Wenn das Schiff in die falsche Richtung fährt

Zum Bildungsbericht Schweiz 2023

von Dr. Eliane Perret, Psychologin und Heilpädagogin

Anfang März dieses Jahres wurde der Bildungsbericht 2023 veröffentlicht, verfasst von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung SKBF.1Auf mehr als 400 Seiten und fast eineinhalb Kilogramm Papier werden deren Erkenntnisse zu über 500 Themen präsentiert, das Bildungssystem der Schweiz von der Primar- bis zur Hochschulstufe betreffend. Gegen 120 Personen haben an der Erstellung des Berichtes mitgewirkt. Im Tagesgespräch des Schweizer Radios kam Dr. Stefan Wolter zu Wort, Direktor der Koordinationsstelle, der nun zum vierten Mal den Bericht veröffentlicht hat.2 Das Gespräch hatte wenig Tiefgang und umschiffte kritische Themen – wie man es sich mittlerweile von Plaudersendungen gewohnt ist. Der Bericht ist jedoch eine zentrale Grundlage für die Steuerung des Bildungssystems Schweiz und muss entsprechend beachtet werden. Auch wenn die Verantwortlichen ihn lediglich als neutrale Berichterstattung über die Erreichung von Zielen bezeichnen, bestimmt er den Kurs bzw. die Strategie der Bildungspolitik von Kantonen und Bund.

«Ist der Dampfer auf Kurs?»

Vor zehn Jahren verglich Stefan Wolter, wie die Moderatorin feststellte, die Schweizer Bildung mit einem Dampfer, ein Dampfer, der träge sei und viel Energie brauche, wenn man die Richtung ändern wolle, und es brauche lange, um ihn zu bremsen. «Ist der Dampfer auf Kurs?» fragte sie nun, was Wolter erstaunlicherweise mit «Grundsätzlich sicher. Das Bildungswesen ist in einer recht guten Verfassung» beantwortete.
  Ich stutzte und dachte an all die Probleme, die aktuell thematisiert werden: der eklatante Mangel an ausgebildeten Lehrpersonen; die stets hohe Fluktuation von Lehrkräften; die nach wie vor mangelhaften Deutschkenntnisse der Kinder und Jugendlichen; der vielseits kritisierte Lehrplan 21; das sinkende Niveau; die grosse Zahl bedauernswerter Schulabgänger, die ohne genügend Lese- und Schreibkenntnisse die obligatorische Schule verlassen; die wiederkehrende Frage der nicht wirklich glückenden Integration und Förderung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen u. a.!
  Fährt der Dampfer wohl weit entfernt von der Realität und allein auf einem Ozean der Wunschträume? Wenn der Kapitän eine falsche Karte vor sich hat und der Kompass nicht stimmt, dann wird das Schiff sein Ziel mit Bestimmtheit nicht erreichen und im schlimmsten Falle Schiffbruch erleiden. Deutliche Anzeichen weisen darauf hin.

Sturmwarnung wäre angesagt

Ausgangspunkt für die Berichterstattung sind stets Messungen und Studien, ausgehend von Pisa und dem damit verbundenen pädagogischen Narrativ. Und die verweisen auf Sturmwarnung und dringend angesagten Kurswechsel! Diese Pisa-Messungen hätten seit 2000 immer wieder ergeben, dass zwischen 15 und 20 % Schülerinnen und Schüler die obligatorische Schule mit ungenügenden Kompetenzen verlassen, meinte Wolter. «Das ist eine Klippe, die wir noch nicht umschifft haben.» Das heisst, fast ein Fünftel aller Schulabgänger sind nicht so auf ihre weiterführende Ausbildung vorbereitet (sei es eine Lehre, ein Gymnasium oder eine Fachmittelschule), dass sie diese dann auch abschliessen können. «Also, da sind wir auch noch nicht ganz auf Zielkurs. Das Ziel wäre seit 2005 festgelegt, auf 95 %. Wir oszillieren um 90–91 % herum.» Im Klartext haben diese jungen Menschen auch mit 25 Jahren noch keinen Abschluss, wie Wolter festhielt. Und nun? Sturmwarnung? Im Gegenteil!

Wenn der Dampfer nichts taugt?

