Was ein Griechischlehrer für seine Schüler tun kann

Ein Blick nach Frankreich

von Rita Müller-Hill

Zum Verständnis der Unruhen in Frankreich gibt es eine Vielzahl an Vermutungen und Erklärungsversuchen. Sie reichen vom völligen Versagen des Staates bis zum Drogenhandel im grossen Massstab. Seit 40 Jahren gibt es Probleme in den Vorstädten, alle Regierungen haben immer viel geredet, aber nichts getan.
  Ein Aspekt wird jedoch in fast allen Kommentaren erwähnt: die soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die sich in den letzten Jahrzehnten verschärft hat und sichtbar geworden ist an der Bewegung der Gelbwesten und der langen Protestbewegung gegen die Rentenreform. Unter den multiplen Gründen spielt die Schule jedoch eine zentrale Rolle. Ganz offensichtlich versagt sie als «ascenseur social» (Möglichkeit zum sozialen Aufstieg), da die vielen «Schulversager» ohne Perspektive manipulierbar und instrumentalisierbar sind für alle möglichen Drahtzieher, insbesondere die Drogendealer, die offenbar die «Gesetze» in den Vorstädten machen. Hinzu kommen die Hassprediger des Dschihad.

Was läuft schief in den Schulen?

Kurze Zeit nach den Attentaten vom Januar 2015 (Bataclan, Charlie Hebdo) veröffentlichten Lehrer eines Lycée1 aus Aubervilliers einen Text, der mit dem Satz endete: «Wir sind die Eltern dreier Mörder.»2
  Augustin d'Humières, seit 20 Jahren Latein- und Griechischlehrer an einem «Lycée» einer Vorstadt im Département Seine et Marne, berichtet in einem Interview mit dem «Figaro»3, dass ihn bei der Lektüre dieses Textes der Gedanke überkam, dass diese jungen radikalisierten Franzosen zehnmal mehr Zeit auf den republikanischen Schulbänken verbracht hatten als an irgend einem anderen Ort. Er habe sich gefragt, welches Handwerkszeug die Schule diesen jungen Franzosen mitgegeben habe, um sich gegen die Mächte zu wehren, die sie instrumentalisieren und zu kriminellen Zwecken benutzen. Verfügen sie über eine Sprache? Haben sie Texte kennengelernt, die ihnen Werte vermitteln konnten? Mussten sie sich in Auseinandersetzungen bewähren? Haben sie ein paar Daten im Kopf? Wie steht es um ihren Wortschatz? Damit so viele junge Franzosen empfänglich werden für diese gewalttätigen, hoffnungslosen, primitiven Reden, müssen sie vorher schon völlig wehrlos gewesen sein. Welche Fixpunkte haben die Schüler, wenn sie die Schule verlassen?
  Für d’Humières ist der Boden des Fundamentalismus zunächst die Ignoranz von Tausenden von Schülern, die nichts in der Hand haben, um sich der Manipulateure zu erwehren. Dieses Versäumnis geht seiner Meinung nach zu Lasten der Schulen. Durch die Curricula, die Verordnungen und Anweisungen, Stundenpläne, durch die Art und Weise der Rekrutierung der Lehrer, durch die Reduzierung der Stunden für die Grundlagenfächer und die Multiplizierung neuer Fächer, durch das Ausmass an Zeit und Bedeutung, das man irgendwelchen Projekten einräumt, und dem völlig willkürlichen, dem Zufall überlassenen Experimentieren. Da hat sich ein System entwickelt, das darauf abzielt, nichts Präzises zu unterrichten, das den Hass und die Wut nur noch schlimmer macht durch den Abstand zwischen dem, was es vorgibt zu sein, und dem, was es tatsächlich ist. «Denn diese Schule war gedacht, strukturiert, organisiert worden, damit der Schüler so wenig wie möglich lernt.»4
