«Die Krim in Zeiten des Umbruchs»

von Christian Fischer, Köln

Die Schlagzeilen, die eine russische Aggressionsgefahr beschwören, sind allgegenwärtig. Basis der Gefahrenmeldungen ist – abgesehen von aktuellen Meldungen über Truppenaufmärsche in Russland (siehe hierzu Zeit-Fragen Nr. 28/29 vom 14. Dezember 2021) – die Falschbehauptung, Russland habe im Frühjahr 2014 die Halbinsel Krim «annektiert». Diese soll als Beleg dafür herhalten, dass Russland expansiv fremde Länder überfällt und sich einverleibt. In welchem geschichtlichen Zusammenhang die Vorgänge um die Krim stehen und welche Akteure welche Handlungen begangen haben, ist kaum Gegenstand der Betrachtung. Es würde auch schlecht zu dem Narrativ passen, dass hier eine russische Eroberungslust beispielhaft am Werk war. Da ist es eine wohltuende Aufklärungsarbeit, die Rüdiger Kipke mit seinem Buch «Die Krim in Zeiten des Umbruchs. 1920–2014» leistet.

Rüdiger Kipke, Jurist, Politologe und Slawist, emeritierter Professor an der Universität Siegen, hat ein schmales, aber sehr dicht mit historischen Quellen fundiertes Buch geschrieben, welches die politische Geschichte der Krim von 1920 bis 2014 beleuchtet und ein anderes Licht auf die Ereignisse wirft, als es unsere Medien normalerweise vermitteln. Es wird im folgenden zusammengefasst:
  Wenig bekannt ist uns, dass die Krim vielen traditionellen Russen deshalb als fast «heilig» gilt, weil von hier aus seit dem 10. Jahrhundert die Christianisierung des grossen Landes begann. Die besondere Bedeutung der Krim für viele Russen weist darauf hin, dass aus einer Wieder-Eingliederung dieses Stückes Land nicht auf umfassende Eroberungspläne Russlands geschlossen werden darf, wie das weitherum getan wird.
  Nach der Oktoberrevolution wurde die Krim 1921 zur Sozialistischen Sowjetrepublik und blieb bis 1928 relativ autonom. Die grosse Hungersnot, die Anfang der 1930er Jahre von der Stalinschen Kollektivierung ausgelöst wurde, hatte hier nicht ganz so starke Auswirkungen wie in der nördlichen Ukraine; es fand auch eine Industrialisierung statt, und die Bevölkerung wuchs. Die Bevölkerung war schon lange multiethnisch und bestand aus Russen, Ukrainern, Krimtataren und Minderheiten wie Juden und Deutschen. Die Russen wurden von Stalin mit beinahe rassistischen Begründungen bevorzugt.
  Den in der Sowjetunion lebenden Juden wurde in den 1920er Jahren eigenes Land auf der Krim gegeben, allerdings schlechtes, so dass viele nicht lange blieben. Völlig unerwartet wurde ihnen wenig später ein autonomes Gebiet im sowjetischen Fernen Osten zugewiesen. Ein erneuter Versuch im Zweiten Weltkrieg, eine jüdische Heimstätte auf der Krim zu schaffen, endete für viele ihrer Protagonisten mit der Hinrichtung.
  Ab September 1941 drang die Wehrmacht auf die Krim vor und besetzte sie. Teile der Bevölkerung kollaborierten mit den Deutschen, vor allem Krimtataren, weil sie sich Hilfe gegen die sowjetrussische Unterdrückung erhofften. Hitlers Plan war es, das Gebiet zu germanisieren und als «Gotengau» dem Grossdeutschen Reich anzugliedern. Als 1944 die Rote Armee die Krim zurückeroberte, wurden die Krimtataren nach Usbekistan deportiert, auch die, die keine Nazi-Kollaborateure waren. Seit 1945 hat die Krim auch offiziell den Autonomie-Status innerhalb der Sowjetunion verloren. Die Krimtataren wurden 1967 «rehabilitiert», was praktisch aber nichts bedeutete; erst 1989 wurde ihre Umsiedlung als verbrecherisch eingestuft, und sie konnten auf die Krim zurückkehren – allerdings in ein Land, in dem sich die Verhältnisse längst zu ihren Ungunsten verändert hatten. Im Jahre 1991 wurde die Ukraine, und damit auch die Krim, unabhängig. Mit dieser Entwicklung waren grosse Teile der auf der Halbinsel lebenden Menschen unzufrieden.
