Nichts Neues unter der Sonne – der Schweizer Neutralitätsdiskurs bezüglich des Zweiten Weltkrieges

von Tobias Salander

Alois Ricklin definiert im Historischen Lexikon der Schweiz Neutralität wie folgt: «Neutralität bedeutet Nichtbeteiligung eines Staats an einem Krieg anderer Staaten. Was Nichtbeteiligung nach Völkerrecht konkret beinhaltet, unterliegt dem Wandel der Zeiten. Vom Neutralitätsrecht ist die Neutralitäts-politik zu unterscheiden. Sie umfasst alle Massnahmen, die ein neutraler Staat im Krieg oder ein dauernd neutraler Staat bereits im Frieden über seine neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen hinaus nach freiem Ermessen trifft, um die Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit seiner Neutralität zu sichern.»1
    Ricklin betont, dass die Schweiz die Neutralität nicht erfunden habe. «Bereits im Alten Testament, in der griechischen und römischen Antike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit finden sich Beispiele für Neutralität.» Und hebt dann hervor: «Aber die Schweiz praktizierte sie weltweit am längsten und trug zur rechtlichen Ausgestaltung der Neutralität im Landkrieg am meisten bei.» Und weiter: «Abgesehen von der Zeit zwischen 1798 und 1815 lässt sich die schweizerische Neutralität im Rückblick als Erfolgsgeschichte beschreiben. Die Neutralität als Handlungsmaxime der Aussenpolitik half mit, die Existenz der Eidgenossenschaft zu sichern und das Land aus Kriegen herauszuhalten. Deshalb wurde sie im Bewusstsein vieler Schweizer zu einem nationalen Identitätsmerkmal.» Schon immer hätten die anderen Länder die schweizerische Neutralität unterschiedlich wahrgenommen: «Begrüssten die einen sie als Friedensbeitrag, beargwöhnten andere sie als Heuchelei, Feigheit, Schwarzfahrerei oder Profitsucht. Aus Schweizer Sicht stand sie eher für kluge Interessenwahrung und für eine legitime Politik des Kleinstaats gegenüber den Grossmächten.» Im 19. Jahrhundert wurde die Idee der Neutralität dann durch die Idee einer humanitären Mission der Schweiz erweitert.
    Heute, wo der Druck auf die Schweizer Neutralität wieder einmal immens ist, lohnt es sich, einen Blick auf die schwierigste Zeit der Geschichte der Neutralität, den Zweiten Weltkrieg, zu werfen. Und dies nicht aus Schweizer, sondern aus unverdächtiger, US-amerikanischer Perspektive.
    Auch damals und in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde die Debatte geführt, ob man angesichts des Krieges die Neutralität nicht aufgeben sollte. Dass die USA selbst bis Pearl Harbour neutral blieben, ja, die grossen US-Konzerne wie IBM, General Motors, Ford und Standard Oil mit den Nazis «business as usual» betrieben, ja, zum Teil durch den ganzen Krieg hindurch (!), hat nicht zuletzt der US-Historiker mit jüdischem Hintergrund, deswegen um so engagierter forschend, Herbert M. Reginbogin herausgearbeitet. Zeit-Fragen berichtete bei den letzten Angriffen gegen die Schweiz aus Übersee ausführlich darüber.2
    
Angelo Codevilla war Professor für internationale Beziehungen an der Boston University, Offizier der US-Marine, Mitarbeiter des US-amerikanischen auswärtigen Dienstes, Stabsmitglied der Senatskommission für die Geheimdienste und Senior Research Fellow am Hoover-Institut der Stanford University – mithin ein Wissenschafter mit Innensicht der US-Geheimdienste. Professor Codevilla zeigt in einer seiner Studien auf, in welcher Situation sich die Schweiz im Zweiten Weltkrieg befand. Und wer sich dazu die heutige Situation der Schweiz, umgeben von EU- und Nato-Mitgliedern, welche Russland zum neuen Todfeind erklärt haben, vor Augen hält, wird sehen, dass – je nach Verschärfung der Angriffe gegen die Schweiz – eine nicht ganz unähnliche Situation eintreten könnte. Das Geschick eines Kleinstaates, der unabhängig bleiben will, ändert sich über Jahrzehnte, ja, gar Jahrhunderte kaum, bleibt doch die Topographie und die geostrategische Lage dieselbe, wenn auch die Begehrlichkeiten wechseln können. War es einst der Alpenübergang, der die Gier der Grossmächte anstachelte, mögen es heute das Wasser im Wasserschloss Gotthardmassiv, die kerngesunden Gemeinde-finanzen, die schöne Landschaft usw. usw. sein. Aber und vor allem auch das Modell eines Gemeinwesens, welches, von unten nach oben aufgebaut, in direktdemokratischer Weise die Menschenwürde wahrt wie nirgends sonst, mag manchen Grossgebilden ein Dorn im Auge sein – ihre Bürger könnten ja auf den Gedanken kommen, sich diese Rechte selber auch zu holen: eine Wohltat und Hoffnung für den Weltfrieden!
    Nun also Codevilla zur immerwährenden Situation der Schweiz auf Grund ihrer geopolitischen Lage: «Die Geschichte zeigt, dass Neutrale durch beide Kriegführenden unter Druck gesetzt werden, im Zweiten Weltkrieg befand sich die Schweiz in der Mitte zweier konzentrischer Blockaden. Die äussere, durch die Alliierten errichtete Blockade schränkte den Welthandel von und nach der Schweiz aus dem verständlichen Grund ein, dass die Deutschen die Schweizer zur Teilhabe an ihrem Handel zwingen wollten. Die innere, durch die Deutschen errichtete Blockade schränkte den schweizerischen Export in die alliierten Länder aus dem ebenfalls verständlichen Grund ein, dass schweizerische Produkte den Alliierten helfen könnten. Zur Erhöhung des Druckes drosselte Deutschland auch den schweizerischen Import von Brennstoffen und Nahrungsmitteln. Diese beiden Blockaden hatten zur Folge, dass sich die Schweiz für jedes Pfund Handelsware, das über die Grenze des Landes gelangte, sowohl mit den Achsenmächten als auch mit den Alliierten durch Abkommen einigen musste. Dies bedeutete sogar, dass die Achsenmächte und die Alliierten unter Einschaltung von schweizerischen Vermittlern miteinander verhandeln mussten. Jede der beiden Parteien wusste, welchen Druck die andere Partei auf die Schweiz ausübte.»3



https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016572/2010-11-09/ 
vgl. Hofer, Walther; Reginbogin, Herbert R. Hitler, der Westen und die Schweiz. 1936–1945. Zürich 2001, Verlag NZZ, ISBN 3-85823-882-1
Codevilla, Angelo M. Eidgenossenschaft in Bedrängnis. Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg und moralischer Druck heute. Novalis Verlag Schaffhausen 2001. ISBN 3-907160-81-9, S. 40

Ohne Neutralität kein IKRK

«Die Stellung der Schweiz in der Welt ist gekennzeichnet durch die immerwährende bewaffnete Neutralität. Sie ist weder von aussen auferlegt noch ein blosses Mittel zur Selbstbehauptung. Sie ist ein Wesens-ausdruck der Schweiz als Rechtsstaat, der notwendig den Verzicht auf Macht-politik enthält. Die seit 500 Jahren gehandhabte Neutralität legitimiert die Schweiz auch dazu, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zu beherbergen, dem nur Schweizer angehören und das einen internationalen Ruf besitzt wie wohl keine andere Institution der Welt.»

Wolfgang von Wartburg in der
«Aargauer Zeitung» vom 5.2.1997

Churchill über die Schweizer Neutralität im Zweiten Weltkrieg

«Ich wünsche ein für allemal festzuhalten: Unter allen Neutralen hat die Schweiz den grössten Anspruch auf Auszeichnung. Sie war die einzige internationale Kraft, welche die grässlich zerstrittenen Nationen noch mit uns verband. Was bedeutet es schon, dass es ihr nicht möglich war, uns die wirtschaftlichen Leistungen zu erbringen, die wir wünschten, oder dass sie den Deutschen zuviel gegeben hat, um sich selber am Leben zu erhalten? Sie war ein demokratischer Staat, der in seinen Bergen für Freiheit in Selbstverteidigung stand, und in Gedanken, ungeachtet ihrer Herkunft, grösstenteils auf unserer Seite stand.»

Winston Churchill, zitiert bei Angelo M. Codevilla. Eidgenossenschaft in Bedrängnis. Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg und moralischer Druck heute. Novalis Verlag Schaffhausen 2001. ISBN 3-907160-81-9, S. 31

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