  Das Unterrichten kommt d'Humières vor wie ein Kampfsport, der sich nicht gegen die Schüler richtet, die seiner Meinung und Erfahrung nach einen ungebrochenen Lernhunger haben, sondern gegen die Anordnungen des Ministeriums, die pädagogischen Experimente, die unlogischen Entscheidungen des jeweiligen Ministers, wie z.B. das Quasi-Verbot, einen Schüler eine Klasse wiederholen zu lassen, weil so die Kosten pro Schüler reduziert werden.5 Auch der Vorschlag, die Hausaufgaben zu verbieten, da sie angeblich ein Grund für die ungleichen Chancen seien, ist kontraproduktiv. Wenn die Eltern diese Begleitung nicht leisten können, und das ist ein nicht geringer Teil der sozialen Ungleichheit, so muss man da Abhilfe schaffen.
  Dafür wurde auf Anregung Augustin d’Humières die Hausaufgabenbetreuung nach der Schule, die von 300 Schülern, (Grundschüler, Collégiens und Gymnasiasten) besucht wird, organisiert.
  D’Humières selbst unterrichtet weiter Homer und Villon, Seneca und Proust – «Texte, die unser Schatz, unser ‹Erdöl› sind». Seine beiden Bücher sind beeindruckend in ihrer Unerschrockenheit und ihrem Mut. Sie weisen einen gangbaren, realistischen Weg mit Aussicht auf Erfolg. Es sind Bücher aus der Praxis eines Lehrers, dem die Schüler am Herzen liegen, der die Bedeutung seines Faches versteht und der mit gesundem Menschverstand die Schulpolitik beurteilt. In seinem ersten Buch «Homère et Shakespeare en banlieue» (zu Deutsch: «Homer und Shakespeare in der Vorstadt») beschreibt Augustin d’Humières seine Erfahrungen als Lehrer der «lettres classiques» (umfassen Griechisch, Latein und Französisch).6 2017 beschäftigt er sich in «Un petit fonctionnaire» («Ein kleiner Beamter») mit der Verantwortung des Lehrers, der Befindlichkeit des Kollegiums, der Situation des Lehrers, der «aus der Reihe tanzt».
  In «Homère et Shakespeare en banlieue» beschreibt Augustin d’Humières, wie er «contre vents et marées» (Sturmfluten) den Griechischunterricht in einem Lycée in einer sogenannten «banlieue» im Département Seine et Marne wiederbelebt. Die heftigsten Stürme und Fluten, denen der Autor ausgesetzt ist, kommen weniger von den Schülern als von der Schulbürokratie, dem Direktor, den Lehrergewerkschaften, den Kollegen. Auf seiner Seite hat er die Eltern und, wenn sie sich dann fürs Griechisch entschieden haben, die Schüler. D’Humières geht von der Überzeugung aus, dass die Schüler lernen wollen, wenn man sie lässt, wenn man ihnen den Rahmen dazu gibt.
  Die Schwierigkeiten, denen er begegnet: Sein Griechischunterricht liegt grundsätzlich nur freitags in der letzten Stunde, Kollegen verlassen das Lehrerzimmer, wenn er kommt, der Direktor verbietet ihm, bei den Einschreibungen Werbung für Griechisch in seiner Schule zu machen.
  Allgemein pädagogisch herrscht ein Laisser-faire. Die Schüler sind grundsätzlich unpünktlich. Die Zahl der Fehlstunden ist gigantisch.
  Die Eltern, die möchten, dass ihre Kinder etwas lernen, und die die Zusammenhänge zwischen Schule und gesellschaftlichem Erfolg verstehen, versuchen so bald wie möglich eine andere Schule zu finden. Die Lehrer wechseln dauernd. In die schwierigsten Klassen werden die gerade von der Akademie kommenden Junglehrer gesteckt.
  Als Augustin d’Humières beginnt, für seinen Griechischunterricht zu werben, wird ihm immer wieder die Frage nach der «Nützlichkeit» gestellt. Warum sollten Schüler, die schon in der Grundschule nicht richtig schreiben und lesen gelernt haben, jetzt auch noch Griechisch lernen? Sie werden, wenn sie Glück haben, in einem Supermarkt an der Kasse sitzen oder irgendwo im Verkauf zu finden sein, was soll da Griechisch?
