Russland-Ukraine-Konflikt – ein Blick aus Argentinien

von Atilio A. Borón*

zf. Die Presse in Lateinamerika berichtet erheblich differenzierter über den Krieg in der Ukraine, als es westliche Medien tun. In «Página 12» aus Argentinien, einer der renommiertesten Tageszeitungen Lateinamerikas, erschien der nachfolgend abgedruckte Kommentar von Atilio A. Borón als ein Beispiel unter vielen.

In dem Masse, in dem sich die russische Besetzung der Ukraine ausweitet – und ich sage «Besetzung», um den Begriff zu verwenden, der für Invasionen verwendet wird, die den Segen der etablierten Mächte haben: Besetzung des Irak, Libyens, Syriens, der palästinensischen Gebiete usw. – , häufen sich die Fragen nach dem Wesen und der Bedeutung dieser Operation. Die vermeintlichen «Wahrheiten» und «Beweise», die die westliche Presse aus ihren Flaggschiffen in den Vereinigten Staaten und Europa liefert, müssen von vornherein völlig zurückgewiesen werden, denn was diese Medien verbreiten, ist unverhohlene Propaganda. Natürlich ist es aus rein militärischer Sicht richtig, dass Russland in die Ukraine «eingedrungen» ist. Da aber «Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» ist, wie von Clausewitz sagte, muss dieser militärische Einsatz entsprechend den politischen Prämissen, die ihm seinen Sinn geben, beurteilt und interpretiert werden. Dies werden wir im folgenden versuchen.
    Und diese Prämissen sind ganz klar: Russ-land hat diese aussergewöhnliche Massnahme, die an und für sich zu verurteilen ist, als Reaktion auf dreissig Jahre Angriffe ergriffen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen. Vor einiger Zeit sagte Wladimir Putin mit seiner üblichen Eindringlichkeit zu den westlichen Staats- und Regierungschefs: «Ihr habt euch nicht damit begnügt, Russland im Kalten Krieg zu besiegen. Ihr habt es gedemütigt.» Der politische (und militärische) Kampf ist keine abstrakte Übung oder ein Wettbewerb der Gesten oder rhetorischen Phrasen. Aus diesem Grund erscheint die «Invasion», die sich – oberflächlich gesehen – als erbitterter Kampf im Schlamm und Blut der Geschichte darstellt, in einer völlig anderen Bedeutung: als eine defensive Reaktion auf endlose und ungerechtfertigte Schikanen.
    Nach dem Zerfall der UdSSR löste Russ-land den Warschauer Pakt auf, errichtete ein politisches Regierungssystem nach dem Vorbild der europäischen Demokratien, etablierte einen zutiefst oligarchischen Kapitalismus mit mafiösen Methoden, öffnete seine Wirtschaft für ausländisches Kapital und spielte sogar mit dem Gedanken, der Nato beizutreten. Trotz all dieser Bemühungen, sich dem ideologisch-politischen Konsens des Westens anzupassen, wurde Russland wie zu Sowjet-zeiten als abweichender Akteur im internationalen System betrachtet, als ein Feind, vor dem man sich schützen muss und der gleichzeitig daran gehindert werden muss, sich selbst zu schützen, denn während die internationale Sicherheit für die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten nicht verhandelbar ist, wird Russland ein solches Privileg nicht zugestanden.

