von Dr. Eliane Perret, Psychologin und Heilpädagogin
Das neue Schuljahr hat begonnen. Unsere Schulen sind ausgerüstet mit vielen neuen Geräten, und manche Schulgemeinde berichtet stolz von den Tablets, mit denen ihre Schüler und Schülerinnen nun ausgerüstet seien. Die dazu nötigen Kredite waren grosszügig gesprochen worden, schliesslich gehe es um die Zukunft unserer Kinder, die gerüstet sein müssten für eine von Digitalisierung geprägte Welt. Oft wird lobend hervorgehoben, dass der Fernunterricht während der Covid-19-Pandemie deutlich gemacht habe, dass technologische Lösungen im Unterricht ein sehr geeignetes Instrument und als unvermeidliche Form des Fortschritts zu betrachten seien. Auch habe der Fernunterricht endlich das Misstrauen und die Technikfeindlichkeit vieler Lehrpersonen durchbrochen. Die Gunst der Stunde wurde deshalb genutzt, um die nötigen Finanzen zur Bereitstellung digitaler Geräte für alle Schulstufen zu erwirken.
Zu Recht wird diesen euphorischen Stimmen mit Skepsis begegnet, und es mehren sich zunehmend kritische Stimmen, die sich der Frage stellen, in wessen Diensten diese Entwicklung steht und ob sie die Bildungschancen der Kinder tatsächlich verbessert.
Ein Werkzeug zu wessen Bedingungen?
Vor einiger Zeit veröffentlichte die Unesco ihren umfassenden Bildungsbericht 2023 mit dem Titel «Technology in Education – a tool on whose terms?»1 (Technologie in der Bildung – ein Werkzeug zu wessen Bedingungen?). Die Unesco nimmt in der Bildungspolitik ihrer Mitgliederländer eine wichtige Rolle ein und koordiniert und überwacht, wie sie die vereinbarten Ziele umsetzen. Das aktuelle Bildungsziel der Agenda Bildung 2030 lautet: «Bis 2030 für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sicherstellen sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen fördern.»2 Es ist Teil der 2015 von der Uno beschlossenen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung und soll bis 2030 erreicht werden.
«Kein Bildschirm kann jemals
die Menschlichkeit eines Lehrers ersetzen»
In ihrem Vorwort thematisiert Audrey Azoulay, die Generaldirektorin der Unesco, drei mit der Technologisierung der Schulen weit verbreitete Versprechen, die falsche Erwartungen wecken würden.3 «Erstens das Versprechen des personalisierten Lernens. Sehr oft führt diese grosse Hoffnung dazu, dass wir die grundlegende soziale und menschliche Dimension vergessen, die den Kern der Bildung ausmacht. Es lohnt sich, das Offensichtliche zu wiederholen: Kein Bildschirm kann jemals die Menschlichkeit eines Lehrers ersetzen. Wie im Unesco-Bericht ‹Futures of Education› (Zukunft der Bildung), der 2021 veröffentlicht wurde, hervorgehoben wird, muss die Beziehung zwischen Lehrern und Technologie komplementär sein und darf niemals austauschbar sein.»
Azoulay betont mit anderen Worten die unverzichtbare Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit und der Beziehung für den Lernprozess und verweist die heute vielfach eingesetzten digitalen Gerätschaften auf den Platz, wo sie hingehören, nämlich als zusätzliches und mögliches Werkzeug, mit denen der Unterricht allenfalls didaktisch und methodisch erweitert werden kann.
Nachweis für echten
Mehrwert digitaler Technologie fehlt
Als zweite irrtümliche Erwartung führt sie die Behauptung an, dass die digitale Technologie einen leichteren Zugang zur Bildung möglich mache. Dem sei nicht so, bestehe doch «[…] in der Realität eine digitale Kluft, die die Ungleichheiten im Bildungsbereich sogar noch vergrössert. Während der Pandemie hatte fast ein Drittel der Schüler keinen effektiven Zugang zum Fernunterricht – was nicht überrascht, da derzeit nur 40 % der Grundschulen weltweit über einen Internetzugang verfügen. Selbst wenn der Internetzugang flächendeckend wäre, müsste aus pädagogischer Sicht nachgewiesen werden, dass die digitale Technologie einen echten Mehrwert für effektives Lernen bietet, insbesondere in einer Zeit, in der wir uns alle der Risiken übermässiger Bildschirmarbeit bewusst werden.»
Kommerzielle und private
Interessen, mangelnder Datenschutz
«Das letzte falsche Paradoxon und keineswegs das geringste», so Azoulay weiter, «besteht darin, dass trotz des Bestrebens, die Bildung zu einem globalen Gemeingut zu machen, die Rolle kommerzieller und privater Interessen in der Bildung weiter zunimmt, mit all den Unklarheiten, die dies mit sich bringt: Bis heute garantiert nur eines von sieben Ländern rechtlich den Schutz von Bildungsdaten.»
Als Kompass für die Bildungsstrategien der einzelnen Länder gelten für den Bildungsbericht deshalb zwei nachdrückliche Empfehlungen: Erstens soll dem Wohl der Schüler systematisch Vorrang vor allen anderen Erwägungen – insbesondere kommerziellen – gegeben werden, und zweitens soll sichergestellt sein, dass die Technologie als Mittel und nicht als Zweck betrachtet wird.
Hausaufgaben für Entscheidungsträger
Die Unesco fordert deshalb die jeweiligen Regierungen auf zu klären, ob der Einsatz der Bildungstechnologie für den nationalen und lokalen Kontext überhaupt geeignet sei. Es müsse auch das Risiko ausgeschlossen werden, dass die Digitalisierung bereits Privilegierte bevorzuge und andere weiter ausgrenze und damit die Ungleichheit beim Lernen zusätzlich verstärke. Die Regierungen werden davor gewarnt, sich vom überwältigenden Angebot an Produkten und Plattformen im Bildungsbereich zu Entscheidungen verleiten zu lassen, ohne dass Vorteile und Kosten hinreichend belegt seien (nur ungefähr 25 % der Gesamtkosten sind jeweils für die Erstinvestitionen nötig, die restlichen 75% sind Folgekosten, zum Beispiel für den technischen Support, die im allgemeinen nicht benannt werden). Weiter müssten die Länder stets prüfen, ob die digitale Technologie tatsächlich nachhaltigen Nutzen bringe und nicht von engstirnigen wirtschaftlichen Erwägungen und Partikularinteressen geleitet werde.4
Gute, unparteiische
Erkenntnisse sind Mangelware
Diese Kernaussagen ergeben sich aus einem facettenreich und differenziert erstellten Bericht, in den der heutige Forschungsstand und bisherige Erfahrungen eingeflossen sind. Vor- und Nachteile der Digitalisierung im Bildungsbereich werden gegeneinander abgewogen. An die Schulen geht der Aufruf, Regeln festzulegen und einzuhalten, an die sich alle halten müssen, und zu klären, welche Rolle die neuen Technologien beim Lernen spielen sollen und wie sie verantwortungsvoll eingesetzt werden können. Das im Bewusstsein, wie der Bericht anführt, dass gute, unparteiische Erkenntnisse über die Auswirkungen der Bildungstechnologie Mangelware seien – ein Grossteil der Untersuchungen stammt von denjenigen, die versuchen, ihre Produkte zu verkaufen.
Ein kritisches Bewusstsein entwickeln
Schülerinnen und Schüler müssen befähigt werden, so der Bericht, sich mit Chancen und Risiken auseinanderzusetzen, die mit der Technologie verbunden sind, und ein kritisches Bewusstsein dafür entwickeln, wie man mit und ohne Technologie lebt. Das mache ihren Blick frei für die Veränderungen der Welt und der damit verbundenen Herausforderungen.
Der Bericht ist also keine Absage an Informationstechnologien in Bildungseinrichtungen. Er ist jedoch eine Absage an die derzeitigen Geschäftsmodelle der aktuellen Anbieter – mit dem Ziel, wie Ralf Lankau, Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg, meint, «[…] den Einsatz von Informationstechnik und künstlicher Intelligenz (KI) an den Bedürfnissen der und zum Nutzen von Lernenden auszurichten statt an Partikularinteressen der IT-Wirtschaft und einzelner Medienanbieter».5
Kröten auf dem Sofa
Was der Unesco-Bildungsbericht thematisiert, wurde in einigen Ländern bei der Erstellung und Auswertung von Bildungsprogrammen bereits berücksichtigt. Beispielsweise hat Schweden seinen Vorschlag einer nationalen Digitalisierungsstrategie für das Schulsystem 2023–27 dem Karolinska Institut zur Stellungnahme vorgelegt, einer der grössten und angesehensten medizinischen Universitäten Europas. Das Gutachten des Teams von Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachbereichen trug wesentlich dazu bei, dass die schwedische Regierung ihre Entscheidung, Vorschulen und Grundschulen verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten, wieder rückgängig gemacht hat. Auf der Webseite der liberalen Partei findet sich folgende Begründung:
«Schweden steckt in einer Schulkrise, und das Bildschirmexperiment in den Vorschulen ist zu weit gegangen; hier sollten die Grundlagen für die Schule gelegt werden. Kinder in der Vorschule schauen sich Kröten auf dem Sofa an, statt Kröten im Teich.» Und weiter: «Es ist klar, dass Bildschirme grosse Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen. Wir wissen, dass menschliche Interaktion für das Lernen in den ersten Lebensjahren entscheidend ist. Bildschirme haben in Vorschulen einfach nichts zu suchen», sagt die Bildungsministerin Lotta Edholm.6
Andere Länder machen es vor
Aber nicht nur Schweden, auch andere Länder haben sich besonnen und ihre digitalen Richtlinien im Bildungsbereich neu überdacht. Eine High School im australischen Sydney führte strengere Regelungen für den Umgang mit Mobiltelefonen ein. Die Schülerinnen und Schüler mussten neu tagsüber ihre Handys in einer Tasche versorgen, die, wenn sie einmal geschlossen war, nicht wieder geöffnet werden konnte, ohne ein Schloss aufzubrechen. Was wichtig ist: Der Entscheid der Schule wurde auch von den Lehrern und der Mehrheit der Eltern mitgetragen.
Nur zwei Monate später berichtete der Direktor der Schule, dass sie seit der Einführung dieser Massnahme einen markanten Rückgang (90%) an Verhaltensproblemen und einen Anstieg von körperlicher Aktivität und Gesprächen zwischen den Schülern festgestellt hätten. Es sei klar, dass die Mobiltelefone im Klassenzimmer das Lernen und die Konzentration der Kinder beeinträchtigen und sich negativ auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Schüler auswirken.7
Diese Schule machte das, was in verschiedenen anderen Schulen und Ländern schon Usus ist. Bereits 2015 und 2018 wurde in Frankreich ein Handyverbot im Unterricht eingeführt, das 2018 auf internetfähige Geräte wie Tablets und Smartwatches erweitert wurde und für alle Räumlichkeiten und bei schulischen Aktivitäten in und ausserhalb der Schulhäuser gilt.
In China beschränkte das Bildungsministerium Anfang 2021 die Zeit, in der digitale Geräte als Lehrmittel benutzt werden, auf 30% der Unterrichtszeit. Ab 2024 gehören auch die Niederlande zu jenen Ländern, welche die Verwendung von Mobiltelefonen oder anderen privaten digitalen Geräten in Schulen verbieten. Jedes vierte Land weltweit verbietet mittlerweile private Geräte in der Schule, dies mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen, die sich wieder auf den Unterricht konzentrieren und miteinander kommunizieren sollen (und dürfen!).
Was tun?
Diese Erfahrungen sollten bei unseren Bildungspolitikern, aber auch Eltern und Lehrpersonen den entschiedenen Impuls auslösen, nachzuziehen und sich aus aktuellen Irrtümern zu befreien. Es braucht in der Bildungspolitik keine weiteren Bildungsexperimente, sondern dringend wieder den offenen und ehrlichen Dialog, der sich an unabhängigen, wissenschaftlichen Befunden orientiert, Erfahrungen ehrlich auswertet und sich an den Bedürfnissen des Kindes orientiert. Wäre das dann für die Schulgemeinden nicht ein echter Grund, stolz zu sein? •
1 Global Education Monitoring Report 2023. Technology in Education – a tool on whose terms? Paris: Unesco. (ausführlicher Bericht mit 418 Seiten). https://www.unesco.org/gem-report/en; abgerufen am 10.8.2023
2 Schweizerische Unesco-Kommission. Bildungsagenda 2030. Aktionsrahmen. Deutsche Kurzfassung, S. 2; https://www.unesco.ch/wp-content/uploads/2017/01/Bildungsagenda-2030.pdf; abgerufen am 14.8. 2023
3 a.a.O. S. vii, daraus sind auch die nachfolgenden zwei Zitate entnommen.
4 Weltbildungsbericht (Kurzversion, englisch, 35 Seiten), S. 25f.; https://www.unesco.de/publikationen#row-10250; abgerufen am 10.8.2023
5 Lankau, Ralf. Unesco-Bericht fordert mehr Bildungsgerechtigkeit. www.diagnose-funk.org > download.php?field=filename&id=1658&class=NewsDownload, abgerufen am 13.8.2023
6 vgl. Liberale Partei Schweden. Dags för skärmfri förskola [Zeit für eine bildschirmfreie Vorschule]. https://www.liberalerna.se/nyheter/dags-for-skarmfri-forskolahttps; abgerufen am 12.8.2023
7 vgl. A Sydney high school banned mobile phones. It had dramatic results. In: Sydney Morning Herald vom 7.8.2022; https://www.smh.com.au/national/nsw/a-sydney-high-school-banned-mobile-phones-it-had-dramatic-results-20220803-p5b6zf.html#Echobox=1659829516; abgerufen am 12.8.2023
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