Eine Friedensordnung, die das Recht auf einen sicheren Frieden für jeden achtet

von Karl-Jürgen Müller

In den vergangenen zwei Wochen wurden erneut Vorschläge gemacht, die in die Richtung einer künftigen Friedensordnung für die Ukraine, ihr Nachbarland Russland und für Europa gehen.1 In der Tat stehen wir vor der Aufgabe, Eckpunkte einer Friedensordnung zu formulieren, die die Rechte der Menschen und der Völker achtet, die Gleichberechtigung der Staaten und das Recht aller Menschen und Völker auf einen sicheren Frieden.

Eine solche Friedensordnung wäre etwas Neues in der europäischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Denn weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg noch nach dem Ende des ersten Kalten Krieges hat es eine solche Friedensordnung gegeben. Immer haben die Sieger diktiert – mal ganz offen, wie nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, mal mit Doppelzüngigkeit wie nach dem ersten Kalten Krieg. Diese vermeintlichen Friedensordnungen trugen – weil sie nicht gerecht waren – immer schon den Kern neuer schwerwiegender Konflikte oder sogar von Kriegen in sich.

Die Fokussierung auf den 24. Februar 2022 greift zu kurz

Wer bei der Frage nach einer künftigen europäischen Friedensordnung nur den 24. Februar 2022, den Tag des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine, im Auge hat, greift zu kurz. Kriege haben langfristige, «strukturelle» Ursachen. Die Suche nach einer künftigen Friedensordnung muss sich mit diesen langfristigen Ursachen beschäftigen, mit den «Strukturen», die Frieden gefährden beziehungsweise verhindern. Deshalb ist es unverzichtbar, bei der Suche nach einer dauerhaften Friedensordnung die Geschichte zu kennen und zu berücksichtigen. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine kann nicht angemessen beurteilt werden, wenn die vergangenen 32 Jahre Weltgeschichte unbeachtet bleiben.

Das Problem der Profiteure des Krieges …

Das grösste Problem bei der Verwirklichung einer Friedensordnung sind die Kräfte, die man als Profiteure des Krieges bezeichnen muss, auch eines Kalten Krieges – mit materiellen Interessen und/oder machtpolitischen Zielen. Eine menschenfeindliche Weltanschauung kommt in der Regel hinzu. Diese Kräfte stellen sich einem gerechten Frieden in den Weg. Sie schüren Unfrieden, provozieren kalte und heisse Kriege und sorgen für deren Verlängerung. Nicht selten zeigen sie dabei mit dem Finger auf die anderen und waschen ihre Hände in Unschuld, ganz nach dem Prinzip: «Haltet den Dieb!». Ihnen zu Diensten stehen Medien, die die Menschen zu manipulieren versuchen, emotionalisieren, Mitgefühl missbrauchen und eigenständiges Denken verhindern sollen. Der letzte Rest von Seriosität wird einer unerträglichen Propaganda geopfert. Was wir diesbezüglich derzeit in unseren Ländern erleben, ist so noch nicht dagewesen.2
  Und es liegt auf der Hand, dass es bei der derzeitigen Kampagne um mehr geht als das Verhältnis der europäischen Staaten zu Russland. Ganz deutlich merkt man dies in Ländern wie der Schweiz, Österreich und Deutschland. Mittels einer «Schock-Strategie»3 sollen die Restbestände an Eigenständigkeit getilgt werden. Das «alte Europa» (so die abschätzige Bemerkung des ehemaligen US-Verteidigungsministers und Neokonservativen Donald Rumsfeld über die europäischen Staaten, die 2003 nicht beim Irak-Krieg mitmachen wollten) soll für immer passé sein. Das verheisst nichts Gutes.

… und die Rolle der Medien

Stefan Zweig schrieb kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs über die Rolle der Medien: «Sie hatten die Hasstrommel geschlagen und schlugen sie kräftig, bis jedem Unbefangenen die Ohren gellten und das Herz erschauerte. Gehorsam dienten sie fast alle in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Russland, in Belgien der Kriegspropaganda und damit dem Massenwahn und Massenhass des Krieges, statt ihn zu bekämpfen.» Und Alfred Adler schrieb 1919 über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs: «Zeitungen und Zeitschriften, Politiker und Parteien buhlten um die Gunst der Herrschenden.» Das ist heute nicht anders – aber wohin soll das führen?
  Kriegsprofiteure gibt es auch heute noch. Die Artikel von Eberhard Hamer in Zeit-Fragen Nr. 5 vom 22. Februar 2022 und Michael Hudson in Zeit-Fragen Nr. 6 vom 8. März 2022 handeln von ihnen. Eine Friedensordnung, die diese Kräfte nicht einhegt, wird keinen Bestand haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Menschen klüger

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren sich viele Menschen einig: Der wuchernde Kapitalismus der Vorkriegsjahre trug eine Hauptverantwortung für den Krieg. Selbst im Ahlener Programm der CDU der britischen Zone vom Februar 1947 hiess es deshalb:
  «Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äusseren Frieden sichert.»
  Diese grundsätzlichen Überlegungen waren damals nicht zu verwirklichen. Heute wieder eine öffentliche Debatte zu führen, die diese Gesichtspunkte mit einbezieht, würde Europa aber mehr Ausblick eröffnen als das auf die Spitze getriebene Feindbild Russland.

Idealismus und Realismus beim Blick auf den Frieden

Bemühungen, Grundlagen für einen gerechten Frieden zu formulieren, gibt es viele. So arbeitet zum Beispiel die Ökumene der christlichen Kirchen schon seit vielen Jahren an einem solchen Konzept und hat 2009 einen umfangreichen Entwurf zur Frage des gerechten Friedens vorgelegt.4 Solche Konzepte sind sehr wertvoll und enthalten für alle Menschen, die sich um Frieden bemühen, wichtige Anregungen und Leitplanken. Aber sie formulieren auch sehr hohe Ansprüche, so dass zu befürchten ist, dass sie – zumindest auf absehbare Zeit – nur eine geringe Chance auf eine praktische Umsetzung haben. Möglich sind aber Schritte in die richtige Richtung.
  Auch beim Ziel des gerechten Friedens braucht es eine Kombination aus Idealismus und Realismus, so wie es Hans Köchler in seinem Beitrag für Zeit-Fragen Nr. 2 vom 25. Januar 2022 («Macht und Weltordnung») formuliert hat. Idealistisch und realistisch zugleich kann ein Rückgriff auf die grundlegenden Dokumente der Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) sein. Diese Dokumente sind nach wie vor gültige und von allen Beteiligten unterzeichnete Rechtsgrundlagen. Vor dem 24. Februar 2022 haben sich alle Beteiligten immer wieder hierauf berufen. Das heisst doch auch, dass es in diesen Dokumenten Vereinbarungen gibt, die auch jetzt noch eine Verhandlungsgrundlage sein können – wenn es alle Seiten ehrlich meinen.
  Es kann aber auch sein, dass Russland nach den Erfahrungen der vergangenen 32 Jahre seine Beziehungen zum Westen und zum Rest Europas auf absehbare Zeit einfriert. Dann können diejenigen, die einen neuen Eisernen Vorhang mitten durch Europa und von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer herunterlassen wollen5, triumphieren – am meisten darunter leiden wird das Europa westlich des neuen Eisernen Vorhangs.  •



1 vgl. dazu die Artikel von Hans Köchler und Greg Mello in dieser Ausgabe sowie den Kastentext von Otto Schily
2 vgl. dazu die Artikel von Patrick Lawrence und Eliane Perret in dieser Ausgabe
3 vgl. Klein, Naomi. Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. S. Fischer-Verlag 2007
4 Internationale Ökumenische Erklärung zum gerechten Frieden. Entwurf; https://www.oekumene-ack.de/fileadmin/user_upload/Texte_und_Publikationen/Gerechter_Friede_Erklaerung.pdf
5 Die neokonservativen westlichen Protagonisten eines neuen Eisernen Vorhangs hatten sich im April 2000 ganz offen gezeigt. Willy Wimmer, damals Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und Teilnehmer einer US-Konferenz ein Jahr nach Beginn des Nato-Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, schrieb damals einen alarmierenden Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und fasste das Wesentliche dazu noch einmal in einem Beitrag für Zeit-Fragen Nr. 4 vom 25. Februar 2020 zusammen: «Die amerikanische Konferenz von Bratislawa in der Slowakischen Republik im April 2000 hat das amerikanische Ziel für Europa deutlich gemacht: Eiserner Vorhang zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, Russland kann bleiben, wo es will, und sich in kleinere Staaten zerlegen oder zerlegt werden.»


Otto Schily: Modell Schweiz als Lösung für die Ukraine

km. In einem Kommentar für die deutsche Tageszeitung «Die Welt» vom 10. März 2022 hat Otto Schily, Gründungsmitglied der deutschen Grünen, später SPD-Politiker und Bundesinnenminister, den Einmarsch russischer Armeeeinheiten in die Ukraine verurteilt, zugleich aber auch geschrieben, der Krieg habe «leider eine Vorgeschichte der gravierenden politischen Versäumnisse». Die Diplomatie sei «ein Totalausfall» gewesen. Auch die deutsche Aussenpolitik habe «rundum versagt. Was ist auf deutscher Seite unternommen worden, um den Ukraine-Konflikt zu entschärfen? Man hat ihn schwelen lassen und war blind für die Gefahr, dass sich daraus eine explosive Situation entwickeln kann. Statt eine tragfähige Lösung zu suchen, hat man die ukrainische Führung in die Illusion treiben lassen, die Ukraine könne eines Tages Mitglied der Nato werden.»
  Jetzt aber seien «Ideen für ein Ukraine-Modell, das für alle Seiten annehmbar ist und eine positive Perspektive für eine friedliche Entwicklung dieser Weltregion bietet», die wichtigste Hilfe für die Ukraine. Die grundlegende Frage dabei sei: «Wie kann sich die Ukraine in einer Form positionieren, die ihrer eigenen Grundforderung nach einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung in einem souveränen Staat entspricht, die aber zugleich ein friedliches Nachbarschaftsverhältnis mit Russland und anderen Anrainerstaaten begründet?» Otto Schily schlägt vor, die Ukraine solle sich mit «Blick auf die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt» an der Schweizer Verfassung orientieren: «Die Schweiz hat es in mustergültiger Form verstanden, über Jahrhunderte eine freiheitliche Gesellschaft zu entwickeln, mit urdemokratischen, vorwiegend dezentralen Entscheidungsverfahren sowie mit wechselseitigem Respekt vor unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Prägungen einschliesslich der dort selbstverständlichen Akzeptanz der Mehrsprachigkeit.» Er fügt hinzu: «Auf Grund ihrer Lage hat sich die Schweiz zu militärischer Neutralität verpflichtet, ohne damit ihre wertegebundenen politischen Grundsätze aufzugeben.» Der Ausblick dabei: «Für die Europäische Union und Russland gleichermassen wäre eine neutrale Ukraine mit einer kantonalen, mehrsprachigen staatlichen Struktur nach Schweizer Muster künftig eine gute Nachbarschaft mit vielversprechenden Aussichten der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit.» Und: «Dem Donbass könnte eine umfassende kantonale Autonomie zugestanden werden.»
  Eine künftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine sei «eher unwahrscheinlich». Aber auch ohne eine EU-Mitgliedschaft könnten sich «EU, die Ukraine und Russland […] in einer weiterreichenden Strategie auf eine Freihandelszone einigen».
  Am Ende seines Kommentars schreibt Otto Schily, es erfordere «gewiss Mut, Kompromissbereitschaft und den Verzicht auf ultimative Forderungen», sich auf die «friedensstiftende Idee einer ‹Schweizer Verfassung›» einzulassen, aber für die «eng verwandten und in tiefster Seele friedliebenden Völker der Ukraine und Russlands» könne «das Schweizer Modell den Weg in eine verheissungsvolle Zukunft öffnen».

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