Unsere Neutralität wird verletzt!

Protest gegen Videopropaganda Selenskis im Parlament

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Die Büros des National- und des Ständerates haben ein Gesuch der Ukraine gutgeheissen, während der Sommersession einen Videoauftritt von Präsident Selenski im Schweizer Parlament auszustrahlen. Diese Einladung einer Kriegspartei ist ein krasser Verstoss gegen die Neutralität, um so mehr, als in dieser Session ein weiterer Entscheid über die Wiederausfuhr von Schweizer Waffen auf das ukrainische Schlachtfeld ansteht.

Was für ein Verbrechen, das ausblutende ukrainische Volk mit immer noch mehr Tonnen und Abertonnen von Waffen zu überschütten! Die neutrale Schweiz darf sich daran nicht beteiligen. Unsere Volksvertreter sollten sich hüten, unser Land noch tiefer in den Strudel hineinzutreiben, in den uns Washington, London und Brüssel hineinziehen wollen. Besinnen wir uns auf die schweizerischen Werte zurück, die mit der Neutralitätsmaxime verbunden sind: Humanitäre Hilfe, Gute Dienste, unbedingte menschliche und finanzielle Unterstützung des in der Schweiz verankerten IKRK. Damit es den leidenden Menschen auf beiden Seiten der Front in allen Kriegen dieser Welt seine unverzichtbare Hilfe leisten kann, ist das Rote Kreuz auf den Schutz durch die Schweizer Neutralität angewiesen.

Einspruch gegen neutralitätswidrigen Akt des Parlaments

Aus der Medienmitteilung der Büros von National- und Ständerat vom 5. Mai 2023: «Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski wird sich während der Sommersession in einer Videobotschaft an das Schweizer Parlament wenden. Die Büros von National- und Ständerat haben ein entsprechendes Gesuch der Ukraine gutgeheissen.»1
  Gegen diesen neutralitätswidrigen Akt wandte sich Nationalrat Thomas Aeschi, der als Fraktionspräsident der SVP auch Mitglied des Büros ist. Er veröffentlichte seinen Protest in einem Tweet: «Ich lehne es ab, dass der ukrainische Präsident im Nationalratssaal eine Videoansprache hält (diesen Antrag habe ich im Büro gestellt). Die Ukraine versucht, direkt Einfluss auf den parlamentarischen Entscheid betreffend Waffen-/Munitionslieferungen zu nehmen. Unsere Neutralität wird verletzt!» (Thomas Aeschi@thomas_aeschi) Nationalrat Aeschi ist Mitglied des Initiativkomitees der «Neutralitätsinitiative», für die in der Schweiz zurzeit Unterschriften gesammelt wird.
  Die russische Nachrichtenagentur TASS griff den Parlamentsentscheid und den Einspruch von Nationalrat Thomas Aeschi am 6. Mai unter dem Titel «Selenskis Rede im Schweizer Parlament verletzt die Neutralität des Landes» auf. Gut, dass die russischen Fernsehzuschauer erfahren, dass nicht alle Schweizer vom Pfad der Neutralität abweichen wollen.

« Wir verlieren die letzten brüchigen Reste
unserer bereits mit Füssen getretenen Neutralität»

Ein weiteres Mitglied des Initiativkomitees, das gegen den Büro-Entscheid protestierte, ist Stefan Millius, Journalist und Autor aus Appenzell. Auf seinem Blog schreibt er: «[…] es widerspricht allem, was der Schweiz heilig sein müsste. Ein Videocall des ukrainischen Präsidenten Selenski direkt in den Saal des Nationalrats ist ein absolutes Unding. Und Parlamentarier, die das zulassen oder dem zuschauen, sind fehl am Platz.»
  Millius fährt fort: «Wir alle finden Krieg fürchterlich. Wir alle wollen, dass es aufhört. […] Aber hier geht es nicht um Russland oder die Ukraine. Hier geht es um die Schweiz. Um ihre Werte, um ihre Position. Wenn man die Ansprache eines Präsidenten eines Landes, das Kriegspartei ist – unter welchen Voraussetzungen auch immer – im Bundeshaus vor unseren Parlamentariern ausstrahlt, werden auch wir zur Kriegspartei. Wir verlieren die letzten brüchigen Reste unserer bereits mit Füssen getretenen Neutralität. So einfach ist es. Es ist kinderleicht zu verstehen.»2

SiK des Ständerates will der Schweizer Neutralität den Rest geben

Derweil bereitet die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerates (SiK-S) das Terrain, um unsere Neutralität endgültig preiszugeben. In ihrer Sitzung vom 11. Mai hat sie mehrheitlich den abenteuerlichsten Varianten von Gesetzesänderungen zugestimmt. Zusammengefasst beantragt die Kommission mit mehreren Vorstössen, dass der Ständerat in der kommenden Sommersession (ab 30. Mai) die Weitergabe von in der Schweiz gekauften Waffen durch Nato-Mitgliedsstaaten durchwinken soll.3 Allesamt neutralitätswidrig! Zudem verstossen einige eklatant gegen rechtsstaatliche Grundsätze (Rückwirkungsverbot4) oder schreiben ganz einfach die Uno-Charta um: Mit einem Zweidrittelsmehr der UN-Generalversammlung soll laut SiK-S ein Veto im Sicherheitsrat überstimmt werden können. Besonders stossend ist, dass die Kommission die Resolution des UN-Menschenrechtsrates vom 3. April 2023 ganz einfach übergeht. Diese fordert mit 33 gegen 13 Stimmen bei einer Enthaltung die Aufhebung der völkerrechtswidrigen einseitigen Zwangsmassnahmen, also aller Sanktionen ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss.5
  Mit ihren rechts- und neutralitätswidrigen Entwürfen treibt die Kommission den Kotau vor Washington und Brüssel auf die Spitze. Schon klar: Der Kleinstaat Schweiz ist in einer schwierigen Lage, wenn die Hyänen von allen Seiten die Zähne blecken, um die «regelbasierte Ordnung» des Hegemon vor dem Untergang zu retten. Noch viel brenzliger war die Lage unserer Vorfahren im Zweiten Weltkrieg, aber die waren entschlossen, die Neutralität, so gut es eben möglich war, hinüberzuretten. Und haben das auch getan. Auch heute ist das Schweizervolk gefordert: Wir müssen «a d’Säck» (an die Arbeit)!  •



1 Die Büros des Nationalrates beziehungsweise des Ständerates bestehen aus dem Präsidium, den Stimmenzählern und Vertretern der Parteien (Fraktionen) des jeweiligen Rates. Sie sind zuständig für die Organisation der Parlamentsarbeit und erstellen das Sessionsprogramm.
2 https://stefanmillius.ch/warum-selenskyj-in-unserem-parlament-nichts-verloren-hat/
3 Sicherheitspolitische Kommission des Ständerates (SiK-S). Point de Presse vom 11.5.2023
4 «Nichtwiederausfuhr-Erklärungen gelten als aufgehoben, wenn sie mehr als fünf Jahre vor dem Inkrafttreten dieser Gesetzesänderung durch Länder des Anhangs 2 [EU-Nato-Staaten plus Zugewandte] der Kriegsmaterialverordnung unterzeichnet worden sind und die obenstehenden Bedingungen erfüllen.» (Hervorhebung mw)
5 siehe dazu Zeit-Fragen vom 2.5.2023 (https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-9/19-2-mai-2023/un-menschenrechtsrat-fordert-abschaffung-einseitiger-sanktionen)

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK