Polyperspektivischer Geschichtsunterricht in einer multipolaren Welt

Auftrag des Gymnasiums: «Kontroverse Fragestellungen» «von mehreren Seiten ausleuchten» und zu einem selbständigen Urteil kommen

von Tobias Salander

Gemäss den Schulgesetzen der diversen Schweizer Kantone müssen die öffentlichen Schulen politisch und konfessionell neutral sein. Gleichzeitig gehört es in der Schweiz gemäss Maturitätsanerkennungsreglement der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) zu den Bildungszielen des Gymnasiums, die geistige Offenheit und die Fähigkeit zum selbständigen Urteilen der Schülerinnen und Schüler zu fördern, wie zum Beispiel der Regierungsrat des Kantons Aargau jüngst zu Handen seiner Lehrkräfte in Erinnerung rief: «Dazu gehört zweifellos auch die Auseinandersetzung mit aktuellen, auch politischen Themen. Ziel ist es, dass sich Schülerinnen und Schüler mit solchen häufig kontroversen Fragestellungen befassen, diese von mehreren Seiten ausleuchten und lernen, ihre Ansichten mit Argumenten zu untermauern und überzeugend zu vertreten.»1

Wer heute als Lehrperson tätig ist, insbesondere als Lehrperson für Geschichte oder politische Bildung, sieht sich in Erfüllung der klaren gesetzlichen, den inneren Frieden fördernden Vorgaben vor einer grossen Herausforderung. Wir leben in einer Zeit voller Schreckensmeldungen aus Kriegsgebieten, man denke nur an die Situation der 24 Millionen Afghanen, die vor dem Hungertod stehen, die prekäre Situationen der Menschen im Jemen, im Kongo, in Syrien, Libyen, um nur einige zu nennen. Momentan wird alles überschattet durch Meldungen über den Krieg in der Ukraine und zu den Flüchtlingen, die in den Städten, Gemeinden und Dörfern Europas ankommen und mitmenschliche Zuwendung, Schutz und Fürsorge brauchen. Wie jeder Mensch, der als Flüchtling zu uns in die reichen Länder Europas kommt.
  Polyperspektivität, um den modernen Ausdruck zu gebrauchen, ist in unseren Schulen also angesagt, heute mehr denn je. Eine eurozentrierte Engführung des Blicks auf die Welt ist passé. Jede Lehrperson, die den gesetzlichen Vorgaben nachkommt und die Schülerschaft als junge Heranwachsende ernst nimmt, wird also in ihrem Unterricht zuerst einmal, zumal im Geschichtsunterricht, das Vorwissen der ihr anvertrauten Schar junger Menschen sammeln und in Erinnerung rufen, dass man sich in Ruhe zuhört, die Meinung des Klassenkameraden respektiert, wenn man sie auch nicht immer billigt. Je multikultureller die Klasse, desto spannender, desto grösser die Chance, dass das vorliegende Problem schon in der Einstiegsphase «von mehreren Seiten ausgeleuchtet» respektive angeleuchtet wird. Sicher wird Wladimir, der russische Schüler, die Sicht seiner Verwandten in Russland einbringen, die wahrscheinlich von jener des ukrainischen Kollegen oder der französischen Kollegin abweicht. Oder traut Wladimir sich in der gegenwärtigen Stimmung gegen alles Russische gar nicht mehr zu äussern? Obwohl er weiss, dass der Lehrer jedem Raum gibt, sich einzubringen? Und was sagt Pradeep aus Indien, dessen Heimatland die Sanktionen gegen Russland anders als die Schweiz überraschenderweise nicht mitmacht? Und Ren aus China, dessen System er jeweils voller Nationalstolz in hellsten Farben schildert und deswegen schon oft angeeckt ist? Wie spricht man in den exiltamilischen Kreisen vom Konflikt? In buddhistischen Familien anders als in christlichen? Was sagt Murat aus den irakischen Kurdengebieten, der immer wieder darauf hinweist, dass sein Volk seit Jahrzehnten auf den eigenen Nationalstaat wartet, von den Türken und den Amerikanern aber hingehalten werde? Was Amrit, die junge Sikh-Frau, die jüngst bei der Behandlung von Gandhi diesen einen Hitler genannt hat, zur grossen Verblüffung des Lehrers? Und Özil, der ängstlich jede Erwähnung seines Heimatlandes vermeidet. Wohl wegen der negativen Berichterstattung über Erdogan? Lisa, Rosa und Max mit deutschem respektive Schweizer Hintergrund? Die beiden jungen Damen SPD- und SPS-nah und sich zur Klima-Jugend zählend? Christoph, Mitglied der jungen SVP, der weiterhin an der Staatsmaxime der immerwährenden, bewaffneten Neutralität festhält und sehr gewandt argumentiert und sich gewohnt ist, dass ihm die anderen oft gar nicht mehr zuhören, «weil Blocher»?