  Die Krim war 1954 der ukrainischen Sowjetrepublik von der Moskauer Führung «geschenkt» worden, was ohne grosses Aufsehen geschah, ohne praktische Folgen innerhalb des Wirtschaftsraumes der Sowjetunion blieb und bis heute auch keine klare Begründung hat. Es mag eine Rolle gespielt haben, dass der aufstrebende KP-Chef Chruschtschow ukrainische Unterstützung zur Festigung seiner Macht brauchte, dass er die Bindung zwischen Ukrainischer und Russischer Sowjetrepublik festigen wollte und am liebsten auch Teile der Slowakei und Polens der Ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen hätte.
  Am Ende der Ära Gorbatschow erklärte das russische Parlament bereits 1990 die Übertragung der Krim an die Ukraine für verfassungswidrig, was nach damaligem sowjetischen Recht tatsächlich stimmte, aber zunächst nicht weiter beachtet wurde, da man nach dem Ende der Sowjetunion überall im Land andere Sorgen hatte. Auch das Referendum 1991 auf der Halbinsel, bei dem sich 93 % der Abstimmenden (Wahlbeteiligung 81 %) für eine von der Ukraine unabhängige Autonome Republik Krim aussprachen, wurde damals kaum beachtet. Es kam schliesslich zu einem Kompromiss mit Kiew: Der Krim wurde der Status einer Autonomen Republik innerhalb der im übrigen unitarisch aufgebauten Ukraine zuerkannt. Bei einem gesamtstaatlichen Referendum im Dezember 1991 sprachen sich 90 % der Abstimmenden für die Unabhängigkeit der Ukraine aus, auf der Krim waren es nur 54 %.
  Seit 1994 war Leonid Kutschma Präsident in Kiew. Er wertete die russische Sprache wieder auf, unterstellte aber die Krim weiterhin der Kiewer Verwaltung. 1998 erhielt die Krim weitere Autonomierechte innerhalb der Ukraine, da die Unabhängigkeitsbestrebungen auf der Krim in den 1990er Jahren nicht nachgelassen hatten. Russland und Kiew haben sich 1997 gegenseitig territoriale Integrität vertraglich zugesichert. Zudem hat die Russische Föderation mit der Ukraine im selben Jahr einen Pachtvertrag geschlossen, der den Verbleib der russischen Flotte auf der Krim sicherte – zunächst für 20 Jahre, später verlängert bis zum Jahr 2042.
  Die historisch gewachsenen Spannungen erfuhren 2013 eine Eskalation, nachdem der ukrainische Präsident Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnet hatte. Er befürchtete Nachteile seines Landes im Hinblick auf die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland. Daraufhin begannen in Kiew die Maidan-Demonstrationen, die schliesslich gewalttätig wurden und zu bewaffneten Auseinandersetzungen führten. Im Februar 2014 setzte das Kiewer Parlament den Präsidenten in einem verfassungswidrigen Vorgang ab; Janukowitsch floh aus dem Land. Die Länder der EU und die USA erkannten sofort die neue, im Zuge des Staatsstreichs an die Macht gekommene, prowestliche Regierung an. Russland beschuldigte den Westen, sich massiv eingemischt, wenn nicht die Ereignisse initiiert zu haben. Auf der Krim kam es im Januar 2014 zu Protestdemonstrationen gegen die Maidan-Bewegung, im Februar zu Gewalttätigkeiten zwischen Gegnern und Anhängern der neuen Kiewer Machthaber.
  Auf der Krim befanden sich zu dieser Zeit russische Soldaten, allerdings weniger als die mit dem genannten Pachtvertrag erlaubten 25 000 Mann. Am 16. März 2014 wurde auf der Krim ein Referendum durchgeführt, bei dem man sich entscheiden konnte zwischen erstens einem Anschluss der Krim an Russland oder zweitens der Anerkennung der Gültigkeit der Verfassung von 1992 mit der Krim als Teil der Ukraine. Eine Option «Bewahrung des Status quo» gab es nicht. Bei 83 % Wahlbeteiligung stimmen 97 % für die erste Option, was nicht nur an der Bevölkerungsmehrheit von 68 % Russen liegen mag, sondern auch an der aus Sicht der Bevölkerung wirtschaftlich besseren Perspektive an der Seite Russlands. Am 18. März 2014 erklärte die Regierung der Krim die Autonome Republik Krim für unabhängig und beantragte am selben Tag die Aufnahme der Republik in die Russische Föderation. In der Folge wurde die Krim als Sonderwirtschaftszone schrittweise in die Russische Föderation integriert.  •

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