Der Platz der Schweiz in einer Welt des Umbruchs

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Die Welt ist im Umbruch. Es ist beeindruckend, wie die Menschen ausserhalb des westlichen Blocks aufstehen und ihren (faktisch immer noch) Kolonialmächten zurufen: Jetzt ist Schluss mit völkerrechtswidrigen Interventionen und menschenrechtswidriger Ausbeutung! Von nun an bestimmen wir selbst über unser Land, unsere Politik und unsere Bodenschätze.
  Wie Zeit-Fragen berichtet hat, liessen sich die lateinamerikanischen und karibischen Staaten an ihrem Gipfel mit der EU keine in Brüssel vorformulierte Schlusserklärung aufdrücken, auch nicht mit den üblichen finanziellen Erpressungsversuchen. Hingegen war der Russland-Afrika-Gipfel ein voller Erfolg, weil Präsident Putin seinen Gästen von gleich zu gleich begegnete, so wie es eigentlich in allen Beziehungen zwischen den Ländern und Kulturen sein sollte. Inzwischen sind auch andernorts hoffnungsvolle Zeichen für eine neue Weltordnung zu erkennen.
  Von gleich zu gleich mit allen Völkern, das ist auch die Tradition der Schweiz. In den letzten Jahrzehnten sind viele unserer Politiker und Diplomaten leider von diesem der menschlichen Natur entsprechenden und deshalb erfolgreichen Weg abgewichen. Sie haben sich einspannen lassen für die Interessen von Grossmächten. Es wird Zeit, dass wir uns auf den Schweizer Weg besinnen und die aktuellen Bestrebungen für eine gerechtere Welt auf dem Boden der Gleichberechtigung aller Völker, wie sie die Uno-Charta vorsieht, unterstützen.

Neue Entwicklungen im Weltgeschehen

Niger hat als weiterer afrikanischer Staat (nach Mali und Burkina Faso) den Befreiungsschlag gewagt. Er will nicht mehr «eines der ärmsten Länder der Welt» sein, sondern seinen grossen Reichtum (Uran) zu Weltmarktpreisen verkaufen statt wie bisher zu Schleuderpreisen an französische AKW. Erfreulicherweise scheint keiner der 14 übrigen Mitgliedsstaaten der «Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS)» bereit zu sein, einen Krieg für die Interessen Frankreichs gegen die neue Regierung zu führen, sondern sie wählen den Weg des Dialogs und der Diplomatie. Damit weisen sie die westlichen Mächte mit dem Zeigefinger auf die Rechtslage hin: Es handelt sich im Niger um einen internen Konflikt, das bedeutet, ohne Entscheid des Uno-Sicherheitsrates hat gemäss Uno-Charta kein anderer Staat das Recht, militärisch zu intervenieren. Haben wir uns schon derart an das mittelalterliche Faustrecht der Nato gewöhnt, dass andere Völker uns daran erinnern müssen, was Recht ist?
  Vom 22.–24. August wird der BRICS-Gipfel stattfinden. Der Verbund aus den fünf riesigen Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika lädt nach Johannesburg ein, 34 Länder haben bisher zugesagt. Die Versuche des Hegemons, das Bündnis zu spalten, sind nicht nur gründlich misslungen, sondern es findet eine eigentliche Gegenbewegung statt. Eine eindrückliche Menge von Staaten wollen sich der BRICS anschliessen, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu intensivieren und ihre Abhängigkeit vom US-Dollar zu verringern. Elf Länder haben bereits einen formellen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, weitere 24 Länder einen informellen. Der in Moskau lebende Schweizer Peter Hänseler und sein Kollege Denis Dobrin haben Zahlen und Fakten zusammengestellt. Hier nur ein kleiner Ausschnitt: Die Einwohner der fünf BRICS-Staaten machen 41 % der Weltbevölkerung aus, mit den elf formellen Beitrittskandidaten zusammen 52 %, zählt man die informellen Interessenten dazu: 67 %. Die übrigen Länder der Welt werden in den Diagrammen als «Rest» bezeichnet.1

