Wenn die öffentliche Meinung durch Kriegspropaganda gesteuert wird

von Eliane Perret

«Keine irdische Rechtfertigung entschuldigt die Kapitulation der Vernunft vor der öffentlichen Meinung.» Damit beginnt Romain Rolland seinen Roman Clérambault1, in dem er uns die Kriegsbegeisterung und Verwirrung in den Köpfen der Menschen zu Beginn des Ersten Weltkriegs einfühlbar macht. Dieser Krieg hinterliess Millionen von Toten, zerstörte Städte und Landstriche und Menschen, die in grosser Trauer und Hoffnungslosigkeit ihren letzten Mut aufbringen mussten, sich wieder den Aufgaben des Lebens zuzuwenden und ihre Existenz und ihr Land neu aufzubauen. 1920 erstmals erschienen, ist das Werk von Romain Rolland bis heute ein eindrückliches literarisches Dokument, das jedem Zeitgenossen zur Lektüre empfohlen sei.

«When war is declared, truth is the first casualty»

Schon damals stellte sich die Frage, wie man in Kriegszeiten trotz medialer Propagandawalze bei klaren Sinnen bleiben und sich einer kollektiven Hysterie entziehen kann. Diese Frage stellt sich auch heute wieder. Für wache Zeitgenossen ist es wichtig, sich bewusst zu werden, welche Mechanismen der Verschleierung, Täuschung und vorsätzlichen Lüge genutzt werden von seiten derer, denen er gerade in solch schweren Zeiten Vertrauen entgegenbringen soll.
  Wie so oft lohnt es sich, bisherige Erkenntnisse und Erfahrungen zu reflektieren. 1928 erschien von Arthur Ponsonby (siehe Kasten), einem englischen Politiker, das Buch «Falsehood in Wartime» (Lügen in Kriegszeiten)2, in dem er seine Untersuchungen zu den Methoden der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg vorstellte. Er kam zum Schluss, dass im Krieg die Wahrheit einen unrühmlichen Tiefpunkt erreicht, was er in der Formulierung: «When war is declared, truth is the first casualty» («Nach der Kriegserklärung ist die Wahrheit das erste Opfer») auf den Punkt brachte. Ponsonby ging davon aus, dass es hilfreich ist, in Zeiten des Friedens zu ergründen, mit welchen Propagandamethoden versucht wird, die Menschen in die Irre zu führen, um eigenes Tun zu rechtfertigen. So auch im Krieg, denn die «Täuschung ganzer Völker ist keine Angelegenheit, die auf die leichte Schulter genommen werden kann», schreibt er. Im ruhigen Rückblick könnten die Fakten untersucht und wenigstens im nachhinein die Wahrheit ans Licht gebracht werden. Oft werde jedoch gerade das von den Kriegsparteien behindert, weil die Lügen doch mittlerweile die gewünschte Wirkung erzielt hätten und deren Aufdeckung unerwünscht sei. Viele der alten Kriegslügen überlebten deshalb während Jahren.

Analog: Brieföffner, Dechiffrierer, Fälscher

Schon damals, nach dem Ersten Weltkrieg, erkannte man also, dass psychologische Faktoren für die Kriegsführung ebenso bedeutsam sind wie militärische. Die Menschen müssen dazu gebracht werden, Kriegspläne mitzutragen. Sie lassen sich nicht so leicht verblenden und verführen, denn es widerspricht ihrer Natur, sich gegenseitig zu bekämpfen und umzubringen. Darum gehört es heute zu den Selbstverständlichkeiten jedes Kriegsministeriums, dass es eine Abteilung für Kriegspropaganda gibt – freilich mit einem etwas unverfänglicheren Namen.
  Mittlerweile sind die Mittel der Propaganda sehr ausgefeilt. Ponsonby berichtete noch von «Lauschern, Brieföffnern, Dechiffrierern, Telefonabhörern, Spionen, einer Abhörabteilung, einer Fälschungsabteilung, einer Kriminalpolizei, einer Propagandaabteilung, einer Nachrichtendienstabteilung, einer Zensurabteilung, einem Informationsministerium, einem Pressebüro», mit denen die öffentliche Meinung und Stimmung gesteuert wurde.

