Pfarrer Johann Evangelist Traber – Begründer der schweizerischen Raiffeisenkasse

von Brigitte von Bergen

Die Krise der schweizerischen Grossbank Credit Suisse und ihre Übernahme durch die UBS haben gezeigt, dass wir in unsicheren Zeiten leben, was die Stabilität unseres Finanzsystems angeht. Zu der Frage, wie es widerstandsfähiger werden kann gegen Krisen, die fatale Folgen für die lokale wie die Weltwirtschaft haben können, äusserte sich unter anderen kürzlich der deutsche Professor für Volkswirtschaftslehre Christian Kreiß. Grundsätzlich riet er zu kleineren Geldinstituten: «Man konnte aus der Finanzkrise lernen: Je weiter die Banker vom Kunden entfernt sind, desto verantwortungsloser ist das Bankverhalten. Umgekehrt gilt: Je stärker regional verwurzelt eine Bank ist, desto verantwortungsvoller handelt sie in der Regel. Unter Ethikgesichtspunkten sind kleinere Regionalbanken ein wahrer Lichtblick.»1

Eine solche Bank gründete Ende des 19. Jahrhunderts Pfarrer Johann Evangelist Traber, und es lohnt sich gerade in der heutigen Zeit, dieses Beispiel genauer zu beleuchten. Er legte die Grundlage für die erste schweizerische Raiffeisenkasse nach dem Prinzip des deutschen Sozialreformers Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Sorgfältige Vorbereitungen führten schliesslich zur erfolgreichen Gründung der Bank in Bichelsee, die am 1. Januar 1900 eröffnet wurde. Seither entstanden in vielen Gemeinden erfolgreich wirtschaftende Raiffeisenbanken.

Hilfe zur Selbsthilfe

Die Armut war damals in der Schweiz sehr gross. Traber war es daher ein grosses Anliegen, den Menschen dazu zu verhelfen, dass sie sich selbständig aus der Armut befreien konnten. Eine Möglichkeit dazu sah er im Genossenschaftsgedanken: «Der Kapitalismus schwillt immer mehr an, und der Mittelstand leidet an Schwindsucht. ‹Hilf Dir Selbst!› Die wirksame Selbsthilfe sind die Raiffeisenbanken», so Traber in seiner Schrift «Kurze Aufklärung über Raiffeisensche Darlehenskassen-Vereine».2
  Dem entsprach die Form der Genossenschaft am besten, denn «die Genossenschaft ist die Urform des gemeinsamen Tätigseins in Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung. Es entspricht der menschlichen Natur, die Aufgaben des Lebens gemeinsam anzupacken.»3 Diese Tradition ist in der Schweiz seit Jahrhunderten verbreitet. Es geht dabei ganz zentral um die wirtschaftliche Förderung und Entwicklung aller Mitglieder aus eigener Kraft. Werfen wir einen Blick zurück in die Zeit, in der diese verdienstvolle Pionierarbeit geleistet wurde.

Wer war Pfarrer Johann Traber?

1885 wurde Pfarrer Traber, der schon über einige Lebenserfahrung verfügte, als Priester in die Gemeinde Bichelsee im Hinterthurgau berufen. Er wirkte in einer Zeit, in der die Menschen vielerorts sehr arm waren. Er sah ihre Not. Die Bevölkerung bestand mehrheitlich aus Bauern und einigen Handwerkern. Die Textilindustrie, besonders die Maschinenstickerei, verbreitete sich ab etwa 1850 stark in der Ostschweiz. Die Familien brauchten Kredite, um Stickereilokale zu bauen für die Stickmaschinen. Meistens standen sie bei Bauernhöfen und wurden von den Bauernfamilien neben der Landwirtschaft in Heimindustrie betrieben. Das erbrachte ihnen einen Zusatzverdienst.
  Die Offenheit von Pfarrer Traber und sein Blick für alle Fragen, die die Menschen damals beschäftigten, veranlassten ihn, Schritt für Schritt Lösungen zu suchen und zu entwickeln. Stets bezog er die Menschen im Dorf ein mitzudenken, mitzugestalten und mitzuhelfen. Dadurch kamen sie in die Lage, ihr Leben zu verbessern. Seine entschlossene, mutige Hilfe zur Selbsthilfe bildete einen ausgeprägten Wesenszug Trabers. Nie blieb er hilflos vor einem Problem stehen, seine Haltung war: «Wo ein Wille ist, da findet sich auch ein Weg!»4

Wie sah die Hilfe aus?

Pfarrer Traber förderte das Vereinsleben in der Gemeinde. Vereine schaffen für die Menschen Gelegenheiten, sich zu treffen, um die Fragen zu diskutieren, die sie beschäftigen. Als erstes nach seinem Amtsantritt waren ihm die Frauen wichtig; sie sollten einen Rahmen haben, um ihre Fragen besprechen zu können. Er gründete den Christlichen Mütterverein Bichelsee mit dem Ziel der Förderung der «[…] Erziehung der Jugend» zur «gegenseitige[n] Hilfe und Ermunterung zu allem Guten, das diesem Zwecke dient».5 Zur Weiterbildung konnten Frauen und Mütter Erziehungsvorträge zu praktischen Fragen besuchen.
  Noch im selben Jahr (1896) entstand der Männerverein, dem Traber eine wichtige Funktion und einen umfassenden Sinn verlieh: Er sollte einerseits die Bevölkerung in religiös-sittlichem Sinn bilden, um sie in die Lage zu versetzen, bei der Lösung der sozialen Frage auf christlicher Grundlage beizutragen, andererseits wollte man Aufklärung bieten zu anderen jeweils brennenden politischen und wissenschaftlichen Fragen, wie sie Zeit und Verhältnisse mit sich brachten, z.B. zur Frage der Gemeinnützigkeit.
  Pfarrer Johann Evangelist Traber studierte ausführlich die Enzyklika «Rerum Novarum», die Papst Leo XIII. am 15. Mai 1891 veröffentlicht hatte. Sie wendet sich gegen die Ausbeutung der Arbeiterschaft, lehrt auf überzeugende Art und Weise, wie die Menschheit durch Selbsthilfe und durch gegenseitige Unterstützung ihre Lage verbessern kann. Auf diesem Gedanken beruhten Trabers ganzes Wirken und die genannten Vereinsgründungen.

Gründung der Raiffeisenbank

In der Thurgauer Wochenzeitung, mit der Pfarrer Traber sehr verbunden war, erschienen verschiedene Artikel zu den aktuellen Themen. In einem Artikel wird das Prinzip Raiffeisen dargelegt, in einem anderen das bäuerliche Kreditwesen; ein weiterer Artikel trägt den Titel «Über Darlehenskassenvereine nach dem System Raiffeisen; ihre Einrichtung und Bedeutung».6 Darin wird auseinandergesetzt, dass grosse Banken den Bedürfnissen der Landwirtschaft nicht entsprechen, sinnvoller seien landwirtschaftliche Kreditgenossenschaften.
  Pfarrer Traber diskutierte mit Mitgliedern des Männervereins ausführlich folgende Problemstellungen: Wie kann man das Wohlergehen der Menschen erhöhen? Wie kommen die Menschen aus ihrer finanziellen Not heraus? Wie kann man auf nützliche Weise Geld anlegen? Wie kann man zu günstigen Zinsen Geld leihen, wenn man z.B. in Gebäude oder Maschinen investieren will, ohne Wucherern ausgesetzt zu sein? Die Vereinsmitglieder setzten sich mit den Prinzipien von Friedrich Wilhelm Raiffeisen aus Deutschland auseinander, studierten und diskutierten sie gründlich.
  Als Folge dieser Gespräche fassten die vierzig Männer mit Pfarrer Traber den Entschluss, die erste Bank nach dem System Raiffeisen in der Schweiz zu gründen. Am 21. Dezember 1899 fand im Schulhaus Balterswil (Thurgau) die eigentliche Gründungsversammlung statt. Sie nannte sich «1. Generalversammlung des Spar- und Darlehenskassenvereins Bichelsee-Balterswil». Als Vereins- und Vorstandspräsident wurde Pfarrer Johann Traber gewählt. Am 1. Januar 1900 wurde die Darlehenskasse Bichelsee eröffnet.
  In den Statuten wurden einige Grundsätze festgelegt, die sich bewährten, die alle Krisen überstanden und bis heute gelten. Die Statuten sind an das schweizerische Obligationenrecht angepasst. Ein Grundpfeiler ist: «Geldeinlagen nimmt die Raiffeisenkasse von überallher entgegen; ihre Gelder aber darf sie nur innerhalb des eigenen Vereinsbezirkes verzinslich anlegen und niemals darüber hinaus Darlehen gewähren. Darlehen dürfen nur an Vereinsmitglieder gewährt werden.»7 Denn in einer Gemeinde kennen sich die Menschen; man weiss davon, wenn einer in Not ist, einer redlich ein Darlehen sucht und es ihm gewährt wird.

Trabers Grundsätze

Die erfolgreiche Gründung der Raiffeisenkasse hat sich schnell herumgesprochen. Pfarrer Traber wurde von vielen Gemeinden eingeladen, die an der Gründung einer Raiffeisenkasse interessiert waren, die Grundlagen zu referieren. Er entschied sich, eine Schrift zu verfassen, eine Anleitung, mittels der jede Gemeinde in der Lage war, selbst eine Raiffeisenkasse zu gründen und zu betreiben. In der Broschüre «Kurze Aufklärung über Raiffeisensche Darlehenskassen-Vereine» legte er fünf Grundsätze fest, an denen nicht gerüttelt werden darf, wenn man eine Darlehenskasse nach dem Prinzip von Wilhelm Raiffeisen gründen und sie erfolgreich führen will. Sie lauten:

  1. Beschränkung auf einen engeren Bezirk von einigen tausend Einwohnern.
  2. Unbeschränkte solidarische Haftbarkeit sämtlicher Mitglieder.
  3. Unentgeltlichkeit der Verwaltung mit Ausnahme des Kassiers.
  4. Es dürfen nur an Mitglieder Darlehen gewährt werden.
  5. Es werden keine Dividenden verteilt, sondern der Reingewinn soll im Reservefond geäufnet werden, bis derselbe als gemeinsamer Hilfsfond für die Gesamtheit fruchtbar gemacht werden kann.8

Pfarrer Traber stellte bald einmal fest, dass die Raiffeisen-Idee in der Schweiz nur Erfolg haben konnte, wenn eine Zentralkasse, eine Ausgleichskasse für die Banken ins Leben gerufen werden konnte. Bereits am 25. September 1902 wurde der nationale Verband mit Sitz in Bichelsee gegründet. Zum ersten Verbandsdirektor und Kassier wurde Pfarrer Traber gewählt.9
  In seinem letzten Verbandsbericht 1912 prägte er den Satz: «Halte die Regel, und die Regel hält dich.»10 Dieser Grundgedanke ist in seiner Lebenshaltung erkennbar und ist auch für den Raiffeisenverband eine solide Basis. Wenn man sich an Grundprinzipien hält, die sich bewährt haben, und sich davor hütet, sie leichtfertig aufzugeben, wird man Erfolg haben und vor Krisen sicher sein.
  Bei der Feier zum 25jährigen Bestehen der ersten schweizerischen Raiffeisenkasse wurde Traber für seine ausserordentlichen Verdienste festlich gewürdigt. Der Verband feierte Bichelsee als das «Rütli der schweizerischen Raiffeisenbewegung»11 und dankte dem «verehrten schweizerischen Raiffeisenvater» Johann Evangelist Traber für das leuchtende Beispiel.
  Bis heute gilt die Grundregel, dass die Raiffeisenbank mit dem Geld, das ihr von Menschen anvertraut worden ist, keine Spekulationen an der Börse machen darf. Professor Kreiß riet deshalb, Geldanlagen sicherer zu machen, indem der grösste Teil der Finanzbranche in kleinere Institute nach dem Vorbild der Raiffeisenbanken und Sparkassen zurückverlagert wird. •



1 Kreiß, Christian. «Nichts ist gut – die Banken- und Schuldenkrise schwelt weiter». In: Zeit-Fragen Nr. 11 vom 16.5.2023, S. 4
2 Traber, Johann E., Pfarrer in Bichelsee. Kurze Aufklärung über Raiffeisensche Darlehenskassen-Vereine. 12. Februar 1900, S. 5
3 Wir gründen eine Genossenschaft, Verlag Zeit-Fragen 2014, S. 6
4 Böhi, Alfred. Pfarrer und Dekan Johann Ev. Traber. Schweizerischer Raiffeisen-Pionier. 1943, S. 32 und S. 21
5 a.a.O., S. 49
6 a.a.O., S. 92
7 Traber, Johann E., Pfarrer in Bichelsee.  Kurze Aufklärung über Raiffeisensche Darlehenskassen-Vereine. 12. Februar 1900, S. 5

8 a.a.O., S. 15
9 Böhi, Alfred, a.a.O., S. 100
10 100 Jahre Raiffeisenbank Bichelsee-Turbenthal, 1999. S. 15/16
11 Böhi, Alfred, a.a.O. S. 101

Pfarrer Johann Evangelist Traber

Pfarrer Johann Evangelist Traber ist am 24. März 1854 in Homburg im Kanton Thurgau geboren. Beim ersten Kommunionunterricht fasste er den Entschluss, Geistlicher zu werden. 1868 traf die Familie ein harter Schlag: Johann Trabers Mutter starb und zwei Monate später der Vater, beide an Tuberkulose. Die sechs Kinder versprachen sich, die Familie zusammenzuhalten. Der älteste Bruder Joseph übernahm die Vaterrolle, bei ihm machte Johann eine Schreinerlehre. Seinen Wunsch zu studieren unterstützten seine Geschwister. 1873–1879 besuchte er das Gymnasium Einsiedeln, anschliessend studierte er 1879–1883 in Würzburg und Löwen Theologie. In der Schweiz, im Kapuzinerkloster Luzern, empfing Johann Evangelist Traber 1883 die Priesterweihe des Luzerner Diözesanbischofs. Nach seiner Primiz-Feier in der Heimatkirche Homburg trat Kaplan Traber 1883 seine erste Stelle in Sirnach an. Nach einem begeistert aufgenommenen Vortrag in Bichelsee wählte ihn die Gemeinde zwei Jahre später 1885 zu ihrem Pfarrer. 1925–1930 war er Dekan des Kapitels Fischingen, ab 1895 Mitglied des thurgauischen katholischen Pressevereins (1900–1930 Vizepräsident). 1899 Gründer der ersten Raiffeisenkasse der Schweiz in Bichelsee-Balterswil und 1902 Mitgründer des Schweizer Verbands der Raiffeisenkassen (1902–1912 Mitglied der Geschäftsleitung), ab 1912 Herausgeber des «Schweizer Raiffeisenboten». Am 25jährigen Verbandsjubiläum 1928 wurde Pfarrer Traber für sein Werk geehrt und 1929 zum Ehrenpräsidenten des Verbandes der Raiffeisenkassen ernannt. Am 29. Oktober 1930 ist er für immer eingeschlafen.

Quelle: Historisches Lexikon. Erich Trösch (Version vom 5. März 2012)

Das Genossenschaftswesen hat in der Schweiz eine jahrhundertealte Tradition

«Als in den zwanziger und dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts die soziale Not und die Arbeitslosigkeit anstieg, war der demokratische Teil der Schweiz entschlossen, die Arbeitslosen nicht der Grossmachtpropaganda von Hitler, Mussolini oder den Kommunisten zu überlassen. Sie gründeten vermehrt Genossenschaften in verschiedenen Bereichen: Wasser- und Stromversorgung, Fluss- und Bachkorrekturen, Flurstrassen, Waldpflege, Maschinenanschaffung und natürlich die landwirtschaftlichen Einkaufs- und Verkaufsgenossenschaften und die Raiffeisenbanken.
  In der Gemeinde Bichelsee im Kanton Thurgau gründete Pfarrer Johann Traber Diskussionskreise, die das Prinzip von Friederich W. Raiffeisen gründlich diskutierten. Diese Kreise wurden zu aktiven Kräften, so dass noch vor Ausbruch des Krieges, aber auch während des Zweiten Weltkrieges viele Bereiche so abgesichert werden konnten.»

Annemarie Buchholz-Kaiser. Zur Bedeutung des Genossenschaftsgedankens in der Schweiz, «Mut zur Ethik» 2011.

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