Die Schweiz ist neutral – oder nicht länger die Schweiz

von Erika Vögeli

Seit mehr als 30 Jahren versuchen gewisse Kreise, die Schweiz politisch neu auszurichten. Ohne Volksauftrag, ohne vorgängige Diskussion wird unablässig daran gewerkelt, unser Staatsverständnis umzupolen. Liest man den aussenpolitischen Bericht des Bundesrates von 1988 und vergleicht ihn mit der Politik ab Beginn der 1990er Jahre, so könnte die Diskrepanz kaum grösser sein. Noch 1988: ein klares Bekenntnis zur direktdemokratischen Schweiz und ihrer Neutralität, deren Einbindung in eine EU, deren Annäherung an die Nato oder andere internationale Organisationen nur um den Preis ihrer Selbstaufgabe möglich wäre. Seit den 1990er Jahren: eine permanente Berieselung der Schweiz mit defätistischen Vorwürfen à la «Rosinenpickerei», «mangelnder Solidarität», Verweisen auf «überholte Vorstellungen» und «Verhaftung in Mythen». Der Slogan zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft von 1991 «700 Jahre sind genug» war Programm.

Woher und wozu all das?

Vermehrt eingesetzt hat dieses mediale und politische Trommelfeuer gegen die Schweizer Identität mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Ende der UdSSR und dem frohlockenden Rausch der US-amerikanischen Macht-Eliten über den «Sieg» im Kalten Krieg, das «Ende der Geschichte» und den Anbruch eines «goldenen» US-Zeitalters. George H. W. Bush verkündete eine «neue Weltordnung», man plante ein «neues amerikanisches Jahrhundert», in dem die USA die militärische Überlegenheit in allen Sphären auf dem ganzen Globus erreichen wollten.
  All dies hat auch in der Schweiz seine Wirkung entfaltet. Einigen einflussreichen Exponenten in Politik, Wirtschaft und Medien scheint das auch hierzulande derart imponiert zu haben, dass man den «Anschluss an die Geschichte» auf keinen Fall verpassen wollte. Unter der Parole «den Staat neu denken», so eine Grossveranstaltung in Bern zu jener Zeit, wurde der Schweiz aus Kreisen der Verwaltung eine Reformdoktrin übergestülpt, die sich nicht an unseren Notwendigkeiten, sondern u. a. an den Vorgaben internationaler Institutionen wie der OECD und der EU ausrichtete.
  Man schrieb nun die Geschichte um, man trommelte und giftelte gegen alles Bisherige, oft allein mit dem Argument, dass Bewährtes eben keine Neuerfindung war, die Schweiz im «Reformstau» stecke – ohne zu hinterfragen, ob etwas wirklich reformbedürftig war, und dazu Erfahrung und Einsicht heranzuziehen, um die Folgen all dieser «Neuerungen» und Segnungen einer «neuen Weltordnung» auch nur im Ansatz abzuwägen.
  Der Staat und alle Bereiche des dem Gemeinwohl verpflichteten  – und weitgehend gut funktionierenden – Service public hatten wirtschaftlich rentabel und «effizient» zu werden. Unter dem Motto «Verschlankung des Staates» begann man – nicht nur in der Schweiz – den Staat zum Exekutivbüro global vernetzter Firmen (Stichwort Privatisierung des öffentlichen Sektors) umzuformen – die Verwaltung durchlief in Wirklichkeit eine Mastkur. Die Reformen erfolgten zunehmend über Verwaltungsakte und Kampagnen wie «Zukunftswerkstätten» und Ähnlichem, anstatt über die bewährten direktdemokratischen Abläufe.
  Man krempelte das Gesundheitswesen um – das bis dahin als eines der besten der Welt beurteilt wurde. Man begann die Schulen zu reformieren, angeblich auf «Wirtschaft» zu trimmen, und ruinierte unsere hervorragende Volksschule zu einem Schatten ihrer selbst, so dass der Schweiz wohl demnächst die einzige Ressource, auf die sie jahrzehntlang baute, ihr solides Bildungswesen, gänzlich ausgeht, denn ein paar Superschüler vermögen nicht auszugleichen, was eine breite und gute Bildungsgrundlage für eine gesunde Volkswirtschaft und eine lebendige Demokratie bedeutet. Man verscherbelte das Tafelsilber an der Börse oder mittels Übernahme amerikanischer Managementmethoden und wunderte sich, wenn ausländische Grossinverstoren wenig für die kleine Volkswirtschaft übrig hatten. Gegen den Volkswillen – zum Beispiel im Bereich der Stromversorgung – begann man auch, den Service public anzusägen. Der Appetit auf zentralistische Machtanwandlungen griff in verschiedenen politischen Parteien um sich.

Nato-Annäherung und Neutralitäts«debatte»

Und man begann die Schweiz Schritt um Schritt an die Nato heranzuführen und versuchte, der Schweizer Bevölkerung die Neutralität madig zu machen. Das war nicht wirklich möglich – zu deutlich sprach sich die Bevölkerung immer wieder für den Erhalt der Neutralität aus, zu sehr ist diese im Fühlen und Denken mit dem gesamten Staatsverständnis, der Existenz der Schweiz verbunden. So verlegte man sich darauf, die ganze Auflösungsstrategie als durchaus mit der Neutralität vereinbar zu verkaufen. Anstelle ehrlicher Sachdiskussion hielten PR-Methoden, psychologische Kriegsführung mit Verunglimpfung und Herabsetzung Einzug. Man schiebt die Forderung nach Solidarität vor – und kaschiert mehr schlecht als recht das Einspuren auf willfährigen Nachvollzug von Forderungen und Drohungen angesichts der anmassenden transatlantischen Attacken.
  Abgesehen von gröberem Geschütz verlegt sich die Diskussion auf eine pseudointellektuelle Debatte um neutralitätsrechtliche Aspekte. In Politik und Medien kreist man vorwiegend darum, wie das völkerrechtliche Neutralitätsrecht auszulegen sei. Das ist nicht nur eine schlechte Rechtfertigung für die peinliche Unterordnung unter die Ansprüche eines Möchtegern-Welthegemons im Niedergang samt seinem Ableger in Brüssel. Vor allem lenkt eine solche Diskussion das Denken in eine völlig falsche Richtung, denn sie ignoriert den Kern, den eigentlichen Gehalt der schweizerischen Neutralität.

Schweizerische Neutralität –
mehr als völkerrechtliche Rechte und Pflichten

Diese ergab sich in der Geschichte nicht einfach aus der konformen Anwendung völkerrechtlich festgelegter Rechte und Pflichten. Sie ist mehr als eine vom Völkerrecht umschriebene Maxime der Aussenpolitik, mehr als ein 1815 von den damaligen europäischen Mächten anerkanntes Prinzip. Viel mehr: Sie ist ein mit der ganzen Entstehungsgeschichte und dem Wesen, das heisst mit allen Gegebenheiten unseres Bundesstaates organisch gewachsener Grundsatz. Die Geschichte hat uns sozusagen zur Neutralität «erzogen» – denn ohne sie hätte sich der Bund der Eidgenossen nie über die Jahrhunderte erhalten können und wäre nie zu dem Bundesstaat geworden, auf dessen 175jähriges Bestehen wir in diesem Jahre zurückblicken.
  Es war dabei weniger «weise Voraussicht», die unsere Vorfahren zur Neutralität veranlasste, sondern wohl eher historische Notwendigkeiten und oft genug harte Lektionen, die sie lernten. Was sie dabei – oft vermutlich eher intuitiv – leitete, war das nie aufgegebene und zeitlose, weil grundsätzlich menschliche Ziel: der Erhalt der Freiheit der kleinen Einheit, die auch in der Form des schweizerischen Bundesstaates gewahrt blieb. Hervorgegangen aus dem gewollten, vertraglich entwickelten Bund mit den übrigen Orten, wahrte die Bundesverfassung von 1848 die Gemeindefreiheit und mit dem Föderalismus die weitgehende Eigenständigkeit der Kantone. Diese verfügen über mehr Hoheitsrechte als manches Autonomiestatut anderer Länder gewährt. Und man entwickelte neben der direkten Demokratie auf Gemeindeebene in Form der direkten Volksabstimmung und den Mitteln von Referendum und Initiative die direktdemokratischen Möglichkeiten der Mitgestaltung auch auf kantonaler und auf Bundesebene.

Wille zur Freiheit als treibende Kraft

Dieses von unten nach oben gewachsene Staatsgebilde, das uns – in aller Bescheidenheit – ein Höchstmass an Freiheit und Mitbestimmung, an zivilisierter Austragung von Interessengegensätzen und Konflikten ermöglichte, hätte sich nicht entwickeln können ohne den sich immer wieder durchsetzenden Grundsatz der Neutralität – und diese Neutralität ist umgekehrt auch der Ausdruck einer Geschichte, in der letztlich der Wille zum Erhalt grösstmöglicher Freiheit immer wieder einen Weg fand.
  So ist die schweizerische Neutralität hervorgegangen aus einer Geschichte, in der eine treibende Kraft das natürliche Grundbedürfnis aller Menschen, der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, war – allerdings nicht in der heute aktuellen Variante eines völlig (pseudo-)unabhängigen, nach reiner Selbst-Performance strebenden Individuums, losgelöst von Verpflichtung seinen Mitmenschen gegenüber. Man war und ist als Mensch in erster Linie Mitglied einer Gemeinschaft, ohne die menschliches Leben nicht denkbar ist, und Freiheit bedeutet nicht, ohne Rücksicht auf alles und alle tun zu können, was ich gerade will, sondern meine menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten im Rahmen dieser Gemeinschaft möglichst voll zu entwickeln, sie einzubringen und an der Gestaltung des Zusammenlebens mitzuwirken, es da, wo es mich betrifft, mitzugestalten, denn das macht meine Würde, die Würde des Menschen aus.
  Das genossenschaftliche Prinzip der Selbsthilfe, der Selbstverantwortung und Selbstverwaltung – das sich im übrigen historisch und aktuell weltweit beobachten lässt und durchaus als anthropologische Konstante bezeichnet werden könnte – ist gewissermassen die vorstaatliche Organisationsform menschlichen Zusammenlebens, die nicht der Macht, sondern allen Mitgliedern der Gemeinschaft und ihrem Leben, das heisst dem einzelnen Menschen, so wie er ist, zu dienen hat – lange vor irgendwelchen demokratischen Verfassungen. Diese Freiheit im eigenen Rahmen erhalten zu können war wesentliches Motiv des freiwilligen Bundes der Eidgenossen, der im Grunde aus zahlreichen und unterschiedlichen Bündnisverträgen bestand und sich über die Jahrhunderte ausweitete. Es waren historische Lektionen, die gelernt werden mussten: die Erfahrung, dass diese Freiheit stets gefährdet war und ihr Erhalt Kompromiss und Verzicht auf allzu einseitige Interessenpolitik verlangt.
  Es musste sich ein Bewusstsein entwickeln, dass sich ein so vielgestaltiges, lockeres Gefüge, wie es die Eidgenossenschaft jahrhundertelang war, nur aufrechterhalten liess, wenn man die Selbstbestimmung der anderen Bundesgenossen respektierte: Freiheit war nur zu haben, wenn man die des anderen nicht allzu sehr überging. Neutralität sozusagen im Innern.

Freiheit braucht das Prinzip «Recht vor Macht»

Aber man konnte die Freiheit dieses Bundes und damit die Möglichkeit der Selbstbestimmung seiner Mitglieder über diese ganze Zeit auch nur wahren, wenn man zu verhindern verstand, dass die einzelnen Bundesgenossen von den umgebenden Grossmächten vereinnahmt wurden. Der aus dem Willen zur möglichst weitgehenden Selbstbestimmung hervorgegangene lockere Bund musste sich immer gegen Anziehungsbestrebungen der umgebenden Grossmächte vorsehen. Sein Weiterbestehen hing wesentlich davon ab, seine durchaus auch vorhandenen Konflikte im Innern, so weit möglich, durch Rechtsbestimmungen, Verhandlungen, Verträge oder Schiedsgerichte zu regeln. Nicht von ungefähr war die Schiedsgerichtsbarkeit als Mechanismus der Streitbeilegung unter den Bundesgenossen und die Ablehnung fremder Gerichtsbarkeit von Anbeginn im Bundesbrief verankert – die Anerkennung des Rechtsprinzips vor Macht und Gewalt erwies sich als zwingendes Element der Selbsterhaltung. Sie auferlegte den Mitgliedern der Eidgenossenschaft Zurückhaltung bei der Austragung ihrer Interessengegensätze, wenn sie den gemeinsamen Bund zur Abwehr grossmachtpolitischer Ambitionen der Nachbarn erhalten wollten.
  Damit einher entwickelte sich auch das Verbot, das es den einzelnen Ständen oder Orten, wie die heutigen Kantone damals hiessen, untersagte, ohne die Zustimmung aller anderen mit ausländischen Mächten zu paktieren. Das «Mischt euch nicht in fremde Händel» von Niklaus von Flüe war existentiell für den Zusammenhalt, denn die fremden Händel hätten durch unterschiedliche Parteinahme unweigerlich zu Zwietracht und Auseinandersetzungen im Innern geführt. Nur die Unterordnung der Aussenpolitik unter die Innenpolitik hat uns erlaubt, all die freiheitlichen Institutionen zu entwickeln und bis heute zu erhalten, die wir so schätzen.
  Anders gesagt: Die «geschichtliche Erziehung» zu Kompromiss und vertraglicher Lösung von Interessenkonflikten prägte die Innenpolitik – und stellte die Aussenpolitik in den Dienst der Innenpolitik, sie machte den Staat zum Sachwalter der Freiheit des Individuums und der Gemeinschaft, in der wir leben, und setzte ihm dadurch die notwendigen Grenzen. Daraus entwickelte sich – gewissermassen als Erfahrungswert und Begleiterscheinung der erhaltenen historischen Lektionen, bis heute aber viel zu wenig durchdacht und reflektiert – eine bestimmte Einstellung zum Staat. Wolfgang von Wartburg nannte es eine Grundgesinnung, die er als «politischen Humanismus» beschreibt.1 Diese Grundeinstellung verneint jeden Selbstzweck des Staates, sondern verweist ihn auf die letzte Aufgabe jeder Gemeinschaftsbildung und Organisation: die Schaffung von Bedingungen zur freien Entwicklung aller darin lebenden Menschen. Machtpolitik, gar Grossmachtpolitik, Beherrschung anderer, Einmischung in deren Verhältnisse und Lebensweisen gehören definitiv nicht dazu.
  Ein Ausdruck davon ist die Form der direkten Demokratie, wie sie sich in der Schweiz entwickeln konnte – die einzige Form, die unter der Voraussetzung des mündigen Bürgers eigentlich denkbar ist. Das garantiert natürlich noch lange kein vollkommenes gesellschaftliches Zusammenleben: Dass die realexistierende Form dieses Staates dem Ideal weder historisch je ganz entsprach noch aktuell völlig entspricht, liegt im Wesen menschlicher, menschheitsgeschichtlicher Entwicklung.

Neutralität schafft Freiheit für die Bürger und Solidarität

Diese «Unterordnung der Aussenpolitik unter die Innenpolitik» hat allerdings nichts mit Isolation oder Desinteresse am Schicksal der anderen zu tun. Zunächst gibt es für einen tatsächlichen Rechtsstaat, der sich an völkerrechtliche Grundsätze hält, gar keine andere Aussenpolitik. Die Wahrung des Friedens und der Freiheit der Bürger, der Schutz der eigenen Bevölkerung, die Förderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt – das und nur das gibt dem Staat seine Berechtigung. Die staatliche Neutralität hat in der Schweiz – viele haben es schon oft betont – ohnehin nichts mit Gesinnungsneutralität für die Bürger zu tun. Im Gegenteil, wie Bundesrat Max Petitpierre 1948, anlässlich der 100-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft formulierte: «Eine moralische Neutralität hat die Schweiz stets abgelehnt. Sie hat von jeher die Auffassung vertreten, dass es nur eine Neutralität des Staates gebe, deren Grenzen durch das Recht bestimmt werden und die sich in einer Demokratie nicht auf die Individuen erstreckt, deren persönliches Urteil unangetastet bleibt.»2 Gerade die Verpflichtung des Staates auf aussenpolitische Neutralität ist es, welche ihm innenpolitisch die notwendigen Grenzen setzt gegen Machtanmassung und Willkür. Grossmachtambitionen, Anlehnung an eine Grossmacht hingegen führen früher oder später dazu, auch das Denken, die Meinungs- und Redefreiheit der Bürger im Sinne der Bestrebungen des Hegemons beeinflussen und steuern zu wollen.
  Die staatliche Neutralität, die strikte Unparteilichkeit gegenüber allen Kriegführenden verlangt, engt das Fühlen und Denken seiner Bürger nicht ein – als freier Mensch kann er seine Solidarität bezeugen, mit wem er möchte. Der Schweizer Völkerrechtler Emer de Vattel (1714–1767), der, wie Pirmin Meier aufmerksam macht, «lange vor Pictet de Rochemont als Theoretiker der integralen Neutralität der Eidgenossenschaft hervorgetreten ist»,3 drückte diesen Zusammenhang so aus: «Ich bin in einem Lande geboren, dessen Seele, Reichtum und Grundgesetz die Freiheit ist. Ich kann durch meine Geburt der Freund aller Nationen sein.»4
  Echte Solidarität erfordert diese Freiheit. Unterordnung unter eine Grossmacht, eine Eingliederung in einen Militärblock würgen sie zwangsläufig ab. Es war die Neutralität, welche die kleine Schweiz im Zweiten Weltkrieg zu einer «diplomatischen Grossmacht» hat werden lassen5 – das Vertrauen in die unbedingte integrale und bewaffnete Neutralität, die es den Schweizer Diplomaten und den Vertretern des IKRK ermöglicht haben, diskret, aber für unzählige Menschen in vielen verschiedenen, untereinander verfeindeten Ländern wirkungsvoll humanitär zu wirken. Solche Einsätze sind echte Friedenspolitik: auch wenn sie den Krieg nicht zu beeinflussen vermögen, hinterlassen sie Spuren der Menschlichkeit, die über den Krieg hinausweisen, indem sie allen, die sie erleben, die bessere Seite des Menschseins in Erinnerung rufen, das, was den Menschen wirklich zum Menschen macht.
  Anstatt die Schweiz und ihre Neutralität kleinzureden und defätistisch zu verunglimpfen, täten wir besser daran, sie wieder neu zu durchdenken – auf ihren Gehalt und ihr Potential für eine humanere, friedlichere Welt.

Ohne Neutralität keine direkte Demokratie

Vor allem aber müssen wir uns darüber klarwerden, dass die Schweiz als direktdemokratisches Land, in dem wir vergleichsweise ein Höchstmass an politischen Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten verwirklicht haben, ohne Neutralität so nicht weiterbestehen kann. Die Preisgabe der eigenen Identität – und das wäre die Aufgabe der Neutralität, wenn wir sie im Lichte der ganzen Entwicklung von den Anfängen bis heute ins Auge fassen – würde das Ende der bisherigen Schweiz bedeuten. Natürlich könnte sie dem Namen nach als Territorialgebiet oder Verwaltungseinheit einer EU oder als deutsche, französische oder italienische Regionen, als Teil eines Machtblocks weiterexistieren.6 Aber als historisch von unten nach oben gewachsenes und über Jahrhunderte als Abwehr gegen Grossmachtallüren sich behauptendes eigenständiges Modell ist sie ohne ihre Neutralität nicht denkbar. Die Neutralität ist ein zentrales Element, das dem schweizerischen Staatsaufbau jenes «Mass des Menschlichen» ermöglichte, mit dem er in seiner föderalistischen, von unten nach oben subsidiär funktionierenden direkten Demokratie unter den bisherigen Formen staatlicher Organisation der menschlichen Natur am ehesten gerecht wird. Dieses Modell «als unablässigen Stachel gegen geldgierige Grossmachtpolitik zu erhalten»7 wäre echte Solidarität mit den geschundenen Völkern dieser Welt und sinnvollster Beitrag zum Frieden.  •



1 von Wartburg, Wolfgang. Geschichte der Schweiz. S. 247
2 Bundesrat Max Petitpierre. Betrachtungen über die Neutralität. In: Schweizerische Demokratie 1848–1948. Hundert Jahre Schweizer Bundesstaat. S. 168f. (Hervorhebung im Original)
3 Meier, Pirmin. «Ein Plädoyer für Schweizer Philosophen». In: Hirt, Walter; Nef, Robert; Ritter, Richard C. EigenStändig. Die Schweiz – ein Sonderfall. Zürich 2002. S. 308
4 zit. nach Meier, Pirmin. A.a.O. S. 308. (Zu den völkerrechtlichen Überlegungen de Vattels siehe: Le droit des gens ou principes de la loi naturelle. 1758. Deutsche Übersetzung:  Walter Schätzel. (Hrsg.) In: Die Klassiker des Völkerrechts. Band III. Emer de Vattel: Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts. Tübingen 1959)
5 Rings, Werner. Advokaten des Feindes. Das Abenteuer der politischen Neutralität. Wien und Düsseldorf 1966. S. 9
6 vgl. Mattmann-Allamand, Peter. «Der eigentliche Zweck der Militärgesetzrevision: Das Tabu ‹Neutralität› brechen». In: Zeit-Fragen. Sonderausgabe zur Abstimmung vom 20. Juni 2001. April 2001. S. 5
7 Vögeli, Erika. «Friedenspolitik – welche Aufgabe hat die Schweiz». In: Zeit-Fragen. Sonderausgabe zur Abstimmung vom 20. Juni 2001. April 2001. S. 3

«Eine grosse Chance – für die Schweiz wie für diese Welt»

«Gerade weil wir unsere Neutralität zu einer immerwährenden erklärt haben und deshalb in den fliessenden Veränderlichkeiten der internationalen Verhältnisse unsere aussenpolitische Haltung nicht wechseln, sind wir vor dem Vorwurf geschützt, um des Vorteils willen unseren Mantel nach dem Winde zu hängen. Wir tragen die schweren Lasten unserer bewaffneten Neutralität ohne irgendwelche Absicht auf Ausnützung veränderter politischer Konstellation für Machtgewinn, sehr im Gegensatz zum bloss gelegentlich Neutralen oder ‹Nichtkriegführenden›.» (Edgar Bonjour. Die schweizerische Neutralität. Ihre geschichtliche Wurzel und gegenwärtige Funktion. Bern 1943. S. 28)

