Das grosse stille Leuchten und der singende See

von Eliane Perret

Wer das Glück hatte, in den Tagen vor Weihnachten im Oberengadin zu weilen, konnte nicht nur bei herrlichem Wetter schöne Spaziergänge entlang der Ufer der Engadiner Seen machen, sondern wurde auch Zeuge eines seltenen Natur-ereignisses. Über Nacht hatte sich nämlich der Silsersee mit einer Schicht des seltenen schwarzen Eises bedeckt. Zuvor war es längere Zeit klirrend kalt gewesen, und es hatte nicht geschneit. So wurde aus der anfänglich hauchdünnen Eishaut auf dem See eine zusammenhängende schwarze Eisdecke. Um genau zu sein, war das Eis natürlich nicht «schwarz», sondern weil es sich bei klarem Wetter gebildet hatte, lag es nun spiegelglatt und erstaunlich durchsichtig vor uns, und durch die glasklare Fläche konnte man in die dunkle Tiefe des Wassers blicken. 
 Es ging gegen Abend, und die einmaligen Lichtverhältnisse im Oberengadin – dieses grosse stille Leuchten – brachten eine grosse Ruhe mit sich. Sie wurde durchbrochen von eigenartigen Tönen, die sich über dem Eis verbreiteten. Ein Raunen, Zischen, Gurgeln, dann ein plötzlicher Knall waren zu hören. Nach etwa drei Stunden war es vorbei. Aber nur bis zum nächsten Morgen, wenn das Klangspektakel etwa zwei Stunden vor Sonnenaufgang wieder beginnt. Ein Naturphänomen, das nur bei schwarzem Eis auftritt.

Grosse Temperaturunterschiede und kleine Risse

Grund für die «singenden Seen» sind Spannungen im Eis, denn wie jedes andere Material reagiert es auf grosse Temperatur-unterschiede. Wenn die Sonne scheint, bietet die grosse schwarze Eisfläche ideale Bedingungen für deren Entstehen. Wird es wärmer, dehnt sich die obere Seite der Eisschicht aus, wird es kälter, zieht sie sich zusammen. Die untere Seite des Eises hingegen bleibt starr und verändert sich kaum. Nun «arbeitet» das Eis. An der Unterkante entstehen kleine Risse, die spinnennetzartig die Eisfläche durchziehen, die nur bei aussergewöhnlich tiefen Temperaturen ein klein wenig auseinanderklaffen. Deren Aufbrechen verursacht das «Singen»: Der Schall breitet sich mit grosser Geschwindigkeit entlang dieser Spannungsrisse in der Eisdecke aus, die durchaus einige hundert Meter lang sein können. Im Eis ist er schneller als in der Luft, und je schneller, desto höher klingt der Ton für das menschliche Ohr. Wird das Eis mit Schnee bedeckt, so wirkt er wie ein Schalldämpfer, und die «eiskalte» Musik verschwindet. Das ist das Geheimnis des «singenden Sees», der durchaus zu mystischen Erklärungen verleiten könnte.

Blumen aus Eis

Die Risse führen aber noch zu einer anderen märchenhaften Erscheinung, die es zu bewundern gilt: die Rauhreif-Eisblumen – auch das eine eher seltene Erscheinung auf den Oberengadiner Seen. Auch für ihre Entstehung gibt es eine wissenschaftliche Erklärung. Zutaten sind die Sonne am stahlblauen Winterhimmel und die dadurch entstehende grosse Verdunstung über dem vereisten See. Wenn es nach Sonnenuntergang kühler wird, sinkt die Aufnahmefähigkeit der Luft für den Wasserdampf. Die Luft über dem Eis ist nun recht feucht. Mit den kalten Temperaturen in der Nacht kondensiert sie. Am Morgen ist die Landschaft wie verzuckert vom entstandenen Raureif. Die kleinen Eiskristallhäufchen mit ihren Flächen und Kanten, die sich auf der Oberfläche des Eises aus dem Seewasser gebildet haben, bilden die Kerne, an denen dank der Feuchtigkeit in der Luft wunderschöne Eisblumen «wachsen» können. Oft sind sie in ganzen Gruppen oder Scharen zu finden. Wie sie sich genau ausgestalten, hängt hauptsächlich von Feuchtigkeit, Temperatur und Wind ab. Werden die Spalten von Seewasser durchfeuchtet, so wachsen auch ihnen entlang vielfältige, zauberhafte Gebilde. Manchmal bildet sich auf dem Eis sogar ein richtiges Eisblumenmeer.

Aus den Tiefen des Seegrundes

Aber das sind nicht die einzigen Erscheinungen im schwarzen Eis, die zum Verweilen und Nachforschen einladen. An einigen Stellen in der noch jungen Eisdecke werden Säulen sichtbar, die an die Gedankenblasen eines Comics erinnern. Sie entstehen durch Methangasblasen, die vom Seegrund aufsteigen und dabei einfrieren.
  Wer schon Frostschäden von geplatzten Wasserrohren zu beklagen hatte, bekommt hier am Ufer des zugefrorenen Sees ein anschauliches Beispiel für die Ausdehnung des Eises zu sehen, denn nach mehreren Tagen der Sonnenbestrahlung haben sich gebrochene Eisschichten übereinander geschoben und bilden ein wirres, aber dekoratives Durcheinander glasiger Trümmerstreifen.
  So wurde das Schwarzeis ein gutes Motiv für die Kamera und regte zum Nachdenken und Nachforschen an, genauso wie die Eisblumen, die Gasblasen und die vielen anderen «Wunder», welche die Natur hervorbringen kann.
  In der Natur zu sein und zu beobachten, welch faszinierende Erscheinungen möglich sind, hat etwas sehr Erholsames. Wer das mit seinen Kindern tut, erweist ihnen einen Liebesdienst. Sie lernen nicht nur aufmerksam zu beobachten und Schlüsse zu ziehen, sondern sie schärfen auch ihre Sinne und gewinnen mehr innere Ruhe in einem Alltag, der heute oft von «action» und schnellebigen «events» bestimmt ist. Sie stärken dabei ihre gefühlsmässige Verbindung zur Natur und zum Land, in dem sie leben.  •

 



Firnelicht

Wie pocht’ das Herz mir in der Brust
Trotz meiner jungen Wanderlust,
Wann, heimgewendet, ich erschaut
Die Schneegebirge, süss umblaut,
Das grosse stille Leuchten!

Ich atmet eilig, wie auf Raub,
Der Märkte Dunst, der Städte Staub.
Ich sah den Kampf. Was sagest du,
Mein reines Firnelicht, dazu,
Du grosses stilles Leuchten?

Nie prahlt ich mit der Heimat noch
Und liebe sie von Herzen doch!
In meinem Wesen und Gedicht
Allüberall ist Firnelicht,
Das grosse stille Leuchten.

Was kann ich für die Heimat tun,
Bevor ich geh im Grabe ruhn?
Was geb ich, das dem Tod entflieht?
Vielleicht ein Wort, vielleicht ein Lied,
Ein kleines stilles Leuchten!

Conrad Ferdinand Meyer
(* 11.10.1825, † 28.11.1898)

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