Wir Ostdeutsche sind noch viel Schlimmeres gewohnt

von Daniela Dahn

km. Daniela Dahn, 1949 in der DDR geboren, ist Journalistin, Schriftstellerin und Publizistin, sie war Bürgerrechtlerin und Mitbegründerin der DDR-Oppositionsgruppe Demokratischer Aufbruch. Im folgenden Beitrag entlarvt sie die Scheinheiligkeit der öffentlichen Entschuldigung des Vorstandsvorsitzenden des Axel-Springer-Konzerns, Mathias Döpfner, für seine Ausfälle gegen die Ostdeutschen, aber auch die Scheinheiligkeit des kurzzeitigen Mediengeschreis gegen Mathias Döpfner. West-Eliten verleumden und benachteiligen Ostdeutsche seit mehr als 30 Jahren.

Es würde sich nicht lohnen, auf dieses unterirdische SMS-Geschwätz zu reagieren, wenn die Debatte nicht von grosser Scheinheiligkeit wäre.
  Die ganze Empörung erwächst aus dem Umstand, dass es hier um einen der einflussreichsten Medien-Bosse des Landes geht, Chef und Eigentümer nicht nur des Springer-Konzerns, sondern auch langjähriger Präsident des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger.
  Der nun vom Blatt der konkurrierenden Holtzbrinck-Konzerne durch selektive Veröffentlichung mehr oder weniger privater Kommunikation an den Pranger gestellt wird. Nicht, dass man diesem Anprangerer vom Dienst die Pein nicht gönnt. Aber wirklich überraschen können die Enthüllungen über die Denkweise der Führung in diesem Tendenzmedium nicht.
  Letztlich bestimmen genau diese Inhalte seit Jahrzehnten ohne grösseren Widerspruch nicht nur die internen Botschaften im Hause Springer, sondern oft auch die veröffentlichten. Und nicht nur dort. Scheinheilig ist die Debatte, weil sowohl die Aufregung über die Vorwürfe wie auch die Entschuldigung unglaubwürdig sind. Um von den Verleumdungen hier nur die herauszugreifen, mit der ich mich am besten auskenne: Dass die Ostdeutschen allesamt geistig deformiert und deshalb demokratieuntauglich sind, war jahrelang prominent gesetzte Indoktrination.
  Der Spiegel veröffentlichte schon im Februar 1990 eine achtseitige Schmähschrift über das DDR-Bildungssystem: «Erziehung zu Drill und Duckmäusertum». Wurde im Herbst noch die couragierte politische Reife der ihre Bürgerrechte erkämpfenden Ostdeutschen allseits gelobt, musste man jetzt den Eindruck gewinnen, dass Revolutionen mit Vorliebe dort ausbrechen, wo die Konzentration von Duckmäusern besonders hoch ist. Sie alle hätten eine «Gehirnwäsche» durchlaufen, einen «permanenten Akt geistiger Vergewaltigung».

Ostdeutsche haben «nichts gelernt, was sie
in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten»

Zitiert wurde in dem unsignierten Artikel immer wieder der angebliche Pädagogik-Experte Johannes Niermann, der später auch in einer öffentlichen Anhörung des Bundestages seinen Auftritt hatte. In dem Gutachten beschuldigte er «die gesamte Intellegentia» (gehören Rechtschreibschwäche und Denunziation zusammen?), das «Lügengebäude» aufgebaut zu haben, und attestiert, dass dies zu einer «ganz primitiven Konditionierung, wie bei Tierdressuren» geführt habe.
  Er bedauert, dass die Peiniger nicht hinter Schloss und Riegel gesetzt wurden, statt dessen «laufen diese weiter frei herum». Mit einer dringenden Empfehlung entwickelte er missionarischen Eifer: Abiturabschlüsse seien in den neuen Bundesländern auf 10 bis 30 Prozent zu reduzieren, dafür an den Mittel- und Realschulen Schwerpunkte wie Hauswirtschaft als Pflichtfach für Mädchen sowie Werken und Handarbeit einzuführen. Die «Berliner Zeitung» veröffentlichte eine Karikatur mit dem Kanzler in Ritterrüstung vor dem Schild «Bundesdeutsche Kohlonie!»
  Auch der Historiker Arnulf Baring, beliebter Talkshow-Gast, hatte in seinem Buch «Deutschland, was nun?» spürbares Vergnügen an der Herabwürdigung von DDR-Akademikern. Sie seien durch das Regime fast ein halbes Jahrhundert «verzwergt» und «verhunzt» worden. Ob sich einer dort Arzt, Ingenieur oder Pädagoge nenne, «das ist völlig egal. Sein Wissen ist über weite Strecken völlig unbrauchbar.» Die Westdeutschen könnten diesen «politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben», es würde nichts nutzen, denn die Ostdeutschen «haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten».
  Der aus allen Zusammenhängen gerissene und immer wieder bemühte Adorno-Satz, es gäbe kein wahres Leben im falschen, stempelte rückwirkend handstreichartig sämtliche DDR-Leben als wertlos. Im Kontext von Eignung für Führungspositionen war die Interpretation: unwert.
  Das Narrativ von gut-böse und richtig-falsch blockierte einen beidseitigen Austausch. Dabei sind die Unterschiede nur gradueller Natur, letztlich gibt es wohl nichts anderes als wahres Leben im falschen. Der Molekularbiologe und DDR-Oppositionelle Jens Reich beklagte, dass in der viel beachteten Gesellschaftsgeschichte des Historikers Hans-Ulrich Wehler Millionen Ostdeutsche «nicht als Akteure dargestellt auftreten, sondern als eine Art Schafherde». Alle falschen Weichenstellungen müssten laut dieser Sicht nach westlichem Modell in einem mühseligen Prozess korrigiert werden. «Das ist die Bürde der neuen Bundesrepublik nach 1990», so Wehler. Ist die Bürde nicht vielmehr, dass das völlige Missachten östlicher Erfahrungen eine bis heute mühselige Korrektur erfahren muss? Dass die plumpen Diffamierungen jetzt nur noch in privaten Tweets gewagt werden, ist zwar ein Fortschritt, zeigt aber zugleich, wie quicklebendig sie noch sind.
  Der Dichter Wolfgang Hilbig beschrieb die Demütigungen als «Unzucht mit Abhängigen». Lange Zeit hatte man das hinzunehmen. Und auch der öffentliche Widerspruch von Westprominenz blieb übersichtlich. Gaus, Grass, Bahr – sie wurden dafür gescholten. Wer gar im Osten wagte, die Versimpler anzugreifen, wie ich in meinen Büchern, wurde des «Osttrotzes» bezichtigt. Gegen den Axel-Springer-Konzern habe ich ein halbes Dutzend Verleumdungsklagen geführt, weil ich in Texten des moralisierenden Hauses mit abenteuerlichen Spekulationen mal in Stasi-, mal in Nazi-Nähe gerückt wurde. Das Schmerzensgeld an mich, zu dem der Konzern verurteilt wurde, hat er gern aus der Portokasse bezahlt und weitergemacht. Die Lust am versuchten Disziplinieren überwog offenbar. Das war eine Erfahrung struktureller Gewalt. Es gab lange keine denunziationsfreien Räume für die Ostdeutschen mehr. Und nie hat sich dafür jemand entschuldigen müssen oder wurde gar zum Rücktritt aufgefordert.

Nationalistische Gefühle angeheizt –
ein Rückschlag für soziale Bewegungen

Aber warum war und ist gerade die Demokratiefähigkeit der DDR-Sozialisierten so ein Reizthema? Solange sie 1989 ihre Regierung zum Rücktritt zwangen, wurden sie für ihre Gewaltlosigkeit und ihren Humor selbst von der Springer-Presse gelobt. Sobald aber ihre Vorstellungen von Demokratisierung Gefahr liefen, auch den Status quo der Bundesrepublik infrage zu stellen, hörte der Spass auf.
  Klaus Hartung lobte in der «taz» den Runden Tisch und das Kabinett Modrow für das klare Programm der Demokratisierung. «Insofern geht die Macht wirklich vom Volke aus und bleibt vor allem bei ihm – in einem Masse, wie es im ehemals freien Westen nie denkbar war und ist. In der Demokratie DDR ist jetzt schon die Straflosigkeit des gewaltlosen Widerstands garantiert, ein Prozess, der unsere Sicherheitsgesetze noch peinlicher machen wird. Die repräsentative Demokratie, die im Grunde eine Grossparteienherrschaft ist, wehrt nach wie vor alle Ansätze direkter Demokratie und Kontrolle von unten ab. In der DDR hingegen wird inzwischen selbst der innerste Repressionsbereich einer demokratischen Kontrolle von unten unterworfen.»
  Zu der Zeit war ich Mitglied der ersten unabhängigen Untersuchungskommission; wir hatten das Mandat, die Verantwortlichen für die Übergriffe von Polizei und Staatssicherheit auf Demonstranten zu befragen. Auch wenn diese unwillig waren und blockierten, sie hatten uns Rede und Antwort zu stehen. Wir erreichten den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten.
  «Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise», hiess es in einer Erklärung von wichtigen Stimmen wie Inge Aicher-Scholl, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich oder Heinrich Albertz. Es würden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt, um die Bemühungen für eine sozialistische Demokratie zu verschütten. Dann würden auch die «sozialen Bewegungen in unserem Lande einen schweren Rückschlag erleiden». Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe Robert Jungk, flehte geradezu: «Lassen Sie sich um Gottes Willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.»
  Hatten wir die SPD mitgerissen, die mitten in der Wendezeit auf ihrem Berliner Parteitag im Dezember 1989 ein neues Programm beschloss? «Es ist eine historische Grunderfahrung, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig.»

Erfundene Zitate und Fake-Luxusgüter

Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Das dürfte für Mathias Döpfner und seine FDP-Freunde schon hinreichend ekliger Kommunismus-Verdacht sein. Sei’s drum. «Die Ossis werden nie Demokraten» – an seiner Prognose ist was dran, wenn man bedenkt, dass viele eine andere Vorstellung von Demokratie hatten: nicht nur eine Worthülse à la «Bild-Zeitung», sondern das ganz grosse Versprechen, das mit einem «Demokratischen Aufbruch» verbunden sein sollte. Das war die Endstation Sehnsucht: Wohlstand durch eine Demokratie, die auch die Wirtschaft erfasst, die viele Facetten haben sollte, räte- oder basisdemokratische, jedenfalls nicht auf die auf Privateigentum fixierte, kapitalistische Demokratie reduziert sein würde.
  Und diese Sehnsucht war ansteckend. An der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen wurde eine Resolution verabschiedet: «Es ist Zeit für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus.» Und die SPD schlägt einen Runden Tisch auch für Bonn vor. Sechs Wochen vor der Volkskammerwahl in der DDR im März 1990 sagen ihr Umfragen dort immer noch eine absolute Mehrheit voraus. Ihre Genossin Anke Martini findet, dass die Ostdeutschen den nötigen Antworten schon nähergekommen sind «als wir Westler, die wir unser System so wenig in Frage zu stellen gewohnt sind». Bündnis 90 greift das grösste Tabu auf, fordert eine Volksabstimmung über den Erhalt des Volkseigentums.
  Das war eine brenzlige Situation für die regierende CDU, hier wurde begonnen, Systemfragen zu stellen. Jetzt konnte sie das Ruder nur noch herumreissen, wenn sie auf die ganz grosse Pauke haut. DDR-Medien, die sich zum allgemeinen Erstaunen schnell von Zensur emanzipiert hatten und deren Sender eine höhere Sehbeteiligung erreichten als die westlichen, waren dennoch frei erfundenen Räuberpistolen des Boulevards noch nicht gewachsen. Sie erlebten erstmalig, wie ein von privaten Medien genährter Manipulationsapparat eine Mehrheitsmeinung in kürzester Zeit ins Gegenteil verkehrt, wie ich in dem Buch «Tamtam und Tabu» detailgetreu nachgewiesen habe. Die eine Strategie war, den Volkszorn zu schüren, indem DDR-Politikern von «Bild», aber auch vom Spiegel und anderen angedichtet wurde, sie hätten sich auf Staatskosten Luxusgüter angehäuft, von Brillanten bis zu Jaguars – reine Fakes. Der Spiegel frohlockte, dass diese Berichte in der DDR Furore machten, tausendfach fotokopiert, in Betrieben ausgehängt, zur «Volkslektüre» wurden.
  Noch wirksamer aber war die zweite Strategie, die Panik auslöste durch die plötzliche Behauptung von Kohls engstem Berater im Kanzleramt, Horst Teltschik, wonach der Kollaps der DDR-Wirtschaft unmittelbar bevorstünde, was völlige Zahlungsunfähigkeit in wenigen Tagen bedeute. Damit dieser Unsinn geglaubt wird, behauptete «Bild», der Vorsitzende der Ost-CDU, Lothar de Maizière, habe das bestätigt. Dessen Dementi, wonach ihm dergleichen nicht bekannt sei, erwähnen die Westmedien nicht. Statt dessen legt der Spiegel auch Ministerpräsident Hans Modrow frei erfundene wörtliche Zitate in den Mund: «Wir sind am Ende. Unser Geld reicht noch bis Mitte des Jahres.» Erst daraufhin habe Kohl beschlossen, die Währungsunion sofort vorzubereiten, «koste es, was es wolle». «Bild» bringt es auf das populistische Fazit: Die Wirtschaft der DDR hängt am Tropf, sie braucht die Transfusion der D-Mark. Das vom Westkanzler für die Ostwahlen gegründete Bündnis «Allianz für Deutschland» geht an die Arbeit.
  Geschockt und verängstigt nehmen die Wähler das Versprechen der D-Mark als Messias an. Dass sie einem neuen «Lügengebäude» erlegen waren und nunmehr jede Reformidee aufgekauft werden konnte, merkten sie erst nach und nach. Und die meisten Westdeutschen glauben bis heute die verbreitete Lesart, wonach ihre einst Brüder und Schwestern Genannten nichts anderes wollten, als nur so schnell wie möglich wie im Westen zu leben. Auch wenn Volksentscheide gerade noch verhindert werden konnten, belegte die erste repräsentative Umfrage nach der Wahl etwas anderes: So gut wie alle waren für die Einheit, aber 83 Prozent lehnten immer noch einen schnellen und bedingungslosen Beitritt ab. Sie wollten als gleichberechtigte Partner auf das Wie der Einheit Einfluss nehmen. Nicht nur Ampel- und Sandmännchen sollten aus der DDR erhalten bleiben, sondern 68 Prozent sprachen sich für die Kernsubstanz aus – das Volkseigentum.

