Zeit-Fragen: Herr Botschafter Ganevich, unsere Leser erfahren aus den meisten westlichen Medien nicht, was wirklich die Position Ihres Landes ist. Deshalb möchten wir heute Sie als Botschafter der Republik Belarus in der Schweiz zu Wort kommen lassen. Ganz nach dem Prinzip: audiatur et altera pars. Wie hat sich die innere Situation in Belarus seit den Präsidentschaftswahlen vom August 2020 entwickelt?
Aliaksandr Ganevich: Die Situation in Belarus hat sich seit August 2020 grundlegend geändert. Der vom Westen massiv finanzierte und geschickt gesteuerte Versuch einer typischen «Farbenrevolution» ist völlig gescheitert. Der Staat hat aus den Ereignissen Lehren gezogen und notwendige Schritte für die Konsolidierung von Macht und Gesellschaft unternommen. Man hat die rechtlichen Mechanismen zum Schutz der Souveränität und der Verfassungsordnung gestärkt, das Anwachsen von Extremismus verhindert, Ordnung auf die Strasse gebracht. Die Regeln für den Erhalt unentgeltlicher Hilfe aus dem Ausland wurden angepasst, die staatliche Informationspolitik verbessert, Verantwortung für das Verhalten im virtuellen Raum sowie die Sicherheit personenbezogener Daten erhöht.
Die Verfassungsreform in Belarus brachte in einem inklusiven Prozess die konstruktiven Kräfte der Gesellschaft, einschliesslich der Opposition, zusammen. Ihr Ziel ist es, das politische System des Landes zu modernisieren und die Widerstandsfähigkeit gegen aktuelle Herausforderungen zu erhöhen.
Die Wirtschaft entwickelt sich dynamisch trotz westlicher Wirtschaftssanktionen. Das Bruttoinlandsprodukt ist 2021 um 2,3 % gestiegen, der Wechselkurs der nationalen Währung blieb stabil, der Aussenhandelsüberschuss erreichte 4 Milliarden US-Dollar (der höchste Stand seit 2012). Die Reallöhne der Arbeitnehmer wuchsen um 5 %.
Das Jahr 2021 verlief in Belarus unter dem Motto Volkseinheit. Mein Eindruck ist, dass nicht wenige Belarussen in diesem Jahr ihre Ansichten ernsthaft revidiert haben. Sie haben den Wert eines unabhängigen und starken Belarus in einer gerade sehr turbulenten und unberechenbaren Welt erkannt. Soziologische Erhebungen zeigen ein hohes Mass an nationalem Selbstbewusstsein, Einigkeit und Zusammenhalt.
Wie beurteilen Sie die äussere Situation Ihres Landes im gegenwärtigen Konflikt mit den Nato-Staaten Polen, Litauen und Lettland, aber auch mit der Ukraine?
In seiner Botschaft an das belarussische Volk und die Nationalversammlung Ende Januar hat der Präsident der Republik Belarus Alexander Lukaschenko die aktuelle Lage um unser Land herum sehr klar beschrieben: «Belarus befindet sich im Epizentrum einer globalen Konfrontation. Im Westen wird die militärische Infrastruktur gestärkt – übrigens offensiver Natur. Nato-Truppen werden nahe der Grenzen des Unionsstaates von Belarus und Russland konzentriert, Flüge amerikanischer strategischer Bomber wurden aktiviert (mehr als 30 Einsätze pro Tag). Nachbarländer sprechen über den Einsatz von Atomwaffenträgern. Unsere westlichen Nachbarn – Polen, Litauen – handeln aktiv im Einklang mit der Politik Washingtons. Zunehmende Spannungen im Süden bereiten immer mehr Sorgen. Die Ukrainer werden in die Flammen des Konflikts gedrängt, gezielt auf Aggression vorbereitet …»
Belarus sieht in der Stärkung militärischer Präsenz an unseren Grenzen die Hauptursache der Destabilisierung in der Region. Aus unserer Sicht ist eine solche Eskalation, die vor allem in Polen festzustellen ist, überhaupt nicht akzeptabel. Mit der gemeinsamen Militärübung «Alliierte Entschlossenheit 2022», die in unserem Land vom 10. bis 20. Februar 2022 stattfinden wird, wollen Belarus und Russland ihre Bereitschaft zeigen, auf jedes mögliche Szenario zu reagieren. Man will damit auch den Schutz der Grenze zur Ukraine verbessern, Problemstellen und Mängel aufdecken und beseitigen.