Die Militäroperation gegen die Ukraine ist die logische Konsequenz einer ungerechten politischen Situation oder der Endpunkt dessen, was Boaventura de Sousa Santos als «die absolute Unfähigkeit der westlichen Staats- und Regierungschefs» diagnostizierte, zu erkennen, dass es keine europäische Sicherheit gibt und geben wird, wenn sie nicht auch für Russland gewährleistet ist. Unfähigkeit einer europäischen Führung, die auch andere Bezeichnungen verdient: kurzsichtig, korrupt, ignorant und bis zur Schande unterwürfig gegenüber dem amerikanischen Hegemonismus, der nicht zögern wird, neue Kriege in Europa oder in seinem Hinterhof im Nahen Osten zu führen, so oft es seinen Interessen dient.
    Dieses Versagen der Führung hat dazu geführt, dass sie Russland zunächst verachteten oder unterschätzten (Ausdruck einer diffusen Russophobie, die vielen Russen nicht entgangen ist) und dann Putin dämonisierten, wobei Joe Biden sich auf dem Feld der Diplomatie unvorstellbare Dinge leistete. Tatsächlich bezeichnete er mitten im Wahlkampf, um seine Dialogfähigkeit zu demonstrieren, Putin als Chef einer «autoritären Kleptokratie». In einer kurz nach dem Staatsstreich von 2014 veröffentlichten Notiz schrieb Henry Kissinger, ein Kriegsverbrecher, aber im Gegensatz zu Biden ein profunder Kenner der internationalen Realitäten, dass «Putin ein ernsthafter Stratege ist, der mit den Prämissen der russischen Geschichte übereinstimmt», obwohl er im Westen systematisch unterschätzt worden sei. Er kommt zu dem Schluss, dass «die Dämonisierung von Wladimir Putin keine Politik des Westens ist, sondern ein Deckmantel, um das Fehlen einer Politik zu vertuschen». In demselben Artikel, der für die zunehmend verwirrte postmoderne Linke sowohl in Lateinamerika als auch in Europa sehr empfehlenswert ist, liefert Nixons ehemaliger Aussenminister eine notwendige Reflexion, um den aussergewöhnlichen Charakter der ukrainischen Krise zu verstehen. Für die Russen «kann die Ukraine niemals ein fremdes Land sein. Die Geschichte Russlands beginnt in der sogenannten Kiewer Rus». Deshalb haben selbst so erbitterte Dissidenten des sowjetischen Systems wie Alexander Solschenizyn und Josep Brodsky «darauf bestanden, darauf hinzuweisen, dass die Ukraine ein integraler Bestandteil der russischen Geschichte und damit Russlands ist». Keiner der führenden Politiker des Westens scheint auch nur die geringste Ahnung von diesem historischen Erbe zu haben, das entscheidend dafür ist, warum Putin die «rote Linie» der Nato gerade in der Ukraine gezogen hat.
    Diese Verweise, die nur scheinbar eine gewisse Verdrängung oder Verleugnung des gegenwärtigen Schreckens sind, sind unverzichtbar, um den Konflikt zu verstehen und ihn möglicherweise zu lösen. Deshalb lohnt es sich zu lesen, was ein amerikanischer Internationalist, John Mearsheimer, 2014 schrieb, als Washington zusammen mit Nazi-Banden den Putsch inszenierte, der die rechtmässige Regierung von Viktor Janukowitsch stürzte. In diesem Artikel erklärte der Professor der University of Chicago, dass die Ukraine-Krise und die Rückeroberung der Krim durch Putin «die Schuld des Westens» sei, weil dieser die Beziehungen zu Moskau schlecht gehandhabt habe. Er fügte hinzu, dass jeder US-Präsident mit Gewalt reagiert hätte, wenn eine Macht wie Russland in einem Nachbarland, zum Beispiel Mexiko, einen Putsch inszeniert, eine Washington-freundliche Regierung abgesetzt und an ihrer Stelle ein zutiefst anti-amerikanisches Regime installiert hätte («Why the Ukraine crisis is the West’s fault», in: Foreign Affairs, Vol. 93, No. 5, September-October 2014).
    Kurz gesagt: Der äussere Anschein verrät nicht immer das Wesen der Dinge, und was auf den ersten Blick als eine Sache – eine Invasion – erscheint, kann aus einer anderen Perspektive und unter Berücksichtigung von Hintergrund-informationen etwas völlig anderes sein.

Quelle: https://www.pagina12.com.ar/404466-conflicto-rusia-ucrania-una-segunda-mirada  vom 28.2.2022
(Übersetzung Zeit-Fragen)

 


*Atilio A. Borón ist ein argentinischer Soziologe, Politikwissenschaftler, Professor und Schriftsteller, mit Promotion in Politikwissenschaft an der
Harvard University.

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