von Dr. iur. Marianne Wüthrich
«Im Jahr 2022 kamen 350000 Menschen aus dem Ausland in die Schweiz. Viele lockte die Arbeit an, andere mussten flüchten, einige begannen eine Ausbildung.» So ist in NZZ Folio vom Juli 2023 zu lesen. 350 000! In unseren Kleinstaat mit rund 25% nicht nutzbarem Boden in den Alpen und wenig freien Flächen, die fortlaufend zugepflastert werden – für Wohnraum, Schulen, Strassen und weitere notwendige Infrastruktur, ganz zu schweigen vom wachsenden Energiebedarf für 8,812 Millionen Einwohner (Ende 2022). Am 31. März 2023 umfasste die «ständige Wohnbevölkerung» der Schweiz» übrigens bereits 8 865 270 Personen, so das Bundesamt für Statistik (BfS). Das heisst, innert drei Monaten war sie bereits wieder um mehr als 50 000 gewachsen.
Am 21. Juni hat der Bundesrat bekanntgegeben, dass er «die Eckwerte für ein Verhandlungsmandat mit der Europäischen Union (EU) verabschiedet» habe, diese seien vorläufig «vertraulich». Bis Ende 2023 wolle er ein Verhandlungsmandat verabschieden. Wenn wir diese Absicht des Bundesrates mit den genannten Zuwanderungszahlen zusammendenken, müssen wir dabeihaben, dass auf der Seite der EU-Gremien die Personenfreizügigkeit das prioritäre Abkommen mit der Schweiz ist. An der Übernahme von deren Weiterentwicklung (in erster Linie der Unionsbürgerrichtlinie) macht Brüssel schon seit Jahren keine Abstriche, mag auch der Bundesrat noch so geschäftig alle möglichen Bereiche aufzählen, die er gern mit der EU verhandeln würde.1
Einige Fakten zur Einwanderung
EU-Recht vor Schweizer Recht?
Beispiel Unionsbürgerrichtlinie (UBRL)
Die Unionsbürgerrichtlinie ist ein plastisches Beispiel dafür, wie das EU-Recht in vielen Bereichen das Schweizer Recht an den Rand drängen würde, falls der Bundesrat sich wieder auf Verhandlungen mit Brüssel einliesse. Sie dehnt das Recht von Bürgern der EU-Mitgliedsstaaten und ihrer Familienangehörigen auf Aufenthalt und Sozialhilfe weit über die Regeln im Personenfreizügigkeitsabkommen Schweiz-EU aus: dauerhaftes Bleiberecht nach fünf Jahren Aufenthalt für den Unionsbürger und seine Familienangehörigen (Art. 16), Aufenthaltsrecht für Sozialhilfeempfänger, «solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedsstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen» (Art. 14), Ausweisung «nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit» (Art. 28).2
Kommen wir zurück zu den Zuwanderungs-Zahlen für das Jahr 2022. 84 927 Personen, fast alle aus dem EU-Raum, kamen in die Schweiz, um hier zu arbeiten, 43 026 weitere wanderten als Familienangehörige von Erwerbstätigen ein (Familiennachzug), macht zusammen rund 128 000, Tendenz steigend. 26% der Schweizer Bevölkerung sind heute Ausländer. Mit der Übernahme der UBRL würden diese Zahlen mit Sicherheit weiter wachsen. Die Schweiz ist ein Land mit sehr hohen Standards in den Bereichen Sozialhilfe und Sozialversicherungen sowie tiefen Arbeitslosenzahlen. Es ist verständlich, dass es viele Erwerbstätige und ihre Familien hierher zieht. Es ist aber auch verständlich, dass wir Schweizer unsere Zuwanderung auf ein vernünftiges Mass beschränken wollen. Dies war das Ziel der Masseneinwanderungsinitiative von 2014, die zwar vom Volk angenommen wurde und in der Bundesverfassung steht, aber gemäss dem Kommando aus Brüssel von Bundesrat und Parlament nie umgesetzt wurde.
Bei der Frage, ob die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie übernehmen soll, geht es aber nicht nur um die Zuwanderungszahlen, es geht auch um den Zwang zur Übernahme von EU-Recht. Ob der Sozialhilfe-Bezug eines hier lebenden EU-Bürgers angemessen oder unangemessen ist oder ob ein verurteilter Straftäter ausgewiesen werden soll oder nicht, würde nicht mehr nach Schweizer Recht von Schweizer Gerichten entschieden, sondern vom Europäischen Gerichtshof. Die vom Souverän beschlossene Bestimmung in der Schweizer Bundesverfassung zur Ausweisung verurteilter Straftäter (Artikel 121 Absatz 3) wäre nicht mehr massgebend.