Belarus unterstützt die berechtigte Forderung unseres Verbündeten und Partners – der Russischen Föderation – nach Einhaltung des Prinzips der «unteilbaren Sicherheit», so wie es in den grundlegenden OSZE-Dokumenten formuliert ist, darunter in der Europäischen Sicherheitscharta von Istanbul (1999): «Jeder Teilnehmerstaat wird […] die Rechte aller anderen achten. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen.»
Für Belarussen, die im Zweiten Weltkrieg einem regelrechten Genozid ausgesetzt waren und fast jeden dritten Einwohner verloren, ist der Frieden wirklich heilig. Um ihn zu bewahren, braucht es zurzeit enorme Anstrengungen nicht nur seitens der Grossstaaten, sondern von der gesamten Weltgemeinschaft.
Am 27. Februar 2022 wird das belarussische Volk über eine neue Verfassung abstimmen. Welche Grundlinien hat diese neue Verfassung?
Vorschläge zur Änderung der geltenden Verfassung vom 15. März 1994 (mit Änderungen von 1996, 2004 und 2021) waren schon bei der Vorbereitung zur VI. Allbelarussischen Volksversammlung vom Oktober 2020 bis Februar 2021 landesweit diskutiert worden.
Im Ergebnis der anschliessenden Arbeit einer Verfassungskommission wurde ein Entwurf der Änderungen und Ergänzungen der Verfassung am 27. Dezember 2021 zur öffentlichen Diskussion vorgelegt. Seitdem wurden im Land 3000 Dialogplattformen mit über 140 000 Teilnehmern abgehalten. Die Bürgerinnen und Bürger zeigten ein hohes Interesse an der Diskussion – man erhielt in wenigen Wochen fast 9000 Meinungen und Vorschläge. Viele davon wurden berücksichtigt oder fliessen auch später in den Gesetzgebungsprozess ein.
Fasst man alle Ergänzungen und Änderungen der Verfassung zusammen, lassen sich fünf thematische Blöcke unterscheiden, um die sie sich gruppieren:
Belarus wird derzeit von den Nato-Staaten, aber auch in Schweizer Medien scharf kritisiert. Wie begegnen Sie dem?
Natürlich sind wir über den nicht nachlassenden präzedenzlosen Druck auf unser Land aus dem westlichen Ausland tief besorgt. Neben der Kritik in den Medien, die meistens völlig grundlos und übertrieben ist, werden auch rigorose Sanktionen gegenüber einer Reihe belarussischer Staatsbürger und bedeutender Unternehmen angewendet (leider auch unter Beteiligung der Schweiz), Luftverbindungen zwischen Belarus und allen anderen Ländern Europas sind seit über neun Monaten unterbrochen. Neulich hat unser Nachbarland Litauen den Transit von belarussischen Kalidüngemitteln durch sein Territorium eingestellt, was dessen völkerrechtliche Verpflichtungen grob verletzt und äusserst negative Auswirkungen auf die weltweite Ernährungssicherheit haben wird.
Man muss dazu sagen, dass der Präsident der Republik Belarus zwischen einer feindseligen Einstellung der Machthabenden in einigen Ländern und der Meinung der Bevölkerung dieser Länder klar unterscheidet. Oftmals liegen diese Positionen weit auseinander. Wir bemühen uns, freundschaftliche Beziehungen mit allen Ländern auch unter den heutigen Bedingungen aufrechtzuerhalten und hoffen auf die baldige Rückkehr unserer westlichen Partner zu einem normalen Dialog auf Grundlage des gegenseitigen Respekts.
Das Aussenministerium der Republik Belarus und andere Staatsorgane, belarussische Auslandsvertretungen reagieren aktiv auf Vorwürfe und Unterstellungen seitens ausländischer Politiker und Massenmedien, es werden dazu auch die wichtigsten internationalen Gremien und Foren genutzt. Der Aussenminister von Belarus, Herr Vladimir Makei, hat zum Beispiel die offizielle Stellung in seinen Reden bei der 76. Tagung der UN-Vollversammlung im September 2021 und beim OSZE-Ministertreffen im Dezember 2021 sehr deutlich dargelegt. Auch die belarussischen Vertretungen in Bern und in Genf versuchen mit vorhandenen Mitteln verlässliche Informationen zu verbreiten, Verleumdungen und «fake news» zu bekämpfen, Klarheit zu schaffen.
Welche Hauptaufgaben sehen Sie bei Ihrer Tätigkeit hier in der Schweiz und was wünschen Sie sich von der Schweizer Politik?
Meine Aufgaben sind vielfältig und heutzutage nicht gerade einfach. Belarus legt nach wie vor einen hohen Wert auf den Ausbau freundschaftlicher Beziehungen mit der Schweiz. Das wurde allein im vergangenen Jahr mehrmals vom Staatschef und dem Aussenminister der Republik Belarus bekräftigt.
Natürlich stehen diesem Ziel vor allem umfangreiche Sanktionen im Wege, die die Schweiz im Einklang mit der EU gegenüber Belarus verhängt hat. Deswegen wünschte ich mir von der Schweizer Politik primär, dass entsprechende Entscheide so bald wie möglich aufgehoben werden. Wir haben immer ein offenes Ohr für Anliegen und Besorgnisse unserer schweizerischen Kollegen und stehen für einen sachlichen Dialog jederzeit zur Verfügung.
In den vergangenen zwei Jahren waren Belarus und die Schweiz gleich mit zwei grossen Herausforderungen konfrontiert – mit der Covid-19-Pandemie und politischen Missstimmungen wegen der Geschehnisse in meinem Land. Dies wirkte sich negativ auf Intensität der bilateralen Zusammenarbeit aus. Viele Vereinbarungen, die noch Anfang 2020 auf der hohen Ebene getroffen wurden, konnten nicht mehr umgesetzt werden.
Ich hoffe, dass wir in diesem Jahr, in dem auch 30 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Belarus und der Schweiz begangen werden, eine Wiederbelebung bilateraler Kontakte in unterschiedlichen Bereichen ermöglichen können. Dazu sollte auch der bevorstehende Amtsantritt meiner Kollegin in Minsk, Frau Botschafterin Honegger Zolotukhin, erheblich beitragen.
Wir erwarten in den kommenden Monaten unter anderem die Wiederaufnahme interparlamentarischer Kontakte und einer regelmässigen Arbeit der gemischten Wirtschaftskommission, einen Fortschritt bei der Vorbereitung von bilateralen Visa- und Rückübernahmeabkommen.
Wir sind unverändert am Ausbau des gegenseitigen Handels und an der erfolgreichen Tätigkeit der Schweizer Unternehmen in Belarus interessiert. Wir sehen ein hohes Potential auch in der Erweiterung der Kooperation mit der Schweiz in den Bereichen Umweltschutz und Katastrophenhilfe, Bildung und Forschung, Jugendaustausch, Kultur, Sport und Städtepartnerschaften.
Es gibt also noch viel zu tun, aber ich bin optimistisch und freue mich auf weitere positive Entwicklungen in den Beziehungen zwischen unseren Ländern.
Herr Botschafter Ganevich, vielen Dank für das Interview. •
* Aliaksandr Ganevich ist seit 2020 der Ausserordentliche und Bevollmächtigte Botschafter (der ersten Klasse) der Republik Belarus in der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Er wurde in Lida, Region Grodno, geboren. Seine Ausbildung absolvierte er in der Militärkommandoschule in Ussurijsk, an der Moskauer diplomatischen Akademie sowie an der diplomatischen Schule des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland. Seit 1993 war er in Minsk, Berlin, Bern und München im diplomatischen Dienst tätig. Aliaksandr Ganevich ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er spricht Belarussisch, Russisch und Deutsch.
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