Hoffnung?

von Karl Jürgen Müller

Was für ein Unterschied! Die rhetorische Frage des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels nach der schweren Niederlage der deutschen Wehrmacht in Stalingrad, «Wollt Ihr den totalen Krieg?», und das frenetische Ja Tausender ausgewählter Parteimitglieder im Berliner Sportpalast im Februar 1943 gilt zu Recht als finsterer Tiefpunkt nationalsozialistischer Propaganda und zynischer Verachtung der Menschennatur. Wie entschieden anders klingen da die ersten Sätze der Charta der Vereinten Nationen vom Juni 1945:

«Wir, die Völker der Vereinten Nationen

 fest entschlossen,

  • künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat;
  • unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob gross oder klein, erneut zu bekräftigen;
  • Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können;
  • den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in grösserer Freiheit zu fördern,

und für diese Zwecke

  • Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben;
  • unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren;
  • Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird; und
  • internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern 

haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.»

Auch nach der Verabschiedung der Charta war dieses Bekenntnis kein Programm der realen Weltpolitik. Auch nicht der tatsächlichen Entscheidungen der Vereinten Nationen und ihrer zuständigen Organe, vor allem des in der Hauptsache für Sicherheit und Frieden zuständigen, aber nach machtpolitischen Gesichtspunkten zusammengesetzten Sicherheitsrates. Aber dieses Bekenntnis war und bleibt bis heute ein grundlegender Ausdruck der Bedürfnisse menschlicher Sozialnatur und menschlichen Strebens.
  Die Präambel spricht davon, dass es «im gemeinsamen Interesse» notwendig werden kann, «Waffengewalt» anzuwenden, und formuliert dazu in Kapitel VII der Charta spezielle Regelungen. Immer gilt, dass die Anwendung von «Waffengewalt» nicht ins Belieben gestellt ist und immer nach Alternativen gesucht werden muss – so dass vor der Anwendung von «Waffengewalt», aber auch währenddessen alle in der Pflicht stehen, dazu beizutragen, dass die Gewalt so schnell wie möglich beendet und Frieden geschaffen wird.
  Um so befremdlicher ist es, wenn die Machteliten der westlichen Staaten die diplomatischen Bemühungen der chinesischen Regierung, der Regierungen einiger afrikanischer und lateinamerikanischer Staaten, aber auch der arabischen Staatenwelt, die «Waffengewalt» in der Ukraine und auch im Nahen Osten (Syrien, Jemen, Libyen usw.) zu beenden, nur wenig erwähnen und noch weniger würdigen. Erstaunlich ist dies allerdings nicht, haben doch gerade diese westlichen Machteliten die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine mittel- oder unmittelbar provoziert und ständig befeuert.
  China, Afrika, Lateinamerika und auch die arabischen Staaten wissen, dass das Bemühen um Frieden nicht nur idealistische Gründe hat, sondern auch Ausdruck grundlegender eigener Interessen ist. Aber nicht nur diese Regionen der Welt leiden sehr konkret darunter, wenn in der Ukraine oder im Nahen Osten Krieg herrscht. Die Vernunft sagt, dass das Bemühen um Frieden von existentieller Bedeutung für alle Menschen ist – dies gilt auch dann, wenn man mit in Betracht zieht, dass es Menschen gibt, die von Kriegen materiell profitieren bzw. glauben, profitieren zu können. Aber das ist nicht zu Ende gedacht.
  Erich Vad, Brigadegeneral a.D. der deutschen Bundeswehr und militärpolitischer Berater der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat in einem Beitrag für die «Neue Zürcher Zeitung» (15. Mai 2023) dargelegt, der Westen habe keinen Plan dafür, wie der Krieg in der Ukraine vom Westen geführt und vor allem auch, wie er beendet werden könne. Die westliche Vorstellung, Russland besiegen zu wollen, sei realitätsfern.
  Vad bezieht die russische Position in seine Überlegungen mit ein. Aus «geostrategischer Sicht» sei «eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland nicht akzeptabel». Deshalb sei «die Forderung, den Russen die Kontrolle über die Krim und die Gebiete mit hoher russischsprachiger Bevölkerung in der Ukraine zu überlassen oder dem Donbass weitestgehende Autonomie zu gewähren, aus strategischer Sicht realistischer, als auf das ukrainische Selbstbestimmungsrecht oder auf einen langen Abnutzungskrieg mit hohem Eskalationspotential zu setzen». Ein «Zugriff des geopolitischen Rivalen USA auf die Schwarzmeerregion wäre für Russland ebenso wenig hinnehmbar, wie es der Kontrollverlust in der Karibik und im Panamakanal für die USA oder der Kontrollverlust im Südchinesischen Meer sowie in Taiwan für China wäre».
  Mit Blick auf Europa schreibt Vad: «In bezug auf Russland stellt sich die Frage, inwieweit die Fortdauer des Ukraine-Krieges und die mit ihm einhergehende Wiederauflage des Kalten Krieges im strategischen Interesse Europas liegen können.» Und: «Wenn man von dem Anspruch ausgeht, ein Global player und strategischer Akteur zu sein, dann hat sich die Situation der EU, insbesondere aber die Deutschlands, mit dem Ukraine-Krieg massiv verschlechtert.»
  Schliesslich: «In einer absehbar multipolaren Welt, die durch gegenseitige strategische Entflechtung1 keineswegs sicherer wird, wäre eine Neuauflage des Kalten Krieges mit einem Eisernen Vorhang im Osten aus europäischer Sicht keine gute Option.»
  Seymour Hersh hat mit einem Artikel vom 17. Mai 2023 darauf hingewiesen, dass es auch innerhalb der europäischen Machteliten wachsenden Unmut über die negativen Folgen des Ukraine-Krieges für Europa gibt und ein Ende des Krieges gefordert wird.2
  Stimmen wie die des ehemaligen Bundeswehrgenerals Erich Vad oder der europäischen Machteliten und US-amerikanischen Geheimdienstmitarbeiter, die Seymour Hersh zitiert, sind bislang noch eine Minderheit innerhalb der Machteliten des Westens. Noch treffen andere die Entscheidungen. Und diese sehen nach wie vor sehr übel aus3 und bedienen sich immer absurderer Begründungen.4
  So konzentriert sich die Hoffnung auf Waffenstillstand in der Ukraine und im Nahen Osten sowie auf eine bessere weltweite Sicherheitsordnung derzeit zu Recht auf die ernsthaften Bemühungen der nicht-westlichen Welt. Deren Erfolg, den sich jeder nur wünschen kann, wird für die westlichen Machteliten ein Offenbarungseid sein. Für die Menschheit wäre er ein Segen.

1 Wenn Erich Vad von den Gefahren einer «gegenseitigen strategischen Entflechtung» schreibt, dann meint er damit wohl, dass eine multipolare Welt, in der es immer weniger Zusammenarbeit zwischen den grossen Mächten gibt, sehr konfliktträchtig sein wird.
2 https://seymourhersh.substack.com/  vom 17.5.2023
3 vgl. dazu die jüngsten Beschlüsse und Beschlussvorlagen des G-7-Gipfels und der EU-Aussenminister: noch mehr Waffen für die Ukraine (bald auch Kampfflugzeuge?), noch mehr Sanktionen gegen Russland, aber kein Plan für Diplomatie
4 So sagte zum Beispiel der Präsident des deutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz, die deutsche Demokratie sei durch Angriffe von innen und von aussen gefährdet. Eine Aussage wie die von AfD-Politikern, Russland führe Krieg gegen die Ukraine, «weil die eigenen Sicherheitsinteressen durch den Westen verletzt worden seien» [was eine ganz offensichtliche Tatsache ist], sei ein «Narrativ» der russischen «Propaganda», das den Rechtsextremismus in Deutschland fördere. (vgl. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afd-russland-propaganda-deutschland-thomas-haldenwang-100.html vom 22.5.2023) Offensichtlich sind die deutschen Machteliten besorgt, weil die Position Russlands «in Teilen der Bevölkerung mehr denn je auf Resonanz» stösst – so schrieb es eines der Hauptsprachrohre dieser Machteliten, die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» am 23. Mai 2023. In einer solchen Situation ist es in Deutschland seit 1945 üblich, den grossen Hammer «Rechtsextremismus» («Faschismuskeule») hervorzuholen.

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