«Heute Journalist sein»

von Patrick Lawrence*

Die heutige Krise des Journalismus – und ich bin sicher, wir sind uns einig, dass es eine Krise des Journalismus gibt – ist meiner Meinung nach in den Vereinigten Staaten am ausgeprägtesten, aber sie scheint in dem einen oder anderen Ausmass überall im Westen präsent zu sein.

Die institutionelle Krise westlicher Medien

Diese Krise hat verschiedene Dimensionen. Sie ist institutionell. Medien, die sich im Besitz von Konzernen befinden, oder «Mainstream-Medien» oder «alte Medien», haben ein schockierend niedriges Niveau an gesellschaftlichem Vertrauen erreicht, das in verschiedenen Meinungsumfragen gemessen wird. Im vergangenen Sommer hat das Gallup Institut, eines der traditionsreichsten Meinungsforschungsinstitute, seine neueste Umfrage zum Vertrauen in öffentliche Institutionen publiziert. Diese Umfrage wird jedes Jahr durchgeführt. Und ich finde es immer noch sehr bemerkenswert, diese Zahlen zu wiederholen. Die Ergebnisse von Gallup zeigen, dass 16 Prozent der Amerikaner glauben, was sie in ihren Zeitungen lesen. Die Zahl für die Nachrichtensendungen im Fernsehen ist sogar noch erstaunlicher: 11 Prozent der Amerikaner nehmen die Fernsehnachrichten ernst.
  Ich stelle diese Zahlen gerne umgekehrt dar, um die volle Wirkung zu erzielen: 84 von 100 Amerikanern haben kein Vertrauen in das, was sie in der Zeitung lesen; 89 von 100 Amerikanern glauben nicht, was sie in den Nachrichtensendungen im Fernsehen hören.
  Das ist die eine Art von Krisen. Diese zu verstehen ist sehr wichtig. Auch auf die Gefahr hin, dass ich zu kurz greife, denke ich, dass sie im Grunde die ungesunde, höchst dysfunktionale Beziehung der Medien zu verschiedenen Arten von Macht widerspiegelt – politische, administrative, unternehmerische und finanzielle Macht –, da diese Medien börsennotierten Unternehmen gehören, welche Aktionäre privilegieren und sich daher in erster Linie um ihre Aktienkurse und ihre Gewinnmargen kümmern.
  Und wie ich, glaube ich, schon letztes Jahr bei Ihnen via Zoom erwähnt habe, ist diese Krise meiner Meinung nach auch die Folge der verteidigenden Haltung, die das amerikanische Imperium seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington eingenommen hat. Die amerikanische Gesellschaft als Ganzes, in all ihren Dimensionen, spiegelt diese Verteidigungshaltung wider. Unter solchen Umständen wird ideologische Konformität zum Gebot der Stunde – es sei denn, man ist nicht bereit, seine eigenen Prinzipien im Namen der Sicherheit aufzugeben.

Bedeutung der Krise für den einzelnen Journalisten

Worüber ich heute sprechen möchte, hat mit diesem Umfeld zu tun: Daran besteht für mich kein Zweifel. Aber ich möchte die Krise der westlichen Medien aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten. Ich möchte untersuchen, was diese Krise für den einzelnen Journalisten bedeutet. Für jeden von uns ist es eine psychologische Frage, eine soziale Frage und auch eine Frage der Identität.

Wer bin ich, wenn ich als Journalist tätig bin?

Was ist der angemessene Platz des Journalisten in der Gesellschaft?

Wo steht der Journalist im Verhältnis zu den Mächten, über die er berichtet, und zu den Lesern und Zuschauern, denen er dient?

Und schliesslich und nicht zuletzt, angesichts der von mir beschriebenen Krise, wie kann man als Journalist unter den gegenwärtigen Umständen gute Arbeit leisten?

Um diese letzte Frage zu beantworten, die mir am interessantesten und wichtigsten erscheint, möchte ich ein wenig über ein Buch sprechen, das mich sehr inspiriert hat. Ich denke dabei an «Für ein armes Theater», das von Jerzy Grotowski, dem polnischen Theaterregisseur und -theoretiker, im Jahr 1968 geschrieben wurde. Das wird Ihnen wahrscheinlich als eine seltsame Inspirationsquelle erscheinen, und deshalb freue ich mich darauf, Ihnen meine Gedanken zu erläutern und herauszufinden, ob Sie die Gültigkeit meiner Idee eines «armen Journalismus» als eine Variante von Grotowskis «armem Theater» bestätigen oder nicht.