Der Bundesrat darf vor lauter Eifer, neue Verhandlungen mit Brüssel aufzunehmen, nicht vergessen: Die Schweizer Stimmbürger werden sich die Regelungen der Unionsbürgerrichtlinie und von anderem EU-Recht nicht vom Zweigespann EU-Kommission und EuGH über unsere Rechtsordnung stülpen lassen. Wir entscheiden selbst über unser Recht.
Neue Verhandlungen mit der EU?
Ein Blick zwei Jahre zurück
Bevor der Bundesrat sich zu weit hinauslehnt Richtung Brüssel, wäre es sinnvoll, sich daran zu erinnern, warum er im Mai 2021 die Verhandlungen mit der EU abgebrochen hat. Nicht, dass er denselben Fehler noch einmal macht, den er vor zwei Jahren aus guten Gründen ausgewetzt hat. Die Unionsbürgerrichtlinie kann als Mahnmal dienen. Als Bundesrat Ignazio Cassis 2017 die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen von seinem Vorgänger im Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA übernahm, bezeichnete er die UBRL als «rote Linie», die für die Schweiz nicht in Frage komme. Bald wurde jedoch klar, dass die EU unter «dynamischer Rechtsübernahme» versteht, dass die Schweiz das gesamte EU-Recht betreffend die Marktzugangsabkommen fortlaufend übernehmen soll. Dies insbesondere in bezug auf die Personenfreizügigkeit. Auch wenn der Bundesrat versucht hat, unter anderem die Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie gemäss unserem Rechtsverständnis einzuschränken, konnte und kann das nicht gelingen. Denn die EU hat nach einem völlig anderen Ansatz, nämlich zwecks einer immer engeren politischen Union, «die Freizügigkeit mit der Verabschiedung der Unionsbürgerrichtlinie ausgeweitet und mit dem Konzept der Unionsbürgerschaft verknüpft», so der Bundesrat in seiner Medienmitteilung vom 26. Mai 2021. Dass die EU keine Bereitschaft zeigte, auf das ganz anders geartete Schweizer Staatsverständnis Rücksicht zu nehmen, auch bezüglich der flankierenden Massnahmen und der staatlichen Beihilfen, war der Grund für den Abbruch der Verhandlungen seitens des Bundesrates am 26. Mai 2021.3
Im Rückblick muss man dem Bundesrat zugestehen, dass er damals nicht nur die Übernahme von drei punktuellen EU-Regelungen zurückwies, sondern sich damit gleichzeitig gegen die faktisch automatische Übernahme von EU-Recht und dessen Auslegung durch den EU-Gerichtshof stellte.
Dies dem Bundesrat ins Notizbuch. Warum nicht dabeibleiben, dass neue Verhandlungen vergebene Liebesmühe sind? Warum nicht bei den bisherigen bilateralen Verträgen und dem Freihandelsabkommen von 1972 mit der EU bleiben, zum gegenseitigen Nutzen? Die geheimen «Eckwerte» für ein neues Verhandlungsmandat können nichts wirklich Neues beinhalten, und die ganze Betriebsamkeit, die in der Medienmitteilung vom 21. Juni zum Ausdruck kommt, wird höchstens neue Begehrlichkeiten Brüssels wecken. Bundesrat Ignazio Cassis hat es doch zur Genüge erlebt: Die «Ausnahmen und Prinzipien zur Wahrung der wesentlichen Interessen der Schweiz», die er mit Brüssel verhandeln möchte, stossen dort auf wenig Verständnis. Und die zahlreichen Gespräche, die seine Verhandlungsführerin Livia Leu in Brüssel geführt hat, haben nur bewirkt, dass sie ihr Mandat mangels Entgegenkommen der Gegenpartei niedergelegt hat. •
1 «Der Bundesrat verabschiedet die Eckwerte für ein Verhandlungsmandat mit der EU». Medienmitteilung vom 21.6.2023
2 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten
3 Beilage zur Medienmitteilung des Bundesrates vom 26.5.2021: Institutionelles Abkommen: Ergebnisse der Gespräche Schweiz-EU zu den Klärungspunkten Unionsbürgerrichtlinie (UBRL), Lohnschutz und staatliche Beihilfen
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