  Zwei der bedeutendsten französichen Graecisten hat er auf seiner Seite. Sie setzen sich immer wieder öffentlich für den Unterricht der alten Sprachen und dessen, was diese Sprachen an Kultur und Philosophie transportieren, ein: Jacqueline de Romilly und Jean-Pierre Vernant, beide aus entgegengesetzten politischen Richtungen kommend. D’Humières ist von seinem Anliegen überzeugt. Er weiss, was er den Schülern durch den Unterricht in den alten Sprachen vermitteln kann. Dem Argument, «die Schüler verlassen die Schule, ohne richtig Französisch zu können», hält er entgegen: Die alten Sprachen erinnern uns an die Geschichte der Wörter, an die Hintergründe ihrer Orthographie, daran, wie sich im Laufe der Zeit ihr Sinn verändert. Dem Einwand, «die Schüler haben Probleme mit den Fremdsprachen», entgegnet er: Die alten Sprachen erinnern uns an die gemeinsame Etymologie der verschiedenen modernen Sprachen. Und: «Die alten Sprachen erlauben es, uns wichtigen Themen mit Abstand und in Ruhe zu nähern, wie die Religion und das Dasein als Bürger.» Sie sind der Ort, wo alles begann: die Geburt der Philosophie und der Tragödie. Die antiken Texte regen uns an, über das Leben, den Tod, das Glück, die Zeit, die Macht, die Demokratie, die Republik, die Religionen nachzudenken.
  Und: Im Griechischunterricht fängt jeder Schüler am gleichen Punkt an.
  Das ist ganz wichtig für die Schüler, die sprachlich sonst immer im Hintertreffen sind. Hier sind alle auf dem gleichen Stand: Sie fangen bei Null an.
  Das Urteil Augustin d’Humières’ über die Schule ist vernichtend. Er sieht, dass sie nicht mehr ihre fundamentalsten Aufgaben erfüllt: Bürger heranbilden, Wissen vermitteln, die Schüler auf das Berufsleben vorbereiten. Die Schüler verlassen die Schule völlig wehrlos, mit einer ungefähren Beherrschung des Französischen, einem Fremdsprachen-Gebrabbel, einer quasi nicht existenten Bildung in Geschichte, Naturwissenschaft, Literatur und Philosphie.
  Wie nun mit den Curricula umgehen, wenn die Voraussetzungen für ihre Umsetzung nicht gegeben sind? Man lege sie beiseite. Und stelle zunächst einmal fest, wo die Schüler stehen, wo haben sie ihre oft schon von der Grundschule her mitgebrachten Lücken?
  Der riesige Abstand zwischen den wenigen guten Schulen, auch Grundschulen, und all den anderen wird hier deutlich. Beispielhaft für die Ungleichheit der Schulen und die Achtung, die dem Schüler als Lernendem entgegengebracht wird, schildert der Autor Folgendes.7 Augustin d’Humières, der selbst auf dem Pariser Renommiergymnasium Henri IV. seine Schulzeit verbracht hat, stellt sich vor, wie folgender Vorfall dort behandelt worden wäre. Ein Schüler teilt ihm auf dem Flur mit, dass die Klasse nicht in den Griechischunterricht kommen kann, weil sie mit dem CPE8 einen Ausflug macht. Die Schüler dürfen dabei sein, wenn eine Kochsendung gefilmt wird. Was würde am Henri IV. oder Louis Le Grand9 geschehen? Dem CPE, der zwei Monate vor dem Abitur auf diese Idee käme, würde sofort gekündigt.10 Im Vorstadtgymnasium wird der CPE von seinem Chef beglückwünscht: «Wir haben Projekte, es wimmelt von Ideen, da bewegt sich was, wir sind offen für die Welt … Dieses wimmelnde Gymnasium wird zu dem, das die wenigsten Unterrichtsstunden anbietet und nach aussen glänzt. Es gibt Gymnasien, wo der Produzent der Kochsendung ausgebildet wird, solche, wo der Koch ausgebildet wird und letztlich die, wo man das Publikum der Sendung ausbildet. Und das sind wir. Das nennt sich dann die soziale Differenzierung des Unterrichts. Ist das nicht genial?»11

«Denn diese Schule war gedacht,
 strukturiert, organisiert worden,
damit der Schüler so wenig wie möglich lernt»
12

Hier könnte die Besprechung der Bücher enden, wenn da nicht doch noch Mêtis13, die kluge List wäre.
  Augustin d’Humières schafft es, an seiner Schule wieder Griechisch und Latein zu gern gewählten Fächern14 zu machen. Es ist eine Freude, die im Buch wiedergegebenen Dialoge mit den Schülern zu lesen.
  Er gewinnt ehemalige Schüler, die mit ihm in die Collèges gehen und Werbung für den Unterricht in Griechisch und Latein machen. (In seiner eigenen Schule darf er sich bei den Einschreibungen nicht blicken lassen.) Also macht er Rundreisen mit seiner Truppe im Einzugsgebiet des Lycée.
  Er gründet den Verein «Mêtis», Schüler und Pensionäre helfen Schülern. Hausaufgabenbetreuung, Theateraufführungen, Ausflüge, Reisen stehen auf dem Programm.15
  Mit Hilfe ehemaliger Freunde aus dem Theaterbereich in Paris gelingt es, den «Sommernachtstraum» aufzuführen. Die Proben sind ein «calvaire» (Kreuzweg). Aber eine Woche vor der Premiere stehen alle Schüler da. Keiner fehlt, alle sind pünktlich, sie können ihre Texte, sie reflektieren ihre Rollen, sie sind glücklich.
  Diese Schüler können ausdrücken, was dieser Unterricht, was Griechisch für sie bedeutet. Sie haben Erfolg in Studium und Beruf.
  Kinder der Vorstädte, die keine andere Perspektive hatten als am Fusse ihrer Wohntürme rumzulungern, Hilfsjobs anzunehmen, sich als Botenjunge für die Dealer missbrauchen zu lassen und dem Dschihad in die Arme zu laufen.

Schülerstimmen

Sikem Hamdaoui: Nach drei Jahren Griechisch war ich nicht enttäuscht. Es hat mir geholfen, meine Gedanken zu öffnen, mich zu bilden, in die Geschichte zu reisen, wie auch in die anderen Unterrichtsfächer und die vielen Reisen zu machen, die organisiert wurden. Diese drei Jahre waren erinnerungswürdig. Man lernt unendlich viel in nur zwei Unterrichtsstunden pro Woche.
Morad Saouti: Am Anfang erschien mir das nicht besonders attraktiv; ich hatte dem Griechischen gegenüber Vorurteile. Aber dann habe ich gemerkt, dass der Unterricht sehr bereichernd war, insbesondere in bezug auf die Kultur. Das Studium der Philosophen wie Platon oder Sokrates bringt Kenntnisse mit sich, die auch für andere Fächer nützlich sind.
Sajo Drame: Ich bin im ersten Jahr meines Medizinstudiums. Es gibt keine einzige Stunde, in der nicht griechische Wörter vorkommen. Ganz eindeutig wird es für den viel einfacher, der Griechisch gelernt hat, wenn man Schlüsselbegriffe behalten muss.  •



1 Lycée entspricht der Oberstufe des deutschen Gymnasiums mit vielen verschiedenen Optionen.
2 Le Monde, 13.1.2015
3 Le Figaro, 7.4.2017
4 Augustin d’Humières, Un petit fonctionnaire, Ed. Grasset 2017, S. 24
5 Un petit fonctionnaire, S. 81
6 Editions Grasset 2009
7 Un petit fonctionnaire, S. 104
8 Conseiller Principal d’éducation: der CPE ist für den praktischen Ablauf des Schullebens verantwortlich, hält den Kontakt zu Schülern und Lehrern.
9 Pariser Eliteschule
10 Un petit fonctionnaire, S. 104
11 s.o. S. 105
12 s.o. S. 24
13 Mêtis ist die erste Gattin des Göttervaters Zeus. Da sie ihm wegen ihrer listigen Klugheit und Weitsichtigkeit eine Konkurrenz darstellte, wollte er sie nicht einfach beseitigen, sondern sich diese verinnerlichen. So verspeiste er sie.
14 2015 versucht die Unterrichtsministerin Najat Vallaud-Belkacem den alten Sprachen mit ihrer Reform des Collège den Todesstoss zu versetzen. Die Latein- bzw Griechischstunden werden auf eine bzw. zwei Wochenstunden beschränkt.
15 Internetadresse von Mêtis: www.operationmetis.com. Hier kann man das Programm und die Schülerkommentare einsehen.

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