Digital: Schwer überprüfbar – unheimliche Geschwindigkeit

Heute spielen in der Propaganda digitale Medien eine zentrale Rolle. Spezialisten nutzen einen riesigen Werkzeugkasten, mit dem sie Meldungen verfälschen, zensurieren oder gleichschalten können, damit sich ein bestimmtes Narrativ (wie man heute sagt) durch ständige Wiederholung durchsetzt und das Meinungsmonopol bekommt. Noch wichtiger geworden ist auch die emotionale Aufladung der Inhalte, mit denen das Mitgefühl der Menschen eingefangen wird. Ein kurzer Augenblick des Nachdenkens ist kaum mehr möglich, denn die Lügen sind nur schwer überprüfbar, werden jedoch mit unheimlicher Geschwindigkeit verbreitet.
  Zudem verhindert die heutige Konzentration der Medienanbieter auf einige wenige weltweit vernetzte Agenturen und Konzerne ein breites Spektrum an Meinungen und wird den Gegebenheiten der einzelnen Länder nicht gerecht. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an den Schweizer Radiosender Beromünster, der im und lange nach dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner neutralen Berichterstattung mit eigenen Korrespondenten vor Ort geschätzt wurde. Heute werden oft Korrespondenten aus anderen, sogar kriegsführenden (sic!) Ländern beigezogen, was allein schon wegen der Neutralität der Schweiz problematisch ist.

Ein Sensorium entwickeln

Darum gehört es heute zur staatskundlichen Grundbildung der Menschen, zu wissen mit welchen Methoden Meinungen gemacht werden und welchen Propagandatechniken sie ausgesetzt sind. Es wäre ein Projekt für die lebenserfahrene ältere Generation, sich gemeinsam mit den Heranwachsenden kundig zu machen, wie man zum Beispiel erkennt, ob Bilder und Dokumente manipuliert sind oder ob ein YouTube- oder Tiktok-Filmchen die Realität abbildet oder eben verfälscht (das wären im übrigen sinnvolle Inhalte des Medienunterrichtes, die zu echter Medienkompetenz führen würden). Wenn solchermassen kundige Menschen dann feststellen, wie sie auf raffinierte und sorgfältig inszenierte Weise getäuscht werden können, werden sie wachsamer sein und ein Sensorium entwickeln für Erklärungen und Verlautbarungen, die dazu bestimmt sind, als Wahrheit akzeptiert zu werden.

Und noch etwas …

Eine Regierung, die sich darauf einlässt, die Meinungsbildung ihrer Bevölkerung durch Propaganda zu steuern, sollte sich darüber im klaren sein, dass sie damit das Recht auf freie Meinungsbildung missachtet und das Vertrauen der Menschen verspielt. Geht es sogar um die Rechtfertigung von Kriegshandlungen, wiegt das um so schwerer. Sie versäumt damit die Aufgabe, die ihr aufgegeben ist.  •

Folgende Bücher begleiteten mich beim Schreiben:
1 Rolland, Romain. Clérambault. Reinbek bei Hamburg
2 Ponsonby, Arthur (1988). Falsehood in Wartime. New York: E. P. Dutton & Co, 1929. (Auszüge in: https://archive.org/details/16FalsehoodInWartime)


Arthur Ponsonby (1871–1946)

Lord Arthur Ponsonby war ein britischer Staatsbeamter, Politiker und Schriftsteller. Er stammte aus einer angesehenen englischen Familie. Sein Vater Sir Henry war Privatsekretär von Königin Victoria, er selbst Page Königin Victorias. Nach seinem Studium trat er in den diplomatischen Dienst ein und übernahm in der Folge verschiedene politische Ämter. Er gehörte zu jenen Parlamentariern, die sich gegen einen Kriegseintritt Englands in den Ersten Weltkrieg stellten. Ponsonby wurde 1931 in das Oberhaus berufen und wurde dort Vorsitzender des Oberhauses. Er setzte sein Engagement gegen den Krieg bis 1939 fort, in der Hoffnung, dass sein Land einen weiteren grossen Krieg verhindern könnte.

Methoden der Kriegspropaganda

Die von Arthur Ponsonby beschriebenen Methoden der Kriegspropaganda wurden von der belgischen Historikerin Anne Morelli wie folgt systematisiert und aktualisiert.1 Die Berichterstattung orientiert sich an folgenden Vorgaben:

Regel 1: Wir wollen keinen Krieg.
Regel 2: Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg.
Regel 3: Der Feind hat dämonische Züge (oder: «Der Teufel vom Dienst»).
Regel 4: Wir kämpfen für eine gute Sache und nicht für eigennützige Ziele.
Regel 5: Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten. Wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich.
Regel 6: Der Feind verwendet unerlaubte Waffen.
Regel 7: Unsere Verluste sind gering, die des Gegners aber enorm.
Regel 8: Unsere Sache wird von Künstlern und Intellektuellen unterstützt.
Regel 9: Unsere Mission ist heilig.
Regel 10: Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.



1 Morelli, Anne (2021). Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Verlag zu Klampen, Springe

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