Moderne Literatur verstehen

von Alexander Meier

«Die Struktur der modernen Literatur» – so lautet der Titel der vielerorts sehnlichst erwarteten 6. stark erweiterten und gründlich aktualisierten Auflage des Standardwerks von Prof. Dr. Mario Andreotti, Autor und Dozent für Neuere deutsche Literatur. Es vermittelt einen einzigartigen, faszinierenden Zugang zur Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts.

Ausgangspunkt ist die häufig fehlende Resonanz moderner Literatur, das Misstrauen, das ihr entgegengebracht wird.

Enormer geistiger und
gesellschaftlicher Wandel seit 1900

Gerade moderne Romane enttäuschen oftmals die Leseerwartungen. Der Bruch mit überkommenen Formen, mit traditionellen Strukturen der bürgerlich-realistischen Texte irritiert. Ein wohl urmenschliches Bedürfnis nach Harmonie und Ausgleich wird nicht bedient.
    Weswegen ist das so? Warum schreiben moderne Autoren anders als beispielsweise Gotthelf oder Keller?

Andreotti betrachtet solche Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und dem Einfluss geistiger Kräfte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
    Der rasante Fortschritt in der Technik bringt dem Menschen beinahe unbegrenzte Möglichkeiten. Neue Verkehrs- und Kommunikationsmittel führen zu einer zunehmenden Vernetzung der Welt. Der Dateienaustausch geschieht heute grösstenteils digital über die virtuelle Welt des Internets. Damit hat sich das Bewusstsein von Raum und Zeit verändert.
    Ist alles besser geworden? Ein weites Feld. Vieles ist anders geworden. Werte haben sich verschoben, seit das Christentum mehr und mehr in Frage gestellt wurde.
    Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich der moderne Mensch in einer Massengesellschaft wieder: identitätslos, anonym. Er fühlt sich an die Technik und die gesellschaftlichen Bedingungen ausgeliefert. Gefühle der Vereinzelung stellen sich ein. Rationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft führen zu einer zunehmenden Verknappung der Arbeit. Der Mensch wird nach und nach überflüssig, letztlich Abfallprodukt der Gesellschaft, die ihre nutzlosen Glieder einfach ausstösst. Das anthropozentrische Weltbild, wonach der Mensch Sinnmitte der Welt ist, scheint endgültig verabschiedet zu sein. Ein Umstand, den Nietzsche mit seiner These vom Tod des Menschen vorausgesehen hat.
    Dass Literatur auf den Wandel reagiert hat und noch immer reagiert, ist selbstverständlich. Aber wie tut sie das?
    Der Autor beschreibt die Neuerungen an vielen gut erläuterten Textbeispielen. An dieser Stelle seien lediglich drei davon genannt. In «Homo faber» von Max Frisch hat sich die Erzählweise im Vergleich zu älteren Texten ganz offensichtlich verändert. Wie zeigt sich das? Frisch erzählt nicht mehr chronologisch. Vergangenes wird in Form von Rückblenden erfahren. In dieser diskontinuierlichen Erzählweise spiegelt sich der moderne Mensch, der ein anderes Bewusstsein von Zeit und Epoche hat. Spätestens seit Freud wird die Wirklichkeit in Partikeln wahrgenommen. Vergangenes und Zukünftiges vermischen sich. In «Homo faber» wird der Tod von Professor O mitgeteilt, und zwanzig Seiten später ist Professor O wieder lebendig.
    Auch das Menschenbild ist nicht mehr das gleiche. In der modernen Literatur finden sich kaum einmalige Persönlichkeiten. Der Held existiert nicht mehr, es ist keine Rede mehr vom «grossen Kerl» wie noch in der Zeit des Sturm und Drang. Modern ist jetzt der Antiheld.
    Häufig sind die Figuren namenlos. In Franz Kafkas «Der Prozess» wird die Welt als Gericht, als gewaltige Bürokratie erlebt. K. ist ihr gnadenlos ausgeliefert.
    In Elfriede Jelineks «Die Liebhaberinnen» tritt keine Figur aus dem Kollektiv der Figuren heraus. Alle, restlos alle werden auf ihren Marktwert reduziert. Ganz im Gegensatz zum traditionellen Liebesroman.
    Die Neuerungen betreffen auch die Rolle des Erzählers. Im traditionellen Roman, etwa bei Gotthelf, blickt er überlegen von oben herab. Ein auktorialer Erzähler hat den souveränen Überblick. Der Dichter hat ein festes Weltbild. Das gibt es nun nicht mehr. Der Erzähler, richtiger, der personale Erzähler hat eine beschränkte Optik. In Kafkas Roman weiss er ebensowenig wie K. etwas über den Grund der Verhaftung. Die Wirklichkeit entzieht sich jeder Deutung.

Themenvielfalt und
Aktualität der 6. Auflage

An der Buchvorstellung in St. Gallen wurde gesagt, «Die Struktur der modernen Literatur» sei eigentlich ein Band, der aus vielen Bänden bestehe. Zu Recht, denn die Themenvielfalt ist ausserordentlich gross. Die Entwicklung der modernen Literatur wird vom Montageroman bis hin zur digitalen Literatur, bis zum Handyroman und zur Handylyrik anhand von topaktuellen Beispielen analysiert. Das Kapitel «Buch und Markt» gewährt spannende Einblicke in die Gesetze des Literaturbetriebs. Der Begriff «modern» erfährt eine Bestimmung nach neuen, ganzheitlichen Kriterien. Stets werden komplexe Sachverhalte hervorragend auf den Punkt gebracht. Nie, und das muss, um Missverständnissen vorzubeugen, unbedingt gesagt werden, geht es um eine Abwertung älterer Literatur. Die Frage steht dennoch im Raum: Was ist denn nun gute Literatur? Andreotti geht auf das Problem im erweiterten letzten Kapitel ein, indem er Leserinnen und Leser dazu auffordert, über zwölf Kriterien nachzudenken, die zur ästhetischen Qualität eines literarischen Textes beitragen können, wenn sie zurückhaltend in Betracht gezogen werden. Quintessenz, pointiert: Technik ist nicht alles.
   «Die Struktur der modernen Literatur» ist ein leserfreundliches Buch, das sich nicht nur an Studierende und Lehrende, sondern ganz bewusst an ein breites, literarisch interessiertes Publikum richtet. Zudem auch an Autorinnen und Autoren, um ihnen den Einstieg in moderne Texte zu erleichtern. Es liest sich mit grossem Erkenntnisgewinn und mit grossem intellektuellem Vergnügen.•

 

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