Die International Progress Organization verurteilt die kollektive Bestrafung der Bevölkerung von Niger

Die International Progress Organization warnt vor einer militärischen Intervention, die gegen die Charta der Vereinten Nationen verstösst, und appelliert an die Staatsoberhäupter der ECOWAS beim Notstandsgipfel in Abuja*, Nigeria

Wien, Österreich, 8. August 2023

In einer heute veröffentlichten Stellungnahme forderte der Präsident der International Progress Organization, Dr. Hans Köchler, die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) auf, von einer Politik der Einschüchterung und Einmischung in die politische Situation in der Republik Niger abzulassen. Die Androhung einer militärischen Intervention und die gegen Niger verhängten Strafsanktionen verstossen gegen die Charta der Vereinten Nationen und drohen die ohnehin prekäre Sicherheitslage in der Region weiter zu destabilisieren. Diese Massnahmen und Strategien haben keine Grundlage im Vertrag der ECOWAS, der den «Nichtangriff zwischen den Mitgliedsstaaten» zu einem der «Grundprinzipien» der Gemeinschaft erklärt (Artikel 4[d]) und die «friedliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten» vorsieht.
  Gleichzeitig mit der Einstellung der finanziellen Unterstützung durch Frankreich und die Europäische Union werden die von ECOWAS und UEMOA (Westafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion) verhängten massiven Wirtschafts- und Finanzsanktionen die Zivilbevölkerung in grösste Schwierigkeiten bringen. Das Embargo hat bereits zu einem beträchtlichen Anstieg der Preise für lebensnotwendige Güter geführt. Es handelt sich um eine Form der kollektiven Bestrafung und eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte der Bürger Nigers. Der Premierminister des Landes unter der Regierung von Präsident Bazoum, Ouhoumoudou Mahamadou, erklärte gegenüber France24, dass die Sanktionen für die Bevölkerung «katastrophal» seien.
  In Anbetracht der Tatsache, dass die Gemeinschaftsmitgliedschaft von vier Staaten – Burkina Faso, Guinea, Mali und Niger – faktisch ausgesetzt ist, sollten die anderen Mitgliedsstaaten der ECOWAS eine friedliche Lösung im Einklang mit Kapitel VI der UN-Charta anstreben, anstatt ein ganzes Volk in einer regionalen Auseinandersetzung als Geisel zu nehmen. Darüber hinaus können wirtschaftliche Zwangsmassnahmen völkerrechtlich nur vom UN-Sicherheitsrat als Massnahme der kollektiven Sicherheit nach Kapitel VII der Charta verhängt werden. Einseitige Zwangsmassnahmen, ob von einem einzelnen Staat oder einer Gruppe von Staaten, sind illegal.
  Eine bewaffnete Intervention in Niger, wie sie von einigen Staaten der Region angedroht wird, würde nicht nur gegen den Wortlaut und den Geist des ECOWAS-Vertrags verstossen, sondern auch eine schwere Verletzung von Artikel 2 Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen darstellen, wonach sich alle Mitgliedsstaaten «in ihren internationalen Beziehungen der Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates enthalten». Artikel 58 des revidierten ECOWAS-Vertrags von 1993 («Regionale Sicherheit») enthält keine Bestimmungen, die eine bewaffnete Intervention im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats rechtfertigen. Die Option der Aufstellung von «Friedenstruppen» in Artikel 58 Absatz 2 Buchstabe f kann keinesfalls so ausgelegt werden, dass sie militärische Aktionen in einem Mitgliedsstaat rechtfertigt, die die Souveränität dieses Staates verletzen. Aus den katastrophalen Auswirkungen der Interventionen der früheren ECOMOG (Economic Community of West African States Monitoring Group) in den Bürgerkriegen in Liberia und Sierra Leone müssen Lehren gezogen werden. Schon die Einrichtung der Gruppe durch einen «Ständigen Vermittlungsausschuss» und die Ausübung ihres Mandats durch die Entsendung von De-facto-Kampfeinheiten in Bürgerkriegssituationen in den Mitgliedsstaaten entsprach weder den verfassungsrechtlichen Anforderungen der ECOWAS noch der Charta der damaligen OAU oder der Vereinten Nationen.
  Unter Bezugnahme auf das gemeinsame Kommuniqué der Übergangsregierungen von Mali und Burkina Faso vom 31. Juli 2023, in dem unter Punkt 5 «die Einleitung von Selbstverteidigungsmassnahmen [in Übereinstimmung mit Artikel 51 der UN-Charta] zur Unterstützung der Streitkräfte und des Volkes von Niger» für den Fall einer militärischen Intervention in diesem Land erwähnt wird, warnte der Präsident der I.P.O. vor den schwerwiegenden Folgen eines bewaffneten Vorgehens einiger Mitgliedsstaaten im Namen der ECOWAS – nicht nur für das Volk von Niger, sondern für den Frieden und die Stabilität in der Region und in ganz Afrika. Er appellierte an die Staatsoberhäupter dieser Länder, auf ihrem bevorstehenden Dringlichkeitsgipfel in Abuja den Weg des friedlichen Dialogs zu beschreiten, wie er in den Kapiteln II und X des überarbeiteten ECOWAS-Vertrags niedergelegt ist.
  Unter Bezugnahme auf die einseitige Militärintervention der Nato in Libyen im Jahr 2011, die auf Betreiben Frankreichs und unter offener Missachtung der durch die Resolution 1973 des Sicherheitsrats gesetzten Einschränkungen erfolgte, warnte die International Progress Organization vor einer neuerlichen Destabilisierung in der Sahelzone durch einen weiteren bewaffneten Feldzug, der gegen die UN-Charta verstosse. Der Zerfall Libyens infolge der Nato-Intervention war die Ursache für das Sicherheitsvakuum und die politische Instabilität in der gesamten Region und darüber hinaus, auch in Europa. Wie heute im Fall von Niger muss jedes Land selbst über Strategien und Massnahmen zum Schutz seiner Sicherheit und seiner lebenswichtigen nationalen Interessen entscheiden, ohne Einmischung von aussen, sei es durch regionale oder globale Mächte. «Krieg zu führen, um den Frieden zu erhalten», das trügerische Motto vieler unglücklicher Interventionen in der Geschichte der internationalen Beziehungen, darf nicht als Rechtfertigung für einen weiteren Akt unverhohlener Aggression dienen.  •

Quelle: i-p-o.org vom 8.8.2023



*  Die International Progress Organization hat den hier abgedruckten Text vor der Konferenz der ECOWAS in Abuja veröffentlicht. Die ECOWAS hat dort zwar die Fortsetzung der Sanktionen beschlossen, aber keinen konkreten Beschluss zur Militärintervention gefasst.[Anm. d. Red.]

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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