Die Positionen der aussenpolitischen Schulen der USA kennenlernen

Der Schreibende hat in bester Erinnerung, was für ein breit gefächertes Meinungsspektrum während seiner Zeit als aktiver Gymnasiallehrer etwa während des Kosovo-Krieges 1999 oder des Irak-Krieges 2003 im Klassenzimmer zusammen- und oft auch aufeinandertraf. Als Lehrer im neutralen Kleinstaat Schweiz, welcher sich damals noch jeglicher Sanktionen enthielt, deswegen aber die Bürger nicht zur Gesinnungsneutralität verpflichtete, wusste er, wie respektiert sein Land in solchen Auseinandersetzungen kriegerischer Art als Vermittler war, wie achtungsvoll von den Guten Diensten und der stillen Diplomatie, aber auch vom Wirken des erst auf diesem Grund tätig werden könnenden IKRK gesprochen wurde. Unvergessen sind ihm Sahit und Blerim, deren Verwandte sich 1999 in der Heimat einen erbitterten Waffengang lieferten, die aber ihre Freundschaft als Serbe und Kosovare weiterpflegten, vor allem über das Schulsportfach Basketball.
  Nach der Sammlung des Vorwissens wird sich die Lehrperson die nächsten Schritte überlegen müssen. Beim Blick in die Medienlandschaft fällt ihr schnell auf, dass zwar viel über russische geostrategische Masterpläne, «fake news», Grössenwahn, imperiales Machtgehabe, Krieg um Ressourcen usw. usw. gesprochen wird – was aber in der europäischen Medienlandschaft, anders als in den USA, fast gänzlich fehlt, ist ein Blick auf die diversen, miteinander natürlicherweise rivalisierenden Ansätze in der US-Aussenpolitik. Ist der Lehrer schon in vorgerücktem Alter, wird er sich an die Debatte 1999 und nach 9/11 erinnern, welche seine jetzigen Schüler nicht erlebten, da noch nicht geboren. Da ging es um die Begriffe «preemptive strike», Art. 51 Uno-Charta mit dem Recht auf Selbstverteidigung, Art. 1.2 und Art. 2.1 Uno-Charta, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die souveräne Gleichheit aller ihrer Mitglieder, ein systemischer Widerspruch der Uno-Charta, Art. 5 Nato-Vertrag, Bündnisfall, «völkerrechtswidriger Angriffskrieg». Es ging um «fake news», Kriegslügen, die zum Teil danach eingestanden wurden: von Gerhard Schröder, der selber den Luftkrieg gegen Serbien 1999 als völkerrechtswidrig einstufte, um Colin Powells später von ihm selbst eingestandene und als grösste Peinlichkeit seines Lebens bekannte Lüge, Saddam Hussein habe Massenvernichtungswaffen. Und früher der Vietnam-Krieg mit der Lebensbeichte des damaligen US-Verteidigungsminister McNamara, der sich selber als Kriegsverbrecher bezeichnete, mit 85 Jahren; kurz vor seinem Tod hatte sich das Gewissen des irischstämmigen Katholiken gemeldet …
  Seit der Debatte um George W. Bush und seine Bush-Doktrin, um seine Berater und Kabinettsmitglieder, die sich selber neokonservativ nannten und sich um Zeitungen wie Commentary scharten, seit der scharfen Kritik am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA gegen den Irak 2003 – so später durch den ehemaligen Uno-Generalsekretär Kofi Annan –, seither war es zumindest in Europa medial in Vergessenheit geraten oder als politisch inopportun erachtet worden, die diversen aussenpolitischen Schulen der USA zu thematisieren. Dabei weiss jeder, der sich mit der Aussenpolitik der USA befasst, spätestens seit 2003, und darum kommt kein Lehrer herum, der die Geschichte der letzten 30 Jahre im Unterricht thematisiert: Neben, hinter und im Schosse der beiden Parteien der Demokraten und Republikaner ringen die diversen aussenpolitischen Schulen der USA um Einfluss und Spitzenpositionen und um Durchsetzung der von ihnen als richtig erkannten Politik: genannt werden in US-Medien da nebst den bereits erwähnten Neokonservativen (u. a. Norman Podhoretz, Paul Wolfowitz, Dick Cheney, Robert Kagan und seine Gattin Viktoria Nuland) die liberalen Internationalisten (u. a. Francis Fukujama, die Clintons) und die Realisten und Neorealisten (von Henry Kissinger über Robert McNamara, Paul Nitze, George F. Kennan bis John Mearsheimer). Drei Gruppen, die mit ihren unterschiedlichen, teils aber auch überlappenden Ansichten Einfluss auf die Präsidentschaften eines George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump zu nehmen versucht hatten. Und wie steht es mit Joe Biden? Wer sind seine Berater? Welchen Schulen gehören seine Minister und Kabinettsmitglieder an? Wohin versuchen sie den grossen Dampfer USA und ihren Kapitän zu steuern?

An «Foreign Affairs» kommt keiner vorbei, der ernstgenommen werden will

Hat sich die Lehrperson entschieden, diese Schulen gerade auch wegen ihrer unterschiedlichen Bewertungen des Ukraine-Kriegs – Stellungnahmen, die man in Europa kaum zu hören bekommt – in gebotener Kürze zu präsentieren oder von den Schülerinnen und Schülern erarbeiten zu lassen, stellt sich ihr die Frage, wie einsteigen. Wie diese Schulen möglichst neutral darstellen, wie die Schülerinnen und Schüler befähigen, sie zu unterscheiden und in Beziehung zu den heutigen Abläufen zu bringen? Es braucht Aufwand von seiten der Lehrperson, findet sie doch in den Tagesmedien kaum Artikel zum Thema. Also wird sie US-Webseiten besuchen müssen – englische Sprachkenntnisse sind ein Muss. Und sie wird schnell fündig. Alle grossen Schulen haben ihre Webseiten, deren Exponenten sind Professoren an US-Universitäten, auf YouTube finden sich Mitschnitte von Vorträgen inklusive Powerpointfolien und Transskripten.
  Da die Lehrkraft regelmässig, aus Interesse und als Hintergrundsvorbereitung, Vorträge der Vertreter dieser Schulen über YouTube hört, wird sie als Einstieg in die Thematik einen Vortrag auswählen, der einen Überblick über alle Schulen gibt, und die Schüler darauf hinweisen, dass die Aussagen natürlich eingefärbt sind, man dann in der Folge aber die einzelnen Positionen mit Originaldokumenten aus der Innensicht kennenlernen werde. 
  Die Wahl könnte z. B. auf einen Vertreter der Neorealisten fallen, von dem auch Artikel in einer der renommiertesten Zeitschriften der US-Aussenpolitik abgedruckt werden, in Foreign Affairs des Council on Foreign Relations. So lernen die Schülerinnen auch gerade die aussenpolitische Zeitschrift schlechthin kennen, welche ihre Spalten den Vertretern aller aussenpolitischen Schulen öffnet und deswegen zur Pflichtlektüre eines Historikers und in jede bessere Schulbibliothek gehört.
  Der ausgewählte Vortrag, der besagten Überblick über die aussenpolitischen Schulen gibt, trägt den Titel «The great delusion» und stammt von John Mearsheimer.2
  Die Schüler erfahren, dass Mearsheimer, ehemaliger Mitarbeiter am Council on Foreign Relations in New York, R. Wendell Harrison Distinguished Service Professor für Politologie an der Universität Chicago ist und mehrfach preisgekrönt wurde. So ist er u. a. Träger des James Madison Award 2020 der American Political Science Association, der alle drei Jahre an einen amerikanischen Politikwissenschaftler verliehen wird, der herausragende wissenschaftliche Beiträge geleistet hat. Im Jahr 2003 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences gewählt und war ein scharfer Gegner des Irak-Kriegs von 2003. Laut Wikipedia, die sich für einen ersten Überblick nicht schlecht eignet, ist er «Hauptvertreter einer Richtung der neorealistischen Theorie in internationalen Beziehungen, die als Offensiver Neorealismus bezeichnet wird. Nach dieser Theorie sind Staaten mit einem gegebenen Mass an Macht nicht zufrieden, sondern streben aus Sicherheitsgründen nach Hegemonie». Weswegen es nach Mearsheimer auch zu einem Schlagabtausch zwischen China und den USA kommen wird. Ein Punkt, der den chinesischen Schüler Ren sicher hellhörig machen wird.
  Mearsheimer, und so liesse sich auch gerade ein aktueller Aufhänger generieren, hat sich am 1. März im «New Yorker» in einem Interview3 zum Krieg in der Ukraine geäussert und dort wiederholt, was er schon 2014 in Foreign Affairs publiziert hatte.4
  Der einige Schülerinnen und Schüler, und nicht nur sie, sicher verwirrende Titel lautete: «Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. The Liberal Delusions That Provoked Putin» («Warum die Ukraine-Krise der Fehler des Westens ist. Die liberalen Wahnvorstellungen, die Putin provozierten»).5

Widersprüche zwischen US- und europäischen Narrativen erkennen

Die Schülerinnen und Schüler bekämen den Auftrag, sich die verschiedenen Schulen zu notieren, die erwähnt werden, die Position des Referenten nachzuvollziehen, mit den Meldungen aus den Medien, die sie zu Rate ziehen, zu vergleichen, unbekannte Begriffe nachzuschlagen. Mit Hilfe des Lehrers, der Lehrerin würden die verschiedenen Punkte dann im Plenum vorgetragen, woraus sich unweigerlich eine spannende Diskussion und weiterführende Fragen ergäben. Denn Mearsheimer wie Kennan und die anderen Realisten respektive Neorealisten, anfänglich selbst Henry Kissinger, sehen die Schuld ganz beim Westen, in der Vorgeschichte, der Nato-Ost-Erweiterung, die Russland nicht erst seit Putin abgelehnt habe, und er betont, die USA würden umgekehrt, gestützt auf die Monroe-Doktrin, auch nicht dulden, dass die Russen Stützpunkte auf dem amerikanischen Doppelkontinent errichteten. Und eben: Russland hätte gewonnen werden müssen für den grossen Kampf gegen China, der unweigerlich kommen werde.
  Da die meisten Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund wohl einen eklatanten Widerspruch zwischen ihren konsultierten Medien respektive den Verlautbarungen des Leiters der EU-Task-Force für Strategische Kommunikation, Lutz Güllner, (z. B. zur Ursache des Krieges und der Rolle der Nato, vgl. «Neue Zürcher Zeitung» vom 11. März 2022, siehe auch Kästchen) und den Aussagen Mearsheimers erkennten, wäre der Denkprozess angeregt und der Unterricht liesse sich in verschiedenste Richtungen weiterentwickeln.
  Das ist es, was den Geschichtsunterricht so spannend macht, den Lehrer aber immer auch sehr herausfordert, selber à jour zu bleiben und möglichst viele Medien aus der ganzen Welt zu konsultieren, um einer europazentrischen Engführung seines Blickes gegenzusteuern und den gesetzlichen Vorgaben gerecht zu werden. Dass dies auch zeitlich ein grosser Aufwand ist, versteht sich von selbst, aber schliesslich sind die Saläre von Gymnasiallehrpersonen ja auch gut bemessen. Und günstigerweise verfügt die Lehrperson auch über Neugier, einen wachen Forschergeist und ein breitgefächertes Beziehungsnetz im In- und Ausland, welches auch gepflegt sein will. Und es kann schon hilfreich sein, wenn er beim nächsten Handwerkertermin die oft aus dem Ausland stammenden Fachkräfte fragt, wie sie die Weltlage einschätzen. Was da zurückkommt, ist reichhaltig und ergänzt in idealer Weise die eigene Perspektive auf die Welt.
  Nun könnte der Unterricht wie folgt weitergeführt werden: Die von Mearsheimer zitierten Exponenten der anderen Schulen könnten ebenfalls mit Artikeln und Vorträgen auf YouTube begutachtet werden, immer aus ihrer Innensicht. So wäre etwa zu klären, was unter «Bush-Doktrin» zu verstehen sei, wer die Neokonservativen sind, und wer die liberalen Internationalisten. Die Schüler würden staunen, dass die US-Aussenpolitik zwar parteipolitisch differiert, aber die Anzahl der Meinungen und Schulen vielfältiger ist und zum Teil gar parteiübergreifend. Sicher würde dann die Frage auftauchen, was Francis Fukujama mit seinem Diktum des «Endes der Geschichte» gemeint hatte, warum der Kalte Krieg endete, was mit der Sowjetunion geschah, wie die neunziger Jahre in Russland sich anfühlten. Was die Sowjets, dann die USA in Afghanistan zu suchen hatten, wie die Aussage des US-Generals Wesley Clark zu verstehen war, dass schon 2003 im Pentagon mehrere Kriege geplant gewesen seien gegen Libyen, Syrien, Jemen, den Iran usw. Sicher würde man auch den Begriff der Verschwörungstheorie streifen und untersuchen, wer diesen Begriff wann in den politischen Diskurs einbrachte und was diese von realen Verschwörungen in der Geschichte unterscheidet.

Unterscheiden zwischen Anlass und Ursachen eines Krieges – eine Anfängerübung

Und das alles bei zwei Lektionen Geschichte in der Woche? Wie soll eine Lehrerin da auswählen, wo die Schwerpunkte setzen? Sie wird es, unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben der Neutralität und der Polyperspektivität und des Lehrplans mit den Schülern gemeinsam entwickeln.
  Die Schüler aller gymnasialen Stufen haben in der Oberstufe der Volksschule bereits gelernt, dass jeder Krieg einen Anlass und eine Ursache habe. Der Schuss von Sarajewo als unmittelbarer Anlass, der aber nicht zu verstehen wäre, wenn nicht die Ursachen untersucht würden, hier die imperialistische Politik der damaligen Grossmächte und deren Bündnisgeflechte. Soziale, wirtschaftliche, finanzpolitische und rüstungspolitische Aspekte wurden je nach Lehrperson eventuell auch schon einbezogen. Und auch, was Kriegs-Propaganda in den Menschen auslöst.6
  Da die Medien voll sind mit Artikeln über die Tatsache, dass das erste Opfer des Krieges immer die Wahrheit ist, da CIA-Experten über die Bedeutung der Medienkriegsführung interviewt werden (vgl. etwa «Tages Anzeiger» vom 14. März), wäre hier bereits Stoff für weitere Lektionen gegeben, günstigerweise in Zusammenarbeit mit Medienkunde- und Deutschlehrkräften. Aber auch die Fremdsprachenlehrer könnten einbezogen werden, heute auch Lehrkräfte für Arabisch, Russisch und Chinesisch, Sprachen, die seit neustem ja jedes Gymnasium, welches etwas auf sich hält, im Freifachprogramm anbietet. Auch Filme liessen sich visionieren, wie z. B. jener des dreifachen Oscar-Preisträgers Oliver Stone, «Ukraine under fire», und bei oberen Klassen könnte eine Fragestellung mit auf den Weg gegeben werden: Handelt es sich um «stiefelleckende Propaganda» (Kommentar in der Zeitschrift Daily Beast) oder Aufklärung unter Einbezug von Zeitzeugen? Die Schülerinnen wären gehalten, Argumente pro und contra zu sammeln. Und wenn sie dabei auch noch etwas über den grossen investigativen US-Journalisten Robert Parry erfahren, der den Iran-Contra-Skandal aufdeckte, um so besser.
  Wenn es um die Frage nach Neonazis in der Ukraine geht, Stichwort Asow-Regiment (vgl. «Tages Anzeiger» vom 12. März), so wäre es sicher spannend, israelische Stimmen zu sammeln. Günstigerweise hat die Geschichtslehrkraft auch die eine oder andere israelische Zeitung wie «Haaretz» oder «Jerusalem Post» abonniert, die auch über englische Ausgaben verfügen. Die Schüler werden Einblick in das spannende Verhältnis Israels zu den USA und Russland erhalten, und unweigerlich werden Fragen nach der Geschichte des Nahen Ostens auftauchen – und die nächsten Lektionenreihen sind schon vorgespurt. Wer sich nun denkt, dass die zwölf Wochen unterrichtsfreie Zeit von Lehrpersonen sicher für Geschichtslehrkräfte gerechtfertigt sind, angesichts des immensen Lesepensums, das von ihnen erwartet wird, liegt sicher nicht falsch. Horribile dictu, wenn eine Lehrkraft nur gerade die einheimischen Medienprodukte zu Rate zöge!

… und bin so klug als wie zuvor?

Was aber, wenn sich die Schülerinnen und Schüler am Ende der Lektionenreihe sagen müssten, so wie im Deutsch-Unterricht bei Goethes «Faust» gelesen: «Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor»? Nun ja, wäre das so schlimm? Ist nicht eine Geschichtsstunde dann gelungen, wenn man mit mehr Fragen an die Geschichte als zuvor nach Hause geht?
  Es ist schon viel gewonnen, wenn die Jugendlichen danach das Gewirr im Mediendschungel bewusster verfolgen können und sich langsam beginnen, eine eigene Meinung zu bilden – wie die sich dann präsentiert, ist ja jedem freigestellt. Wenn die Schüler die Lernziele «Einblick in den US-aussenpolitischen Diskurs», «Medien und ihre Blickwinkel», «EU-Task-Force für strategische Kommunikation», «Kriege im Atomwaffenzeitalter» usw. nur annähernd erfüllt sehen, ist schon viel gemacht und der Forderung des Gesetzgebers, verschiedene Perspektiven kennenzulernen, genüge getan. Wenn sie später in ihren Berufen, der Familie und als Mitbürger dazu beitragen können, die Welt friedlicher zu gestalten, jenseits von Ideologien und Propaganda, kann sich jeder Pädagoge, dem der Weltfrieden am Herzen liegt, nur glücklich schätzen.  •



1 zit. nach https://www.watson.ch/!533754759?utm_medium=social-user&utm_source=social_app
2 https://www.youtube.com/watch?v=nZVIaXFN2lU, das Buch dazu: John Mearsheimer. The Great Delusion: Liberal Dreams and International Realities (Henry L. Stimson Lectures) Yale University Press 2018.
3 https://www.newyorker.com/news/q-and-a/why-john-mearsheimer-blames-the-us-for-the-crisis-in-ukraine
4 https://www.foreignaffairs.com/articles/russia-fsu/2014-08-18/why-ukraine-crisis-west-s-fault
5 Und der Vortrag dazu: Why is Ukraine the West's Fault? Featuring John Mearsheimer.University of Chicago. https://www.youtube.com/watch?v=JrMiSQAGOS4
6 vgl. Forster, Peter. Aber wahr muss es sein: Information als Waffe. Huber, Frauenfeld 1998. ISBN 3-7193-1154-6; Becker, Jörg; Beham, Mira. Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod. Nomos-Verlag 2008; Müller-Ullrich , Burkhard: Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus. Blessing, München 1996, ISBN
3-896-67002-6

«Task-Force für strategische Kommunikation» der EU versus John Mearsheimer und andere

ts. Die EU hält sich seit 2015 eine «Task-Force für Strategische Kommunikation».1
  Deren Leiter Lutz Güllner wacht im gegenwärtigen Ukraine-Konflikt über allfällige Falschmeldungen und Propaganda von seiten Russlands. In einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 11. März nennt er als eine der prominenten Falschmeldungen, über die seine Behörde aufkläre, jene über Ursache und Wirkung des Krieges. Güllner: «Hier werden der Westen und die Nato als eigentliche Aggressoren dargestellt.» Spannend wäre es gewesen, wenn der Interviewer Güllner mit den Aussagen von US-Politologen wie dem Madison-Preisträger und ehemaligen Mitarbeiter am Council on Foreign Relations in New York John Mearsheimer konfrontiert hätte, wonach eben genau der Westen und die Nato schuld seien am Krieg, weil sie die Nato-Ost-Erweiterung forciert hätten. Der Politologe Mearsheimer von der Universität Chicago gehört der neorealistischen aussenpolitischen Denkschule in den USA an. Er war gegen den Irak-Krieg von 2003 und sieht die wahre Gefahr für die USA in China – dazu brauche man Russland als Partner und sei gut beraten, die Ukraine zu neutralisieren. Gerne hätte man von Lutz Güllner erfahren, wie er den US-Patrioten Mearsheimer und seine Aussagen einordnet. Als russische Propaganda, die es zu zensurieren gilt?



1 vgl. https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-8-2016-0290_DE.html

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