Was wir Schweizer daraus lernen können

Für uns Schweizer ist es eine Freude mitzuerleben, wie sich immer mehr Staaten zusammentun, um sich von ihren langjährigen Abhängigkeiten von den USA und verschiedenen westeuropäischen Staaten zu befreien. Der Schweiz, ihren heutigen Politikern und Diplomaten würde es gut anstehen, sich ebenfalls mehr Selbstbewusstsein zuzulegen und ihren Platz als neutrales und mit allen Völkern verbundenes Land wieder einzunehmen.
  Es wird Zeit, dass unsere Politiker und Mainstream-Medien aufhören, wie hypnotisierte Chüngeli auf Washington und Brüssel zu starren. Wer geglaubt hat, mit der automatischen Übernahme der US-EU-Sanktionen gegen Russland – unter Verletzung unserer Neutralität und unseres Rechtsstaates – könne der Bundesrat den Druck auf unser Land verringern, hat sich gründlich geirrt. Autoritäre Grossmächte werden nicht milder gestimmt, wenn man sich ihnen unterzieht, sondern sie nutzen die gezeigte Schwäche unbarmherzig aus und fordern immer mehr. Wenn es nach dem Willen des Hegemons jenseits des Atlantiks ginge, müsste die Schweiz sämtliche russischen Vermögen im Land beschlagnahmen, allein auf Grund der Staatsangehörigkeit der Eigentümer – das ist reiner Rassismus! Die blockierten Gelder müsste die Schweiz dann rechtswidrig enteignen und in das von Korruption und Kriminalität zerfressene Fass ohne Boden in Kiew versenken.
  Gegen derlei verfassungswidrige Ansinnen hat sich der Bundesrat bisher immerhin als resistent erwiesen. Es ist zu hoffen, dass er dabei bleibt. Denn mit seinem Einknicken bei der Übernahme einseitiger Sanktionen hat er der Schweizer Neutralität, die unsere Vorfahren über Jahrhunderte sorgfältig aufgebaut hatten, schweren Schaden zugefügt. Dasselbe gilt für das unwürdige Herumeiern des Parlaments um das gesetzliche Wiederausfuhrverbot von Schweizer Waffen durch Drittstaaten an eine Kriegspartei.

Neueste absurde Attacke aus den USA
gegen den Schweizer Rechtsstaat

Ein Kongressausschuss in Washington beantragte kürzlich beim US-Aussen- und Finanzdepartement, «drei Vertreter des angeblich korrupten Schweizer Justizsystems auf die Sanktionsliste der USA zu setzen, unter ihnen den früheren Bundesanwalt Michael Lauber». Auslöser ist der US-Amerikaner Bill Browder, der in der Ära Jelzin aus Russland Milliarden herausgeholt hat. Er investierte 1996 25 Millionen Dollar, einige Jahre später war seine Investmentfirma «Hermitage Capital» 4,5 Milliarden Dollar wert! 2007 wurde sie durch den russischen Staat liquidiert. Schon klar, dass ein solcher «Investor» nicht gut auf Wladimir Putin zu sprechen ist, der den Abfluss russischen Staatsvermögens an westliche Profiteure damals stoppte. Seit 2011 versucht nun Browder, Zugriff auf angeblich gewaschene Gelder auf Schweizer Bankkonten zu erhalten. 2021 stellte die Bundesanwaltschaft jedoch den Fall ein und kündigte an, die strittigen 18 Millionen Franken an die Kontoinhaber zurückzugeben. Jetzt liegt der Fall zur endgültigen Beurteilung beim Schweizer Bundesgericht in Lausanne. Und was tut Browder? Weil sich die Schweizer Justiz nicht von ihm korrumpieren lässt, verleumdet er doch tatsächlich den Schweizer Rechtsstaat vor der «Helsinki-Kommission», einem Ausschuss in Washington: «Die Schweiz sei ein Land, ‹wo das Rechtssystem nicht funktioniert, wo die Strafjustiz nicht funktioniert›. Und wenn ein Justizsystem nicht funktioniere, fuhr er fort, ‹müssen wir es reparieren›. Mit ‹wir› meinte er die USA.»2 Das geht selbst dem NZZ-Redaktor und Transatlantiker Georg Häsler zu weit. Mit seiner Frage, was geschehe, wenn auch das Bundesgericht Browders Klage ablehne, treibt er die Absurdität auf die Spitze: «Droht dann den beteiligten Bundesrichtern, als Teil eines angeblich dysfunktionalen Justizsystems, ebenfalls ein Antrag, auf die US-Sanktionsliste gesetzt zu werden?»
  So weit kommt’s noch! Die würden gescheiter ihr eigenes Justizsystem unter die Lupe nehmen, zum Beispiel den Fall Julian Assange, der auf Befehl der USA in Grossbritannien seit Jahren gefoltert und mit der Auslieferung bedroht wird, nur weil er einige unbequeme Wahrheiten über Kriegsverbrechen der USA veröffentlicht hat.