Es fällt auf, dass in den letzten Jahren im Bildungsbereich kein Kurswechsel erfolgt, trotz Kritik und negativen Erfahrungen. Nur Zuckerguss! Diskussionen werden flach gehalten, mal da ein bisschen etwas geändert, dann wieder dort: der Mangel an Lehrkräften wird mit im Rekordtempo ausgebildeten Ersatzleuten behoben (die sich sicher redlich Mühe geben!), ebenso der Bedarf an schulischen Heilpädagogen. Lernzielanpassungen sollen das Problem von Kindern lösen, die im Unterricht nicht mitkommen. Mangelnde Deutschkenntnisse verwischt man durch frühen Fremdsprachenunterricht, und Kopfhörer dämpfen die Unruhe im Klassenzimmer ab. Für Kinder und Jugendliche, die mit fehlender Anleitung, Wochenplan und selbstorganisiertem Lernen nicht zurechtkommen, springt eine boomende Nachhilfeindustrie in die Lücke. Aber nie wird gefragt: Ist der «Dampfer», auf den wir setzen, überhaupt bildungstauglich?

Die unfreundliche Übernahme der «Bildungsflotte»

Um eine Schiffsreise zu unternehmen, um bei diesem Bild zu bleiben, braucht es eine entsprechende Vorbereitung. Diese bestand bei den seit mindestens 30 Jahren laufenden Schulreformen darin, in einem ersten Schritt das gut auf Kurs fahrende Schweizer Schul-Schiff schlechtzureden und ihm Altersschwäche zu unterschieben. Es sollte deshalb trotz aller Einwände zum Abwracken freigegeben werden, um den nächsten Schritt einzuleiten.
  Pro memoria: Die Schweizer Schulen waren zuvor international für ihre sehr hohe Qualität bekannt. Sie waren eben nicht stehengeblieben, wie plötzlich fälschlicherweise behauptet wurde und wird, sondern sie hatten sich den Herausforderungen der Zeit gestellt und neue Erkenntnisse aus der pädagogischen, didaktischen und psychologischen Forschung in die Ausbildung der Lehrkräfte und die Schulpraxis integriert. Mit dem Bildungsauftrag unseres direktdemokratischen Landes übereinstimmend, war die Schere zwischen leistungsstarken und schwächeren Kindern klein. Die Schule vermittelte ihnen die notwendigen Kenntnisse, um sich später als Bürger an den politischen Debatten beteiligen zu können. Als «Schule des Volkes» geschätzt, war sie im politischen System gut verankert.
  Der unnötige Kurswechsel des «Schuldampfers» geschah auf Druck der USA, indem sie in den neunziger Jahren die Unesco aus deren Führungsaufgabe im Bildungsbereich drängten und durch die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) ersetzten. Was soll man dazu sagen? Na klar, es war eine «unfreundliche Übernahme» der «Bildungsflotte», CEO wurde nun der internationale Bildungs(industrielle) Komplex mit entsprechenden Verbindungen zur politischen und wirtschaftlichen Lobby! Die Indikatoren für die Qualität von Schulen wurden fortan von dieser Wirtschaftsorganisation festgelegt. Sie konzipierte dazu die Pisa-Tests.3 Die gestellten Aufgaben hatten keinerlei Zusammenhang mit Theorie und Kultur der europäischen Bildungstradition und den unterschiedlichen Lehrplänen der einzelnen Länder. Es war ein umfassender Paradigmenwechsel. Nun schielte man nach den angloamerikanischen Vorgaben. Es erstaunt heute noch, dass dieses Vorgehen von den OECD-Ländern abgesegnet wurde, auch der Schweiz – wohlgemerkt ohne Volksabstimmung. Daraus erwuchsen seither die Fahrpläne und der Kurs der Reformen: neue outputorientierte Lehrpläne mit Kompetenzen statt Lernzielen – ohne Rücksicht auf nationale Gegebenheiten; Unterrichtsformen, welche auf Selbsttätigkeit abzielten, das «Humankapital» der Kinder und Jugendlichen transparent machen sollten und die Lehrpersonen zu deren Bediensteten oder Kohlenschippern auf dem Schulschiff machten; Schulen mit Firmenstrukturen und einem Schulleiter als CEO und schliesslich regelmässige «Qualitätskontrollen» durch die Pisa-Tests, die wieder Anlass zu einem neuen Reformschub waren, stets orientiert am angloamerikanischen Bildungssystem. Das spiegelt sich im Bildungsbericht 2023: technokratisches Vokabular, Statistiken und verschwurbelte Texte – kein ersichtliches Interesse, sich den Auftraggebern, nämlich den Steuerzahlern und natürlich der direkt betroffenen Bevölkerung, den Eltern von Kindern, Lehrpersonen, Lehrlingsausbildnern und ganz allgemein an Bildungsfragen Interessierten verständlich zu machen.

Es braucht einen neuen Bildungsdampfer

Warum? Der aktuelle ist von Grund auf eine Fehlkonstruktion. Das zeigt der Bildungsbericht 2023. Ein «Bildungsdampfer» braucht mehr als «evidenzbasierte Studien» mit ihren oft dürftigen Ergebnissen in Form von Diagrammen und Graphiken, erhoben durch Beobachten, Ankreuzen, Testen und Zählen. Sie sind zu Hunderten in der Literaturliste des Bildungsberichtes aufgeführt, jeweils dem gleichen Narrativ folgend: Kinder und Jugendliche werden gesehen als Teil des «Systems Bildungsdampfer». Funktionieren sie nicht wie erwünscht, so wird dem System ein Schubs gegeben, oder wie Stefan Wolter es formuliert: «Es braucht sehr viel Geduld, weil man sich vorstellen muss, dass, wenn man irgendwo im System eingreift, je nachdem, wo, und je nachdem, mit welchem Ziel, die Folgen zwischen 4–5 bis zu 15 Jahren auseinanderliegen können. Ich mache ein Beispiel: Wenn Sie zum Beispiel in der frühkindlichen Bildung einen Eingriff machen in der Hoffnung, dass diese Menschen später einen überobligatorischen Bildungsabschluss machen, dann müssen Sie praktisch 20 Jahre warten, um zu sehen, ob sich der Eingriff gelohnt hat.»4 Die Moderatorin fragte ihn weiter nach einer vor 20 oder vor 15 Jahren ergriffenen Massnahme, von der man heute sagen könne: Das ist gut gewesen, das hat etwas gebracht. «Sendepause»! Wolter wusste keine und redete sich einmal mehr mit den langen Zeithorizonten heraus. Man ist sprachlos!

Ohne Tunnelblick neue Perspektiven entwickeln

Die Bestandsaufnahme zeigt: Vieles ist in den letzten Jahrzehnten schiefgelaufen. Analysen über die Gründe gibt es viele.5 Nun braucht es Mut, ohne Tunnelblick hinzuschauen. Es lohnt sich! Viele ernsthafte Forscher haben sich in den letzten Jahren ehrlich und sorgfältig mit den anstehenden Fragen befasst und Antworten geliefert, einen unvoreingenommenen und eigenständigen Blick aufs Ganze einnehmend. Und darüber dürfen wir nicht weiter hinwegsehen: Jede Bildungsreform muss auf einem entwicklungspsychologischen Fundament basieren, dem die soziale Natur des Menschen zugrunde liegt.6 Das fehlt dem scheiternden «Bildungsdampfer», wie er im Bildungsbericht 2023 beschrieben ist. Er geht von einem «technischen» Bild des Kindes aus, einem Bestandteil des Systems, bei dem Gemeinsinn und andere zwischenmenschliche «Kompetenzen» höchstens als Mittel zum Zweck gesehen werden.
  Doch so wachsen keine Mitmenschen heran, die unsere Welt brauchen würde, heute mehr denn je!  Und hier ist die Schule gefragt, ihren Teil dazu beizutragen als Bildungsinstitution, die allen das Recht auf Bildung zugesteht – echte Bildung. Darauf aufbauend würden sich für die heute anstehenden Probleme in Schulpraxis und Ausbildung ganz neue, zeitgemässe Perspektiven ergeben.  •



1 skbf. (2023) Bildungsbericht Schweiz 2023. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.
2 https://swisscows.com/de/web?query=Tagesgespr%C3%A4ch+Stefan+Wolter (abgerufen am 5.5.2023). Die im folgenden zitierten Stellen aus dem Tagesgespräch sind von der Autorin aus dem in Dialekt geführten Gespräch in die Schriftsprache übersetzt worden.
3 vgl. Langer, R. (Hrsg.) «Warum tun die das?» Governanceanalysen zum Steuerungshandeln in der Schulentwicklung. Berlin, Heidelberg 2008, Springer
4 Stefan Wolter in Tagesgespräch SRF 1 vom 5.5.2023
5 vgl. Bonfranchi, R./Perret, E. Heilpädagogik im Dialog. Oberhausen 2021, Athena-wbv
6 vgl. Kissling, B. Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung. Bern 2022, Hogrefe, S. 109–162

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