«Die Neutralität dient also nicht bloss der Erhaltung der äusseren Existenz, sondern sie dient der Erhaltung des Wesens der Schweiz. – Doch auch für die übrige Welt kann die Schweiz mehr bedeuten, wenn sie ihrer Tradition treu bleibt, als wenn sie sie zugunsten eines anderen Prinzips aufgeben würde. Die Tatsache, dass die Schweiz mit keiner Machtpolitik belastet ist, verschafft ihr ein internationales Ansehen, das sie als Macht niemals erlangt hätte. Dieses Ansehen hat sie von jeher im Interesse der Menschlichkeit eingesetzt. In zahlreichen Fällen, von China bis Frankreich, haben im letzten Krieg Schweizer – mit oder ohne Auftrag des Staates – zwischen feindlichen Parteien vermittelt. Nur das internationale Vertrauen und der Ruf der Unparteilichkeit, den die Schweiz geniesst, haben die Wirksamkeit des Internationalen Roten Kreuzes ermöglicht, das Unermessliches getan hat, um das Kriegselend zu lindern.» (Wolfgang von Wartburg. Geschichte der Schweiz. München 1951. S. 250f.)

«Nach den schrecklichen Kriegen des 20. Jahrhunderts kann kriegerische Grossmachtpolitik nur noch dort durchgesetzt werden, wo die demokratischen Kontrollmechanismen nicht existieren oder ausser Kraft gesetzt werden können. Frieden kann dort gedeihen, wo Verzicht auf Grösse und Gewalt selbstverständlich und der Staat durch direkte Volksentscheide in überschaubaren Einheiten von unten her aufgebaut ist. Auch die Schweiz steht an einem Wendepunkt. Sie kann sich den atlantischen Grossmächten, deren Kompass weiterhin auf Krieg steht, anhängen, ihre Ursprünge verraten und dabei untergehen. Oder sie kann ihre historische Aufgabe innerhalb Europas mutig wahrnehmen, ihren Grundsatz, Recht vor Gewalt, wie er in der Neutralitätsmaxime festgelegt ist, nachleben und dadurch die beste Friedenspolitik betreiben, die heute möglich ist!» (Peter Mattmann-Allamand. «Der eigentliche Zweck der Militärgesetzrevision: Das Tabu ‹Neutralität› brechen»; in: Zeit-Fragen. Sonderausgabe zur Abstimmung vom 20. Juni 2001. April 2001. S. 6)

«Der Abschied vom Imperium wäre der wichtigste Lernschritt. Kein Land der Welt sollte das Recht haben, seine wirtschaftliche und politische Macht auf Kosten anderer Länder mit Gewalt auszudehnen. Recht vor Gewalt statt Gewalt vor Recht (wie die Nato heute proklamiert)! In diesem Kontext sind die Grundmaximen, denen die Eidgenossenschaft seit Jahrhunderten nachzuleben versucht, nicht veraltete Relikte eines egoistischen Nationalismus, sondern topmoderne und zukunftsträchtige aussenpolitische Konzepte.» (Peter Mattmann-Allamand. «Der eigentliche Zweck der Militärgesetzrevision: Das Tabu ‹Neutralität› brechen»; in Zeit-Fragen. Sonderausgabe zur Abstimmung vom 20. Juni 2001. April 2001. S. 6)

«Schliesslich die Neutralität: Ein Wort, in dem man alle Buchstaben des Wortes Natur wiederfindet. Die Neutralität ist unsere Natur. Sie prägt den Ton des Lebens in unserem Land. Die Schweiz liebt die Konflikte nicht. Und es ist mutig, wenn man gleichzeitig eine konstante Kraft des Friedens für die Menschheit sein kann, so wie es unsere Verfassung will. Es ist sicher nicht einfach, in einer instabilen und multipolaren Welt eine Aussenpolitik zu führen, die gleichzeitig unabhängig, spezifisch, unparteiisch ist. Aber das ist auch eine grosse Chance, für die Schweiz wie für diese Welt.» (Bundesrat Didier Burkhalter. «Auszug aus der Ansprache zum 1. August 2017»; zit. in: Zeit-Fragen vom 15.8.2017)

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