Erste Erfahrungen

Seit meinen frühesten Tagen im Journalismus, und ich gehe zurück bis in die frühen 1970er Jahre, als die USA noch den Vietnam-Krieg führten und Amerika darüber zutiefst gespalten war, habe ich einen etwas schizophrenen Ansatz für meinen Beruf gewählt. Meine erste Anstellung hatte ich bei einer Zeitung namens «Daily News», einem New Yorker Boulevardblatt, das damals die auflagenstärkste Zeitung Amerikas war. Die «Daily News» hätte politisch nicht weiter rechts stehen können und war ein entschiedener Befürworter des Krieges. Bei der «Daily News» lernte ich das Handwerk, die Technik, die Methode – was auch immer man sonst über sie sagen mag, die «Daily News» war gut geschrieben und gut redigiert – und ich bin immer noch der Meinung, dass ein guter Journalist diese technischen Dinge beherrschen muss, wenn seine Arbeit effektiv sein soll.
  Aber ich begann auch schon früh, fast unmittelbar nach meinem Eintritt bei «Daily News», nebenbei für unabhängige Publikationen zu arbeiten – Antikriegszeitschriften, Anti-Apartheid-Zeitschriften, Zeitungen und Zeitschriften, die sich mit Fragen der Entwicklung der Dritten Welt, dem Nord-Süd-Gefälle und so weiter befassten. Diese Arbeit war für mich genauso wichtig oder wichtiger als all das, was ich bei «Daily News» gelernt hatte. Die wichtigste unabhängige Zeitung dieser Art hiess Guardian, und sie hatte nichts mit der britischen Tageszeitung zu tun. Der Guardian war eine progressive Wochenzeitung, als das Wort «progressiv» noch viel mehr bedeutete als heute. Ihr Chefkorrespondent hiess Wilfred Burchett, ein gefeierter Journalist, der unter anderem für seine Berichte über den Vietnam-Krieg aus dem Norden bekannt war: Er war der einzige westliche Korrespondent, der dies tat.
  Ich hatte das Privileg, Wilfreds Artikel zu redigieren, wenn sie eintrafen, da ich kurz nach meinem Eintritt in den Guardian zum Auslandsredakteur ernannt wurde. Wilfred wurde in jenen frühen Tagen zu einer Art Vorbild für mich. Ich kann zu meiner grossen Freude sagen, dass ich heute mit George Burchett, einem von Wilfreds Söhnen, gut befreundet bin.
  Es ist jetzt leicht zu erkennen, worauf ich mit dieser etwas schizoiden Aufteilung meines Berufslebens hinauswollte. Das war meine Antwort auf das Problem der Entfremdung, das im Mainstream-Journalismus ein häufiges, wenn nicht gar universelles Problem ist. Damals wie heute muss man ein mehr oder weniger hohes Mass an Entfremdung in Kauf nehmen, um in unseren grossen Medien, unserem konzerngesteuerten «Mainstream», zu überleben. Die Ideale, die so viele von uns in diesen Beruf locken, erscheinen mit der Zeit so altmodisch wie die Botschaften auf Grusskarten.

Die Entfremdung im Mainstream-Journalismus

Dieser Entfremdung kann man sich nicht erwehren, jedenfalls nicht innerhalb des Mainstreams. Die Sichtweise und Darstellung von Ereignissen in einer bestimmten Publikation war die Sache des Herausgebers und seiner leitenden Redakteure. Die Journalisten schrieben für sie, nicht für die Leser. Objektivität, ein Jahrhundert lang das halb heilige Telos des Berufsstandes, ist zu einem Instrument der Disziplinierung verkommen, mit dem Journalisten gezwungen werden, wie Bauchrednerpuppen mit der institutionellen Stimme ihrer Zeitung zu schreiben.
  Im Grunde hatte ein Journalist zwei Alternativen: Entweder man kultiviert eine sehr ungesunde Distanz zu den veröffentlichten Früchten seiner Arbeit oder man übernimmt um seines Gehalts und einer möglichen Beförderung willen den redaktionellen Standpunkt seines Arbeitgebers. Dies sind, wie ich hinzufügen möchte, keine sich gegenseitig ausschliessenden Alternativen. Meiner Erfahrung nach gibt es viele, die auf diese Weise entfremdet sind, aber in völliger Unkenntnis ihres Zustands mit der Überzeugung eines Bekehrten die Positionen ihrer Zeitungen zu Politik, Wirtschaft, Aussenpolitik und so weiter verteidigen.

Festhalten an den eigenen Prinzipien

Das Festhalten an den eigenen Prinzipien ist natürlich ein dritter Weg, aber man lernt schnell, dass dies sehr oft ein kostspieliges Unterfangen ist – wenn es nicht sogar todbringend für die eigenen Zukunftsaussichten ist.
  Im Grossen und Ganzen war das, was man unter den Journalisten, die sich in den Medien der Konzerne tummelten, vorfand, ein gewaltiger, kollektiver Fall von mauvaise foi, Sartres «Selbsttäuschung»1. Philosophisch ausgedrückt, ging es um das An-Sich im Gegensatz zum Für-Sich. Mit anderen Worten, die journalistische Praxis wurde zu einer Frage der Performance.
  Ich habe das Problem der Entfremdung verstanden, als ich bei der «Daily News» arbeitete, aber ich habe es nicht ganz akzeptiert. Meine Antwort darauf war, meinen Weg bei unabhängigen Publikationen zu finden, wo man schrieb, was man meinte, und wo es keine oder nur eine sehr geringe Entfremdung zwischen einem selbst und seiner Arbeit gab – und, was bei weitem grundlegender war, zwischen einem selbst und sich selbst.
  Ich bin dabei, ein Buch zu veröffentlichen, das diese Fragen aufgreift, und ich stütze mich hier auf den Text des Buches. Darin mache ich Anleihen bei C. G. Jung. Jeder von uns hat einen Schatten, erklärte er hie und da in vielen seiner Werke. Es ist der Teil von uns, der von Konventionen, orthodoxer Moral, akzeptablem Geschmack, den Zumutungen der Arbeitgeber und anderen sozialen und beruflichen Zwängen unterdrückt wird. Das Opfer dieser unendlich manifesten Kräfte ist die integrierte Persönlichkeit – das authentische, ungeteilte Selbst, das in der Lage ist, mit Gewissheit und ohne Bezugnahme auf die Zwänge der Macht oder der kollektiven Meinung zu urteilen und zu handeln.

«Schatten-Selbst» –
Wenn Journalisten ihre Persönlichkeit spalten

Die Schatten-Selbst von Journalisten sollten uns allen ein besonderes Anliegen sein. Seit meinen Jahren bei der Mainstream-Presse haben sie mich immer wieder beschäftigt. Wenn Journalisten ihre Persönlichkeit spalten, um Positionen in den Medienunternehmen zu sichern und zu halten, wird ihr Urteilsvermögen kompromittiert, und die Korruption und die Verfehlungen, die den Berufsstand heimsuchen, nehmen ihren Anfang.
  Für mich selbst ist mein Schatten der Teil von mir, den ich vor anderen verborgen hielt. Lange Zeit neigte ich dazu, ihn sogar vor mir selbst zu verbergen – wenn ich mich nicht sogar vor ihm versteckte. Ich verdiente meinen Lebensunterhalt bei grossen Zeitungen und Nachrichtenmagazinen, weil man dort in den Jahren, über die ich schreibe, seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Meine Arbeit für unabhängige Publikationen, auf diese private Art und Weise, eine Art und Weise, die andere nicht zu sehen brauchten, war meine Verteidigung gegen die Auslöschung meiner Individualität, dessen, wer ich wirklich war.

Integrität

Wenn wir darüber nachdenken wollen, wer der Journalist in unserer Zeit ist, schlage ich vor, dass wir hier beginnen: Die Arbeit zur Überwindung der Krise in diesem Beruf sollte mit der Entschlossenheit jedes einzelnen Journalisten beginnen, die Entfremdung, die in diesem Beruf endemisch ist, im Namen dessen abzulehnen, was wir auch als Ganzheit des Selbst bezeichnen könnten. Der Pfarrer in meinem kleinen Dorf in Neuengland lehrte mich vor nicht allzu langer Zeit das Verhältnis von «Integration» und «Integrität». Die Persönlichkeit des Journalisten zu reintegrieren bedeutet, ihn oder sie in einen Zustand der Integrität zu versetzen. Ich werde meinem Pastor für immer dankbar sein, dass er mich auf diese Wahrheit hingewiesen hat, die direkt vor mir lag, die ich aber nicht gesehen habe.
  Jeder Journalist, der sich mit der Frage nach seinem integrierten Selbst und damit seiner Integrität auseinandersetzt – im Jungschen Sinne eins mit seinem Schatten zu sein – wird auch über seinen Platz in der Gesellschaft nachdenken. Die eng damit verbundene, aber gesonderte Frage ist, wo er in der Gesellschaft steht, nämlich zwischen den Mächten, über die er berichtet, und seinem Publikum, den Lesern und Zuschauern, für die er schreibt oder sendet.

Aussenseiter

Um die erste Frage anzusprechen, die einfachere der beiden, denke ich, dass I. F. Stone, der wunderbare unabhängige Praktiker der Ära des Kalten Krieges, es genau auf den Punkt gebracht hat. Der wahre Journalist ist per Definition ein Aussenseiter. Natürlich gehört er zur Gesellschaft, denn er lebt nicht in einer Höhle, aber er gehört nicht dazu. Er hat seine politischen Ansichten, wie wir alle. Und das ist auch gut so. Es ist Ausdruck seines staatsbürgerlichen, öffentlichen Selbst, das man keineswegs bedauern sollte. Aber er hat eine besondere, vielleicht einzigartige Verantwortung, seine Ansichten, Neigungen, Meinungen und so weiter aus seiner Arbeit herauszuhalten. Dies ist ein Ideal, das Ideal der authentischen Objektivität, das nie ganz erreicht werden kann. Aber es muss dennoch angestrebt werden, und es ist ein wesentlicher Teil dessen, was den Journalisten von anderen in der Gesellschaft unterscheidet.
  Izzy Stone brachte diese Haltung auf jeder Seite von I. F. Stone’s Weekly zum Ausdruck, der Publikation, die er jahrzehntelang von seinem Esszimmertisch in Washington aus schrieb, redigierte und herausbrachte. Heutzutage sind zu wenige Journalisten bereit, diese Beziehung zur Gesellschaft zu akzeptieren. Die meisten wünschen sich Akzeptanz bei den politischen und gesellschaftlichen Eliten.
  Aber es war schliesslich Stone, der feststellte, dass jede Generation nur wenige echte Journalisten hervorbringt – eine Wahrheit, die wir nie vergessen sollten.

Die «Lippmann-Dewey-Debatte»

Ich habe soeben unsere zweite Frage angesprochen, nämlich wo der Journalist in der Gesellschaft steht und wer er oder sie ist. Dies ist eine komplexere Frage und erfordert mehr Erläuterungen.
  Um meinen Standpunkt zu verdeutlichen, möchte ich mich auf einen bekannten Meinungsaustausch beziehen, der vor einem Jahrhundert – Anfang bis Mitte der 1920er Jahre – in Amerika stattfand. Die beiden Persönlichkeiten, die das führten, was wir die «Lippmann-Dewey-Debatte» nennen, waren Walter Lippmann, ein prominenter Journalist und Autor zu aktuellen Themen, der später zu den frühen Liberalen des Kalten Krieges gehörte, und John Dewey, der Philosoph und Pädagoge.
  Im Jahr 1920 veröffentlichte Lippmann das erste von drei Büchern über die Stellung der Presse und die Aufgabe des Journalisten in einer demokratischen Gesellschaft. Auf «Liberty and the News» folgte 1922 «Public Opinion» («Die öffentliche Meinung») und dann drei Jahre später «The Phantom Public» («Die imaginäre Öffentlichkeit»). Diese Bücher wurden immer pessimistischer hinsichtlich der Fähigkeiten des einfachen Bürgers, eine Welt zu verstehen, die komplexer geworden war als je zuvor.

«Herstellung von Zustimmung» …

Lippmanns Antwort auf das Aufkommen der Moderne in der Massengesellschaft bestand darin, das neue Evangelium des Experten zu predigen. Er entwarf eine interessante Struktur, in der die Experten ihr Fachwissen einsetzen sollten. Sie hatten nichts mit den gewöhnlichen Menschen und nichts mit der offiziellen Politik zu tun. Mit vollkommenem Desinteresse beriet der Experte die politische Klasse über wissenschaftlich ermittelte Realitäten, und daraus ergab sich eine korrekte Politik, frei von jedem Sonderinteresse. Die Aufgabe der Presse in diesem Schema bestand darin, diese Erkenntnisse der Öffentlichkeit zu vermitteln. Journalisten waren Boten. In «Die öffentliche Meinung» definierte Lippmann diese Aufgabe als – wie es heute heisst – «die Herstellung von Zustimmung».
  Hier schreibt Lippmann über die «Privatperson» in «The Phantom Public»:

«Doch diese öffentlichen Angelegenheiten sind in keiner Weise ihre Angelegenheiten. Sie werden, wenn überhaupt, in weit entfernten Zentren, hinter den Kulissen, von ungenannten Mächten verwaltet … Sie lebt in einer Welt, die sie nicht sehen kann, die sie nicht versteht und die sie nicht lenken kann.»

Und, zwei Kapitel weiter, in derselben Ausgabe:

«Das eigentliche Regieren besteht aus einer Vielzahl von Absprachen zu bestimmten Fragen durch bestimmte Personen. Diese werden für die Privatperson nur selten sichtbar. In den langen Intervallen zwischen den Wahlen wird die Regierung von Politikern, Amtsinhabern und einflussreichen Männern ausgeübt, die sich mit anderen Politikern, Amtsinhabern und einflussreichen Männern einigen. Die Masse der Menschen sieht diese Abmachungen, beurteilt sie und beeinflusst sie nur ab und zu. Sie sind insgesamt zu zahlreich, zu kompliziert, zu undurchsichtig in ihren Auswirkungen, um Gegenstand einer kontinuierlichen öffentlichen Meinungsäusserung zu sein.»

Lippmann nannte diese strengen Urteile «demokratischen Realismus», obwohl sie mir weder demokratisch noch realistisch erscheinen. Der Platz der Presse in diesem Arrangement ergab sich aus Lippmanns Idealisierung der unsichtbaren Experten und derer, die sie berieten. «Die Schaffung von Zustimmung ist keine neue Kunst», schrieb er in «Public Opinion». «Es ist eine sehr alte Kunst, von der man annahm, dass sie mit dem Aufkommen der Demokratie ausgestorben sei. Aber sie ist nicht ausgestorben. Sie hat sich in der Tat enorm verbessert…»

… oder Darlegung aller verfügbaren Perspektiven?

John Dewey rezensierte die letzten beiden Bücher von Lippmanns Triptychon in The New Republic – einer Zeitschrift, die Lippmann ironischerweise mitbegründete – und veröffentlichte 1927 sein eigenes Buch zu diesen Themen, «The Public and Its Problems». Dies waren Antworten auf Lippmanns Arbeit. Dewey widersprach Lippmann nicht, was die Grenzen des Bürgers in einer Massengesellschaft anging, aber er sah in mehr Demokratie, und nicht in weniger, die Lösung. Die notwendige Elite muss öffentlich beraten werden, und zwar auf der Grundlage des Verständnisses der Öffentlichkeit für alle verfügbaren Perspektiven zu einer bestimmten Frage. Diese Perspektiven darzulegen, war die eigentliche Aufgabe der Presse. Daraus würde sich die demokratische Zustimmung oder Ablehnung ergeben, und es wäre keine Frage, dass die Presse diese herstellt:

«Es ist nicht notwendig, dass die vielen das Wissen und die Fähigkeiten haben, um die notwendigen Untersuchungen durchzuführen. Erforderlich ist nur, dass sie die Fähigkeit besitzen, die Bedeutung des von anderen gelieferten Wissens für die gemeinsamen Belange zu beurteilen.»

Wir bezeichnen diesen indirekten Austausch zwischen zwei prominenten Denkern der Epoche als «Lippmann-Dewey-Debatte», aber die beiden haben nie eine Debatte geführt. Das ist nur eine Sprachfigur.
  Es ist möglich, ihre Differenzen zu übertreiben, aber zwei dieser Differenzen sind wichtig, um das Versagen der Presse seit dem Kalten Krieg zu verstehen, vor allem ihre Rücksichtnahme auf die Macht in den Jahren nach 2001 und die Krise, die wir heute untersuchen.
  Lippmann förderte den Gedanken, dass die Öffentlichkeit passiv ist, der Empfänger der Entscheidungen anderer. Die Bürger waren Zuschauer – «Zuschauer des Geschehens». Dewey glaubte an das Versprechen der Mitbestimmung in der Demokratie, auch wenn er die Komplexität ihrer Umsetzung einräumte. Niemand war Zuschauer, denn Politik war kein Spektakel; das bürgerliche Selbst wurde bekräftigt, nicht ausgelöscht.

Am «Tisch der Grossen»
 oder in der Mitte der Bürger?

Aus dieser Unterscheidung ergibt sich eine zweite, die damit zu tun hat, wo Journalisten sich in einem demokratischen Gemeinwesen verorten. War es in den hohen Türmen oben, als geflügelte Tribunen, die Boten derer, über die sie berichteten, oder eingebettet in die Mitte der Bürger, als Agenten eines informierten, unendlich vielseitigen öffentlichen Austauschs? Die Frage läuft auf Distanz und Nähe hinaus.
  Dies ist die Kluft, eine sehr einseitige Kluft, die den amerikanischen Journalismus heute bestimmt. In unserer Zeit sind die Mainstream-Medien dicht mit engagierten Lippmann-Anhängern bevölkert. Ich kann mir keine herausragende Ausnahme unter den Mitarbeitern der grossen Zeitungen und Rundfunkanstalten vorstellen. Nur von den Medien, die gemeinhin als «alternativ» bezeichnet werden, kann man etwas anderes behaupten.
  Dies ist eine besonders gefährliche Position für Mainstream-Journalisten im Zusammenhang mit der Zeit nach 2001. Sie machen sich damit zum Komplizen der Geheimnisträger und haben die Aufgabe, in den Nachrichten, die sie an die Öffentlichkeit weitergeben, ständig etwas zu verschweigen. Ich glaube nicht, dass es ein Wunder ist, dass ein beachtlich hoher Anteil unserer «Privatpersonen» der Mainstream-Presse wegen dieser Lügen und verschwiegenen Geheimnisse misstraut.
  Es ist offensichtlich, dass die Presse meiner Meinung nach einen drastischen Fehler begangen hat, indem sie in diesem Punkt Lippmanns Denken dem von Dewey vorgezogen hat. Und ich halte die Korrektur dieses Fehlers für eine der Aufgaben, die Journalisten übernehmen müssen, wenn sie ihren Beruf und ihre eigene Integrität, wie ich diesen Begriff verwende, wiederherstellen wollen.
  Ich halte es für töricht zu glauben, dass der Mainstream-Journalismus und seine Vertreter diese Aufgaben übernehmen und eine Reihe grundlegender Reformen in Angriff nehmen werden, so dass der einzelne Journalist seine Integrität wiedererlangt, die Vorstellung aufgibt, ein Mitglied jener Elite zu sein, über die er berichtet, und in einem besseren Verhältnis zu seinem Publikum, den Lesern und Zuschauern, steht. Natürlich müssen wir diese Möglichkeit in Betracht ziehen, aber nur aus Prinzip – denn nichts ist unmöglich – und mit offenen Augen.

Unabhängige Medien als Chance
 für einen integren Journalismus

Wenn es irgendeine Aussicht gibt, dass die Konzernmedien ihre zahlreichen Korruptionen verwerfen, dann deshalb, weil die unabhängigen Medien sie dazu entweder inspiriert oder gezwungen haben. Um es anders auszudrücken: Meiner Meinung nach – und auf Grund meiner langjährigen Erfahrung – liegt die Dynamik des Berufsstandes in den unabhängigen Medien. In ihnen sehe ich die Chance für den einzelnen Journalisten, seine Ganzheitlichkeit wiederzuerlangen, über die Entfremdung, die ich vorhin beschrieben habe, hinauszukommen und zu einem Zustand der Integration und Integrität zu kommen.

Jerzy Grotowski

Lassen Sie mich nun ein wenig über Jerzy Grotowski und «Towards a Poor Theater» («Für ein armes Theater») sprechen, denn ein armer Journalismus ist meiner Meinung nach der Schlüssel zu dieser Krise, über die wir heute sprechen.
  Grotowskis Projekt begann mit einer radikalen Entschlackung. Für ihn war das moderne Theater verkrustet mit Konventionen, Künstlichkeit und «plastischen Elementen» – Kostüme, Make-up, kunstvolle Beleuchtung, aufwendige Bühnenbilder. Das moderne Theater war «reiches Theater» – reines Spektakel. Das Proszenium [vorderer Teil der Bühne] war sowohl für die Schauspieler als auch für das Publikum eine Begrenzung. Die Darsteller waren nicht nur dem Publikum entfremdet, sondern vor allem ihren eigenen Gedanken, Gefühlen und Körpern.
  Grotowski schrieb oft von «Lebensmasken», den verinnerlichten Konventionen, mit denen Schauspieler traditionell arbeiten. Für mich ging es ihm um den Unterschied zwischen dem präsentierten Selbst, dem darstellenden Selbst, dem unaufrichtigen Selbst und, im Gegensatz dazu, dem echten Selbst, «dem Gesicht, das wir der Welt nie zeigen, weil wir es mit der Persona, der Maske des Schauspielers, bedecken», und ich zitiere hier nicht Grotowski, sondern Jung.
  Das ist der Jungsche Schatten, wie ich diesen Begriff verwende. Von Grotowski:

«Wenn wir uns entkleiden und eine ausserordentlich intime Schicht berühren, bekommt die Lebensmaske Risse und fällt ab.»

Und:

«Diese Missachtung des Tabus ... sorgt für den Schock, der die Maske abreisst.»

Und:

«In diesem Kampf mit der eigenen Wahrheit, in diesem Bemühen, die Lebensmaske mit ihrer vollen Wahrnehmbarkeit abzulegen, habe ich immer einen Ort der Provokation gesehen.»

Die von der Konvention auferlegten Rollengrenzen zu überschreiten, die Distanz zu zerstören, zugunsten von Nähe und der vollkommensten Authentizität, die Menschen erreichen können: Das ist armes Theater.
  Das Konzept entstand aus der einfachsten aller Fragen. Grotowski fragte: Was ist Theater? Wenn alles Unwesentliche weggenommen wird, was bleibt dann übrig? Er antwortete, dass sich die Beziehung zwischen Darsteller und Publikum verändert, wenn die Ausstattung und das Gerümpel des Theaters entfernt werden: Sie kommen in die ursprünglichste Art von Kontakt, die möglich ist. Grotowski trainierte seine Schauspieler – und ein Grossteil dieses Trainings war psychologischer Natur –, um vor allem und so ehrlich wie möglich mit sich selbst in Kontakt zu treten; dann konnten sie sich am direktesten und effektivsten mit dem Publikum verbinden.

Der Journalist als Sehender und Sagender

Ich habe Grotowskis Frage vor langer Zeit entlehnt und abgewandelt. Journalismus ist im Grunde nichts anderes als Sehen und Sagen, mehr nicht. Wenn Sie alles Überflüssige und alle Seepocken der Konvention abkratzen, haben Sie Beobachtung, Berichterstattung und Schreiben oder Sprechen oder Filmen. Alle angehäuften Lasten – die Ehrerbietung gegenüber der offiziellen Autorität, die engen Grenzen, die «akzeptable» Quellen und Perspektiven definieren, die dichte Sprache der Bürokraten, vor allem der Anspruch auf Lippmannsche Professionalität und die Mitgliedschaft in politischen und administrativen Eliten – das alles kann abgestreift werden. Vieles davon, vielleicht sogar das meiste oder alles, ist auf die eine oder andere Weise auf die ungesunden Beziehungen zur Macht zurückzuführen, die ich skizziert habe. Zu der politischen, unternehmerischen und finanziellen Macht kommen noch die bürokratische Macht, die Macht der Redaktionshierarchien, die Macht der eingebetteten ethischen Korruption hinzu – alles in allem die Trägheit und Lethargie, die sich über den Berufsstand legen.
  Der Journalist als Sehender und Sagender verwirft all dies. Die Korrumpierung von Genauigkeit und Ehrlichkeit im Austausch für den Zutritt ist heute schlimmer, als man es sich noch vor ein paar Jahren hätte vorstellen können. Das Gleiche gilt für die Selbstzensur, die sich durch das ganze System zieht. Ein armer Journalismus macht es möglich, alle Angebote zurückzuziehen, die Integrität für den Zugang oder die Akzeptanz zu anderen als den eigenen Bedingungen auszuhandeln. Dies wäre an sich schon eine konsequente Wende: Es wäre ein weiterer Schritt für Journalisten, sich der Last der Selbstzensur zu entledigen, denn die unsichtbaren Mechanismen, die sie erzwingen, verlieren ihre Hebelwirkung.

Geld

Jetzt muss ich über Geld sprechen.
  Journalisten müssen im eigentlichen Sinne des Wortes arm werden, wenn der Berufsstand sich erholen soll. Ich schlage weder Mönchsgelübde noch Armut vor. Ich spreche nicht von Reportern und Redakteuren, die für ihre – im besten Fall – ehrenhafte Arbeit ein normales Gehalt erhalten. Ich beziehe mich auf die oberen Ränge, wo übertrieben bezahlte Journalisten zu sehr von den Eliten eingenommen sind, über die sie berichten sollen, sich aber statt dessen wünschen, zu ihnen zu gehören. Was auch immer sie gewesen sein mögen, als sie in ihrem Beruf aufgestiegen sind, zu viel Geld und Geltungsdrang haben sie ruiniert.
  Ich habe mich jahrzehntelang im Mainstream bewegt und kenne die Macht des Geldes, das grosszügige Gehalt. Aber inzwischen habe ich gelernt, dass ein bescheidenes Leben nützlich und sogar angenehm ist. Hier möchte ich Thoreau zitieren, der mehr als einmal sagte: «Je weniger ich will, desto freier bin ich.» Und dann H. L. Mencken, den prominenten Bilderstürmer, der etwa zur gleichen Zeit schrieb und redigierte, als Lippmann und Dewey ihre «Debatte» führten.
  «Ein guter Reporter verdiente früher so viel wie ein Barkeeper oder ein Polizeibeamter», schrieb Mencken. «Heute verdient er so viel wie ein Arzt oder ein Anwalt, und wahrscheinlich sogar noch viel mehr ... Er hat eine sichere Stellung in einer bestimmten Schicht.»
  Ich möchte damit andeuten, wie Mencken es tat, dass etwas verloren ging, als Journalisten vor etwa einem Jahrhundert begannen, sich zu professionalisieren – etwas, das verloren ging und das es wert ist, wiederhergestellt zu werden. Mit einem Wort: Journalisten müssen «unincorporated» (nicht einverleibt, nicht zum Unternehmen gehörend) werden und bleiben, wenn sie mehr sein sollen als die Angestellten der herrschenden Klasse, und das meine ich in jeder Hinsicht des Wortes. Entmündigt ist auch gut.

Sich selbst und seiner Ethik treu bleiben

Ich habe bereits I. F. Stone zitiert, der sagte, dass Journalisten eigentlich Aussenseiter sind. Der einzigartige Platz, den sie in der Gesellschaft einnehmen sollten, ohne ganz Teil von ihr zu sein, muss geachtet – sogar geehrt werden. Es erfordert eine Distanz zur Macht, die es ihnen ermöglicht, sich selbst und ihrer Ethik treu zu bleiben. Nicht das Geld dient diesem Zweck, sondern ein bescheidenes Leben – ein Leben, das komfortabel genug ist, um die Miete zu bezahlen, eine Familie zu gründen und bescheiden zu leben.
  Ich frage mich: Sind wir so grossartig geworden, dass dies eine seltsame Vorstellung ist? Es ist die Voraussetzung für authentisches Desinteresse und Immunität gegen Einschüchterung. Die gegnerische Position gegenüber der Macht und eine Wiederverbindung mit den Lesern und Zuschauern erfordern dies – eine Art von Desinvestition. Lassen Sie allen Ambitionen und Phantasien freien Lauf, aber die Arbeit ist der Lohn, und nicht die Plätze an der hohen Tafel.
  Abschliessend möchte ich fragen: «Kann dieser Wandel der Identität und des Platzes des Journalisten innerhalb der Grenzen unserer mächtigsten Medieninstitutionen verwirklicht werden?»

Grosses Potential unabhängiger Medien

Meine tiefgreifenden Zweifel sollten inzwischen deutlich geworden sein. Die derzeitige Eigentümerstruktur der amerikanischen Medien scheint dies unmöglich zu machen, aber lassen Sie es uns als offene Frage ansehen, auch wenn es theoretisch so ist, wie die Dinge jetzt stehen. Ich sehe in unabhängigen Publikationen wie denen, die mich diese Woche hierhergebracht haben, weitaus mehr Potential. Die Ressourcen sind nicht so, wie man es sich wünschen würde. In vielen Fällen treffen wir auf Menschen, die nicht richtig ausgebildet wurden.
  Zum jetzigen Zeitpunkt sind viele dieser Publikationen anfällig für die Zensur, die digitale Plattformen ausüben. All dies wird sich weiterentwickeln. Wir stehen noch am Anfang in einer neuen Ära. Wir müssen langfristig denken. Die Ressourcen werden auf die eine oder andere Weise kommen, da immer mehr Leser von den Mainstream-Publikationen abwandern und auf der Suche nach Veröffentlichungen sind, die von einer Verpflichtung zur Integrität herrühren. Das Qualifikationsniveau wird sich verbessern. Die Zensurwelle, so furchtbar sie auch ist, wird vielleicht abebben oder auf andere Weise überwunden werden können. Ich blicke also hoffnungsvoll in die Zukunft – nicht töricht, würde ich sagen, sondern mit einem angeborenen Optimismus, den ich, so sehr ich es auch über die Jahre versucht habe, nicht ablegen kann.  •

(Übersetzung Zeit-Fragen)



1  «Mauvaise foi» ist ein philosophischer Begriff des französischen Philosophen Jean-Paul Sartre, der das Phänomen beschreibt, dass der Mensch durch Konformitätsdruck falsche Wertvorstellungen übernimmt und seine absolute Freiheit aufgibt, damit er sich die Frage, wer er ist, nicht mehr zu stellen braucht. Der französische Ausdruck «mauvaise foi» (wörtlich «schlechter Glaube») kann mit Untreue, Treulosigkeit, Unredlichkeit, sogar Arglist oder Heimtücke übersetzt werden. Gemäss Kathi Beier meinte Sartre mit seinem Begriff exakt das, was heute in der Regel als Selbsttäuschung bezeichnet wird. [Anm. Red. nach Wikipedia]

Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein letztes Buch ist «Time No Longer: Americans After the American Century», Yale, 2013. In Kürze erscheint sein neues Buch «The Journalists and Their Shadows» bei Clarity Press. Auf Twitter fand man ihn bei @thefloutist, bis er ohne Begründung zensiert wurde. Seine Webseite lautet patricklawrence.us. Unterstützen Sie seine Arbeit über patreon.com/thefloutist.
Der Text gibt einen Vortrag wieder, den Patrick Lawrence am 14. April 2023 in der Schweiz vor einem Leserkreis von Zeit-Fragen gehalten hat.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK