«Mama, was ist eigentlich Krieg?»

Antworten finden auf anspruchsvolle Fragen

von Dr. Eliane Perret, Psychologin und Heilpädagogin

Der Krieg ist uns näher gerückt. Es hat ihn schon lange gegeben: in Afghanistan, im Kongo, im Jemen, in Syrien, im Irak und an anderen Orten. Aber diese Kriege waren weit weg. Sind sie deswegen in unserem Bewusstsein so wenig präsent? Auch im Donbass hatte der Krieg gegen die russischstämmige Bevölkerung schon vor Jahren begonnen – auch das war vielen kaum bekannt. Aktuell ist das Geschehen in der Ukraine in den Medien präsent. Selbstverständlich beschäftigt das auch unsere Kinder und Jugendlichen. Sie sehen Schlagzeilen und Bilder und schauen sich auf YouTube und Tiktok kleine Filmchen an. Sie spüren die angespannte Stimmung der Erwachsenen. Einmal mehr kommen Kinder aus einem fremden Land in ihre Klasse. Und nun? Im besten Fall wenden sie sich mit den auftauchenden Fragen an ihre Eltern oder andere Vertrauenspersonen. Und dann sind diese gefordert, sich selbst Klarheit zu verschaffen, so dass die Kinder nicht in Ängsten und Unsicherheit erstarren, sondern ihr Herz mutig bleibt.

Sich selbst Klarheit verschaffen

Wenn wir mit ihnen über diese Fragen sprechen möchten, müssen wir nicht nur unseren eigenen Wissensstand durchleuchten, sondern auch unsere eigene Gefühlslage klären. Die täglich auf uns einprasselnden Medienmeldungen sind selbst für Erwachsene nicht einfach zu verarbeiten. Oft ist es schwer zu überprüfen, was daran sachliche Information ist und welche Meldungen so aufbereitet sind, dass sie Emotionen hochkochen und die Meinung und Stimmung der Menschen in eine bestimmte Richtung lenken sollen, wie es in Kriegszeiten leider üblich ist. Diese psychischen Prozesse sind heute integraler Bestandteil der Kriegsführung. Sich Zeit zu nehmen, um verschiedene Quellen zu studieren, lohnt sich, im Wissen darum, dass Desinformation in Kriegszeiten leider üblich ist. Und geradezu spannend ist es, beim Lesen von Meldungen die «Regeln der Kriegspropaganda» als inneren Massstab dabei zu haben, wie sie Anton Ponsonby und Anne Morelli formuliert haben (siehe Zeit-Fragen Nr. 7 vom 22. März 2022). Das klärt die Gedanken, lichtet den Gedankennebel und gibt jene innere Stärke, die gerade in solch belastenden Zeiten wichtig ist und Mut gibt dranzubleiben. Oder wie Friedrich Nietzsche sagte: «Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst: Entweder du kommst schon heute weiter hinauf oder übst deine Kräfte, um morgen höher steigen zu können.»

Vom Faktencheck zum eigenen Standpunkt

Während der «Faktencheck» bei genügend Ausdauer und Neugier zu Erfolg führen und das Interesse an der Auseinandersetzung wecken kann, ist es oft schwieriger, im Gespräch mit den Mitmenschen einen eigenen Standpunkt zu vertreten. Auch für Erwachsene! Damit rechnet die Propaganda, denn es ist ein natürliches Bedürfnis, mit den Mitmenschen in Übereinstimmung zu sein; speziell auch in Beziehungen, die einem wichtig sind. So ist es nicht so einfach, innerlich stehenzubleiben, wenn einem der Wind der veröffentlichten Meinung entgegen bläst. Nur zu oft beginnt man innerlich unmerklich in feinen Schritten die eigene Meinung zurechtzurücken, bis der Widerspruch verschwunden ist. Das zu reflektieren ist wichtig, bevor man sich auf das Gespräch mit Kindern einlässt; gerade in Zeiten, in denen Kriegspropaganda die Wahrheit niederzuwalzen versucht.

Krieg ist keine Fantasy-Story oder ein Computergame

Kinder und Jugendliche haben viele Fragen, Beobachtungen und oft auch Befürchtungen, denn Krieg ist verbunden mit Gewalt, Tod, Vergewaltigung, Zerstörung, Trauer und Verzweiflung. Das kann ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hoffnungslosigkeit auslösen. Vielleicht beginnen manche Kinder auch zu realisieren, dass Krieg kein Game ist, bei dem die Toten wieder auferstehen und von vorne beginnen können, und dass die Realität etwas anderes ist als Fantasy-Storys mit Happy-End. Sie sind konfrontiert mit verstörenden Bildern, die Ängste wecken können. Die meisten von ihnen merken, dass etwas passiert, was die Erwachsenen in Sorge versetzt und ängstigt. Sie nehmen auch die Stimmung der Erwachsenen wahr und spüren, dass diese in Sorge sind. Sie schnappen Gesprächsfetzen auf oder merken, dass die Eltern plötzlich verstummen. «Die plötzliche Stille meiner Eltern, die jedes Mal eintrat, wenn ich ins Zimmer kam. Das war eine Stille, die schwer in der Luft lag. Eine Stille, die mehr wog als ein Rucksack voll Steine», beschreibt Alice die familiäre Stimmung, als der Erste Weltkrieg in ihre Familie eindrang.1 Das kann bei Kindern Ängste wecken, denen wir keinen Raum geben dürfen. Wie wir aber mit ihnen sprechen, ist je nach Kind und Alter verschieden – es gibt kein Rezept! Zum Kind passend zu sprechen heisst, seinen jeweiligen Entwicklungsstand zu berücksichtigen: Welche Informationen kann mein Kind überhaupt schon verstehen? Über welches Vorwissen verfügt es, und wie komplex darf das Gesagte sein? Das ist leichter gesagt als getan. Auch da ist der Erwachsene gefordert, im Gespräch feinfühlig einen Weg zu finden – in enger gefühlsmässiger Verbundenheit mit dem Kind oder Jugendlichen.

Ehrlich sein und keinen Platz für Phantasien lassen

Kinder haben Fragen, auf die sie eine ehrliche Antwort erwarten. Wir dürfen sie nicht ihren Phantasien überlassen. Selbstverständlich muss unsere Erklärung dem Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst sein. Für Tanja, ein Kindergartenkind, mag es angemessen sein, das Kriegsgeschehen mit einem Streit zu vergleichen. Das ist ihr aus dem Zusammenleben mit ihren Spielkameraden vertraut, und sie kann einen gefühlsmässigen Bezug herstellen. Sicher hat sie selbst schon erlebt, dass es zu Streit kommt, wenn sich nicht alle an gemeinsame Regeln halten oder wenn ein Kind stets bestimmen will, was die anderen tun müssen. Tanja wird es auch einleuchten, dass man dann zusammensitzen und gemeinsam eine Lösung finden muss, in der alle gleichwertig zum Zuge kommen. Eine solche Antwort genügt natürlich einem schon etwas älteren Schulkind nicht mehr. So sitzt Roman vor dem Kinderatlas und sucht Russland und die Ukraine. Er will vielleicht genauer wissen, was dort wohl passiert. Er will auch wissen, warum es zum Krieg oder zur Katastrophe gekommen ist und was man jetzt tun wird. Ihm leuchtet durchaus ein, dass man das Geschehen in einen grösseren Zusammenhang stellen und wissen muss, was sich in dieser Gegend vorher ereignet hat, und er ist froh, dass sich nun viele Menschen und Länder darum bemühen, eine Lösung zu finden. Aber auch für Roman ist es wichtig, dass er einen Bezug zu seinem eigenen Leben herstellen kann. Hatte er nicht am Vortag in der Schule seinem Banknachbarn den Bleistift weggenommen und war empört gewesen, als die Lehrerin mit ihm schimpfte? Sie hatte ihm nämlich nicht zugehört, als er ihr erzählen wollte, dass sein Nachbar immer wieder ungefragt seine Filzstifte «ausleiht», obwohl er das nicht will. Das fand er sehr ungerecht. Auch dieser Vorgang hatte also eine Vorgeschichte und das versteht er. Nun nimmt er sich vor, nochmals mit der Lehrerin zu sprechen. Diese Antworten bilden natürlich die Komplexität eines Kriegsgeschehens nicht ab, doch sie werden von den Kindern auch gefühlsmässig verstanden. – Jugendliche hingegen verlangen Fakten, sie wollen es genau wissen und lassen sich gerne darauf ein, die grösseren Zusammenhänge zu erforschen. Dabei geht es nicht einfach um Wissenserwerb, sondern sie wollen etwas in die Hand bekommen, um in einer belastenden Situation aktiv zu bleiben. Das gibt ihnen Sicherheit, und sie fühlen sich den von allen Seiten hereinprasselnden Meldungen nicht mehr so leicht ausgeliefert. Im Gespräch mit ihrem erwachsenen Gegenüber jemanden erlebt zu haben, der sich offen und ehrlich mit ihnen auseinandersetzt, bestärkt sie in ihrem Wunsch, aktiv am Weltgeschehen teilzunehmen. Für uns Erwachsene geht es also immer darum, die Kinder und Jugendlichen zu unterstützen, damit sie in schwierigen Lebenssituationen Zuversicht und Hoffnung behalten und nach Lösungen suchen.

Abschreckung führt in die Irre

Die Frage, wie man mit Kindern über so schwierige Fragen wie den Krieg sprechen kann, hat die Menschen schon immer beschäftigt. So kann die Friedenserziehung auf lange Erfahrungen zurückblicken. Versuche, bei der heranwachsenden Generation eine Abscheu gegenüber dem Krieg zu erzeugen und den Wunsch nach Frieden zu wecken, indem man sie durch Ausstellungen führte mit Bildern, welche die Greuel des Krieges zeigten, bewirkten das Gegenteil. Die damit konfrontierten Kinder entwickelten entweder Ängste, Nervosität oder Unsicherheit, oder sie bildeten eine Gewöhnung an Gewalt und gefühlsmässige Abstumpfung aus. Studien aus der Entwicklungspsychologie erforschten auch die dafür verantwortlichen Gründe. Die Konfrontation mit den Greueln und Grausamkeiten, wie sie leider zu einem Krieg gehören, untergraben das Grundvertrauen eines Kindes in seine Mitmenschen, in das menschliche Zusammenleben überhaupt. Damit wird ihm eine wichtige Grundlage für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung entzogen. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen gerade in schwierigen Zeiten als Vorbilder den Weg des Friedens vorleben und ihnen den notwendigen Schutz geben, damit ihre seelische Entwicklung nicht leidet (vgl. Zeit-Fragen Nr. 21 vom 21. September 2021).

Keine Feindbilder erzeugen – ein friedliches Zusammenleben fördern

Die eigene Auseinandersetzung mit dem aktuellen Weltgeschehen wird uns davor schützen, leichtfertige Erklärungen und Schuldige zu finden. Denn gerade das Gespräch mit den Kindern verlangt von uns, in die Zukunft zu denken. Wir dürfen diese komplexen Abläufe, die zu einem Krieg oder einer Katastrophe geführt haben, nicht auf Pauschalurteile über bestimmte Länder und gewisse Personen reduzieren. So erzeugte gefühlsmässig verankerte Feindbilder erschweren das Zusammenleben der Menschen. Feindbilder sind keine Unterstützung für unsere heranwachsende Generation, denn sie wird weiter daran arbeiten müssen, dass die Welt gerechter und friedlicher wird. Unseren Kindern und Jugendlichen die Hoffnung und Zuversicht darauf zu geben, sind wir ihnen schuldig, denn:
  «Wo Hoffnung ist, da ist Leben. Es erfüllt uns mit neuem Mut und macht uns wieder stark.» (Anne Frank)  •



1 Vereecken, Kathleen. Alles wird gut, immer. Gerstenberg-Verlag 2021

Erscheint demnächst:
Maas, Rüdiger/Perret, Eliane. Wie ich mit Kindern über Krieg und andere Katastrophen spreche. Brainbook-Verlag

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