Eine bedeutungslose Entschuldigung, viele offene Bilanzen

Die Privatisierung im Osten wurde zum öffentlichen Milliardengrab, das bis heute den Haushalt belastet, während sich der private Reichtum oft steuerfrei verdoppelte – ein Billionengrab. Ludwig Ehrhard kannte die Spielregel seines Systems: «Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit.» Wo kein Haben ist, da ist auch kein Sagen.
  Demokratie bedeutet Machtbeschränkung. Doch die Parlamente haben ihre Macht weitgehend an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben. Und der Wähler soll seine Stimme abgeben und sich dabei fühlen wie Hans im Glück. Er guckt in die Luft und fragt sich, welche Wahl er eigentlich hat, wenn niemand die verborgen herrschende Macht beschränkt, die des Kapitals? Christian Führer, legendärer Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, wollte die von ihm begründeten Montagsdemonstrationen wiederbeleben: «Eigentlich steht der zweite Teil der Revolution noch aus. Die Marktwirtschaft ist im Grunde gewalttätig. Die Diktatur der Weltanschauung wurde durch die Diktatur des Kapitals abgelöst.»
  Heute haben sich die Ostdeutschen solch subversive Töne abgewöhnt, auch durch ein weitgehend erfülltes Konsumversprechen. Die einstige linke Oppositionspartei zerlegt nicht mehr die Machtverhältnisse, sondern lieber sich selbst. Und überlässt den Protest den Rechten. Presseerzeugnisse wie die von Mathias Döpfner haben zu Verflachung und Entpolitisierung beigetragen. Bei einer vom Mainstream geformten Mehrheit wäre Basisdemokratie weitgehend ihres Sinnes beraubt. Da fällt es nicht schwer, sich bei den zahm gewordenen Ostlern zu entschuldigen und vorzugeben, ihre Lebensleistungen nunmehr würdigen zu wollen. Aber welche denn? Ihre Verdienste, Alternativen ausprobiert zu haben? Nach dieser Bilanz fragt heute niemand mehr. Aber sie ist nicht nur zwischen Ost und West weiterhin offen.  •

Erstveröffentlichung: Berliner Zeitung vom 20.4.2023

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