auf den Aufbau einer Volksschule für alle, unabhängig von Geschlecht, Religion und sozialer Schicht; als Modell des Zusammenlebens in unserem Land. Demokratie und direkte Demokratie im speziellen, so ihre nach wie vor gültige Annahme (!), setzt einen gewissen Bildungsstand voraus, verbunden mit der Verwurzelung in der eigenen Kultur und den ihr eigenen Werten. Nur so können aktuell anstehende Fragestellungen in ihrer Tragweite erfasst, in einem grösseren Kontext durchgedacht und in Ruhe erörtert werden, so dass fundierte Antworten und Lösungsansätze resultieren. Und das ist die Aufgabe unserer Volksschule, denn solchermassen gebildete Menschen sind fähig, ihre politischen Rechte wahrzunehmen und am politischen Zeitgeschehen mitzuwirken.
Was uns also vorangehende Generationen als «Geschenk» (und Aufgabe!) hinterlassen haben, darf heute nicht zunehmend zu Folklore verkommen, die durch Geld, Macht und Manipulation bestimmt ist und wo sich die Menschen letztlich resigniert vom politischen Leben abwenden, weil «die da oben sowieso machen, was sie wollen». Vielleicht auch, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass aktuelle und frühere (Bildungs-) Politiker den Volkswillen mit Heerscharen von PR-Fachleuten und Spin-doctors zu steuern versuchen?
Aufbauend auf dem personalen Menschenbild
Die Entwicklung unserer Volksschule war eng verknüpft mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen.3 Ein Rückblick auf deren bald zweihundertjährige Entstehungsgeschichte zeigt, dass die Bildungsziele mit dem weiteren Ausbau der Demokratie verbunden waren. Dazu kamen wissenschaftlich erhärtete Erkenntnisse aus Pädagogik und Psychologie, die laufend einbezogen wurden, um allfällige Fehlentwicklungen zu korrigieren. So war die Volksschule – entgegen anderslautenden Propagandafloskeln – stets am Puls der Zeit, bevor ohne sachliche Not eine Reformkaskade einsetzte, die unserer Volksschule eine Neuorientierung geben sollte. Zuvor war für diese lange Zeit positiver Entwicklung die Orientierung an humanistischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen grundlegend, in Verbindung mit einem personalen Menschenbild, wonach der Mensch ein Beziehungswesen ist, ausgestattet mit einer sozialen Natur und fähig zu Vernunft und Ethik. (Erkenntnisse, die im übrigen durch neue, gut abgesicherte entwicklungspsychologische Forschungen bestätigt sind und dringend in die Ausbildungskonzepte angehender Lehrer einfliessen sollten!4) Aus dieser Perspektive beginnt die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes in seinen ersten Lebensstunden mit dem Aufbau vertrauensvoller Beziehungen und der seelischen Verankerung in seinem familiären Umfeld. In einem stetigen Prozess werden die Grundlagen für ein inneres Wertesystem gelegt. Diese Aufbauarbeit soll – wie in Bildungsartikeln verschiedener Kantone festgehalten – in der Schule fortgesetzt und wo nötig ergänzt werden. So können in ihrer Persönlichkeit sichere Kinder heranwachsen, die fähig sind, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, belastende Lebenssituationen zu meistern, die sich gerne engagieren und Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen, wie es zur direkten Demokratie gehört.
Paradigmenwechsel auf leisen Sohlen
Die personale Auffassung des Kindes und die darauf aufbauenden methodischen Konzepte wurden bis in die 1980er Jahre in den Ausbildungsstätten für angehende Lehrpersonen gelehrt und praktiziert. Mit einer solchermassen ausgerichteten didaktischen, pädagogischen und psychologischen Ausbildung erhielten die angehenden Berufsleute ein Werkzeug zur Gestaltung ihres pädagogischen Alltags. Es bildete das Fundament zur Erfüllung des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags, der seinen Namen verdient und emotionale und intellektuelle Grundlagen für das Zusammenleben in der Demokratie einschliesst.
Auf leisen Sohlen erfolgte in den kommenden Jahren ein Paradigmenwechsel vom personalen Menschenbild hin zu einer biologistischen, mechanistischen Auffassung, die eine ganzheitliche Betrachtungsweise verneint und momentan vor allem durch neurowissenschaftliche Strömungen dominiert ist. Damit einher ging die Entwertung bisheriger Grundlagen der Pädagogik, die den aktuellen Modeströmungen nicht folgen.
Ideologische Verirrungen
Eingebettet war diese Entwicklung in gesellschaftliche Vorgänge, welche die Nationalstaaten und damit auch die Schweiz und ihre immerwährende, bewaffnete Neutralität ins Fadenkreuz nahmen. Sie erhielt Sukkurs von der in der 68er Bewegung hängengebliebenen Kulturszene, die sich nicht entblödete, an der Weltausstellung 1991 mit dem Slogan «700 Jahre sind genug» die Berechtigung des schweizerischen direktdemokratischen Systems und der Schweiz als eigenständige Nation in Frage zu stellen. Sie hatten offensichtlich auch keine Hemmungen, sich bei ihrer Negierung der Schweiz mit dem neoliberalen Grosskapital zusammenzutun, welches sein Geld grenzenlos strömen lassen möchte … und dazu auch nach den finanziellen Reserven der Schweiz trachtet.
Diese gesellschaftlichen Verirrungen (sie können hier nicht im Detail ausgeleuchtet werden) und Konzepte wirkten sich selbstverständlich auch auf die Ausbildungsinhalte der neu gegründeten Pädagogischen Hochschulen aus, denn viele Dozenten waren auf ihrem «Marsch durch die Institutionen» dort und an den Universitäten angekommen oder hatten einen Abstecher über den grossen Teich gemacht.
Die vor mehr als dreissig Jahren einsetzenden Reformen an unserer Schule geschahen vor diesem ideologischen Hintergrund gegen den Willen der allermeisten Lehrkräfte und gegen den Willen der Eltern. Pro memoria: Bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts – vor der Reformwelle – war den Schweizer Schulen im internationalen Vergleich stets eine sehr hohe Qualität attestiert worden. Schon vergessen? Die Volksschule sei gut im demokratischen System unseres Landes verankert, wurde ihr attestiert. Auch schon vergessen? Die seither neu erstellten Lehrpläne sind dagegen nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich von den oben beschriebenen politischen Zielsetzungen geprägt. So hat das Fach «Schweizer Geschichte» mittlerweile seine Eigenständigkeit verloren und führt ein Mauerblümchendasein. Nach den Vorgaben des Lehrplan 21 geht es für die Kinder in der Mittelstufe nicht mehr darum, die Geschichte unseres Landes (oder Gastlandes) kennenzulernen und sich mit dessen Werten zu identifizieren, sondern sie sollen «kompetent» werden «…Geschichte und Geschichten voneinander [zu] unterscheiden»5 (LP21) und dabei «die Absichten von Sagen und Mythen erklären (z. B. Sage von Wilhelm Tell)» oder «den Gebrauch von Sagen und Mythen in der aktuellen Gegenwart kritisch reflektieren und deren Verwendung in der politischen Diskussion erkennen». Mutet das nicht sehr kühl und emotionslos an? Wie soll da der Wunsch entstehen, sich mit Stolz für die Belange des eigenen Landes einzusetzen?
Zurück zu Mario
«In der Schweiz können die Menschen viel mehr mitbestimmen als bei uns zu Hause», hatte Mario gesagt. Ja, wenn wir das über Generationen Errungene erhalten und der heranwachsenden Generation weitergeben. Wenn wir selbst das feine Regelwerk der Demokratie schätzen, mit dem die Grundlagen gelegt werden zu einem gleichwertigen Zusammenleben der Menschen, die das Geschick unseres Landes «von unten her» aktiv mitgestalten können. Ein einzigartiges Modell weltweit! Dazu brauchen wir eine gebildete Jugend. Sie darf nicht um ihren Bildungsweg betrogen werden durch falsche Theorien und Ideologien, die den Einblick in die Geschichte unserer Kultur zum beliebigen Narrativ erklären. Denn es gibt keine global auswechselbaren Bildungsinhalte (auch wenn das für die Bildungskonzerne lukrativ wäre), sondern sie müssen abgestimmt sein auf die Gegebenheiten und Bedürfnisse des jeweiligen Landes – bei uns auf die politische Kultur der direkten Demokratie. Die Absichten, die zur Gründung der Volksschule geführt haben, sind deshalb nach wie vor aktuell. Das müssen wir, wie jede vorangegangene Generation, erneut durchdenken und entscheiden, wie unser Bildungssystem ausgestaltet sein soll. Dazu gehört, sich Demokratie als Lebenseinstellung zu eigen zu machen.
Was sollten wir sonst Mario sagen? •
1 vgl. Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM (Hrsg.). (1995). Erziehung zum mündigen Mitbürger. Die Bedeutung der Schule für die Demokratie. Zürich, Verlag Menschenkenntnis. S. 9
2 Zum Beispiel: Erziehungsrat des Kantons Zürich. (Hrsg.). (1933). Volksschule und Lehrerbildung 1832–1932. Festschrift zur Jahrhundertfeier. Zürich: Verlag der Erziehungsdirektion oder auch: Tagungsbände Forschungsinstitut direkte Demokratie, René Roca. www.fidd.ch
3 Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM (Hrsg.). (1995). Erziehung zum mündigen Mitbürger. Die Bedeutung der Schule für die Demokratie. Zürich, Verlag Menschenkenntnis
4 vgl. Kissling, Beat. (2022). Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung. Bern: Hogrefe. S. 109–162
5 Lehrplan Volksschule des Kantons Zürich, NMG 9.4. https://zh.lehrplan.ch/index.php?code=a|6|1|9|0|4
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