Schweizer Beitrag
 im Dienst des Weltfriedens

Heute hat die Schweiz ihre Glaubwürdigkeit als neutraler Staat vielerorts verspielt, und ihre Guten Dienste sind kaum mehr gefragt. Dies ist eine direkte Folge der mangelnden Verwurzelung eines Teils unserer Politiker im Schweizer Staatsmodell mit der Neutralität als Kern. Dabei könnte gerade in einer Welt im Umbruch der Schweizer Beitrag besonders hilfreich sein. Dass die Schweizer Geschichte an unseren Schulen weitgehend aus den Lehrplänen gestrichen wurde und an den Universitäten nicht mehr gelehrt wird, ist ein grosses Unglück und eine Unterschätzung der Bedeutung des Geschichtsbewusstseins der Menschen für ihre persönliche Entwicklung, für die Zukunft ihres Landes und für den Blick über den eigenen Gartenhag hinaus. Die Bildung der Jugend muss wieder ins Zentrum gerückt werden: Die Erhaltung der Grundlagen unseres Staatswesens basiert auf der direktdemokratischen Beteiligung der Schweizerinnen und Schweizer und ihrem Interesse an den Geschicken ihrer Gemeinden, Kantone und des Bundes. Dies ist nur mit einer soliden staatsbürgerlichen Bildung in der Schule und aktiven Vorbildern im Elternhaus möglich. Auch die Integration des grossen ausländischen Anteils der Bevölkerung (rund ein Viertel) und der Neueingebürgerten basiert unter anderem auf einem guten Verständnis des Schweizer Staatsmodells. Die geplante Strategie 2023 zum Umbau der Schweizer Armee zu einer faktischen Nato-Einheit ist zwar auch die Folge von Druck und Schmeicheleien aus dem Ausland. Aber ohne das mangelnde Geschichtsbewusstsein gerade auch vieler junger Schweizer wäre die unverblümte Absage an die Schweizer Neutralität als Grundlage unserer Armee nicht möglich.3
  Uns selbst zur Mahnung ein Wort des grossen Schweizer Historikers Wolfgang von Wartburg: «Die Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der Neutralität ist ihre absolute Zuverlässigkeit und die ständige Bemühung um Unparteilichkeit. Auf diesem Gebiet hat die Schweiz eine einzigartige Erfahrung, die sie in den Dienst des Weltfriedens stellen kann.»4  •



1 Hänseler, Peter; Dobrin, Denis. «BRICS – Serie – Teil 1. BRICS & Co. werden die Welt verändern.» https://voicefromrussia.ch/
2 Gyr, Marcel und Häsler, Georg. «Nach dem Pressing aus Washington steht das Bundesgericht im Fall Magnitski unter hohem Druck». In: Neue Zürcher Zeitung vom 14.8.2023
3 DerArmeebericht 2023 wird in einer der nächsten Ausgaben behandelt werden.
4 von Wartburg, Wolfgang. Die Neutralität der Schweiz und ihre Zukunft, 1992 (Auszug)

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK