Der Krieg in der Ukraine – Rückblick und Prognosen für 2023

von Scott Ritter*

Angesichts der zweifelhaften Geschichte der Minsker Vereinbarungen ist es unwahrscheinlich, dass Russland auf diplomatischem Wege von seiner Militäroffensive abgehalten werden kann. Daher scheint sich das Jahr 2023 als ein Jahr fortgesetzter gewaltsamer Konfrontation herauszustellen.

Nach fast einem Jahr dramatischer Ereignisse, in dem erste russische Vorstösse auf beeindruckende ukrainische Gegenoffensiven trafen, haben sich die Fronten im anhaltenden russisch-ukrainischen Konflikt stabilisiert. Beide Seiten sind in einen blutigen Stellungskrieg verwickelt und reiben sich gegenseitig in einem brutalen Zermürbungskampf auf, während sie auf die nächste grössere Initiative einer der beiden Seiten warten.
  Kurz vor dem einjährigen Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine stellt die Tatsache, dass die Ukraine es in diesem Konflikt so weit gebracht hat, sowohl einen moralischen als auch – in geringerem Masse – einen militärischen Sieg dar.
  Vom Vorsitzenden der U.S. Joint Chiefs of Staff bis zum Direktor der CIA schätzten die meisten hochrangigen Militärs und Geheimdienstler im Westen Anfang 2022 ein, dass eine grössere russische Militäroffensive gegen die Ukraine zu einem schnellen, entscheidenden russischen Sieg führen würde.
  Die Widerstandsfähigkeit und Stärke des ukrainischen Militärs hat alle überrascht, auch die Russen, deren ursprünglicher Aktionsplan, einschliesslich der für die Aufgabe bereitgestellten Kräfte, sich als unzureichend für die gestellten Aufgaben erwies. Dies als ukrainischen Sieg wahrzunehmen, ist jedoch irreführend.

Der Tod der Diplomatie

Während sich der Staub auf dem Schlachtfeld legt, hat sich ein Muster herauskristallisiert, was die strategische Vision hinter Russlands Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, angeht. Während der westliche Mainstream die russische Aktion weiterhin als einen überstürzten Akt unprovozierter Aggression darstellt, hat sich ein Muster von Fakten herauskristallisiert, das darauf hindeutet, dass das russische Argument der präventiven kollektiven Selbstverteidigung gemäss Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen durchaus seine Berechtigung haben könnte.
  Die jüngsten Eingeständnisse der für die Verabschiedung der Minsker Abkommen von 2014 und 2015 verantwortlichen Personen (der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko, der ehemalige französische Präsident François Hollande und die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel) zeigen, dass das Ziel der Minsker Abkommen, eine friedliche Lösung des Konflikts im Donbass zwischen der ukrainischen Regierung und den prorussischen Separatisten nach 2014 zu fördern, eine Lüge war.
  Statt dessen waren die Minsker Vereinbarungen dieser Troika zufolge kaum mehr als ein Mittel, um der Ukraine Zeit zu verschaffen, um mit Hilfe der Nato ein Militär aufzubauen, das in der Lage ist, den Donbass in die Schranken zu weisen und Russland von der Krim zu vertreiben.
  Vor diesem Hintergrund erhält die Einrichtung einer ständigen Ausbildungsstätte durch die USA und die Nato in der Westukraine – in der zwischen 2015 und 2022 etwa 30 000 ukrainische Soldaten nach Nato-Standards ausgebildet wurden, um Russland in der Ostukraine entgegenzutreten – eine ganz neue Perspektive.
  Die zugegebene Doppelzüngigkeit der Ukraine, Frankreichs und Deutschlands steht im Gegensatz zu Russlands wiederholtem Beharren auf der vollständigen Umsetzung des Minsker Abkommens vor seiner Entscheidung zum Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022.
  Im Jahr 2008 warnte der ehemalige US-Botschafter in Russland, William Burns, der jetzige Direktor der CIA, dass jegliche Bemühungen der Nato, die Ukraine in ihren Schoss aufzunehmen, von Russland als Bedrohung seiner nationalen Sicherheit angesehen werden und, falls sie fortgesetzt würden, eine russische Militärintervention provozieren würden. Dieses Memo von Burns gibt den Initiativen Russlands vom 17. Dezember 2021 zur Schaffung eines neuen europäischen Sicherheitsrahmens, der die Ukraine aus der Nato heraushalten würde, einen dringend benötigten Kontext.
  Einfach ausgedrückt: Die russische Diplomatie war auf Konfliktvermeidung ausgerichtet. Dasselbe kann man weder von der Ukraine noch von ihren westlichen Partnern sagen, die eine Politik der Nato-Erweiterung in Verbindung mit der Lösung der Donbass/Krim-Krise mit militärischen Mitteln verfolgten.

Spielveränderer, nicht Spielgewinner

Die Reaktion der russischen Regierung auf das Scheitern des russischen Militärs, die Ukraine in der Anfangsphase des Konflikts zu besiegen, gibt einen wichtigen Einblick in die Denkweise der russischen Führung hinsichtlich ihrer Ziele und Absichten.
  Da den Russen ein entscheidender Sieg verwehrt blieb, schienen sie bereit zu sein, ein Ergebnis zu akzeptieren, das die russischen Gebietsgewinne auf den Donbass und die Krim beschränkte, und eine Vereinbarung der Ukraine, nicht der Nato beizutreten. In der Tat standen Russland und die Ukraine kurz davor, ein entsprechendes Abkommen in Verhandlungen zu formalisieren, die Anfang April 2022 in Istanbul stattfinden sollten.
  Diese Verhandlungen wurden jedoch durch die Intervention des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson zunichte gemacht, der die Fortsetzung der militärischen Unterstützung für die Ukraine an die Bereitschaft der Ukraine knüpfte, eine Beendigung des Konflikts auf dem Schlachtfeld und nicht durch Verhandlungen zu erzwingen. Johnsons Intervention war durch die Einschätzung der Nato motiviert, dass die anfänglichen militärischen Misserfolge Russlands ein Zeichen für russische Schwäche seien.
  Die Stimmung in der Nato, die sich in den öffentlichen Äusserungen von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg («Wenn [der russische Präsident Wladimir] Putin gewinnt, ist das nicht nur eine grosse Niederlage für die Ukrainer, sondern es ist eine Niederlage und gefährlich für uns alle») und von U.S. Verteidigungsminister Lloyd Austin («Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es die Dinge, die es mit der Invasion in der Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann») war es, den russisch-ukrainischen Konflikt als Stellvertreterkrieg zu nutzen, um Russland so weit zu schwächen, dass es sich nie wieder auf ein militärisches Abenteuer wie in der Ukraine einlassen würde. In Verbindung mit einem unseligen Wirtschaftskrieg sollte damit auch die russische Regierung zu Fall gebracht werden, wie Präsident Joe Biden im letzten Frühjahr zugab.
  Diese Politik war der Auslöser für die Bereitstellung von Hilfsgeldern im Wert von weit über 100 Milliarden Dollar für die Ukraine, darunter Dutzende von Milliarden Dollars an moderner militärischer Ausrüstung.
  Diese massive Finanzspritze veränderte das Spiel. Sie ermöglichte der Ukraine den Übergang von einer primär defensiven Haltung zu einer Haltung, in der ein neu formiertes ukrainisches Militär, das nach Nato-Standards ausgebildet, ausgerüstet und organisiert war, grossangelegte Gegenangriffe startete und die russischen Streitkräfte aus grossen Teilen der Ukraine vertreiben konnte. Es war jedoch keine Strategie, die zum Sieg führte – ganz im Gegenteil.

Militärische Mathematik

Die beeindruckenden ukrainischen militärischen Erfolge, die durch die Bereitstellung militärischer Hilfe durch die Nato ermöglicht wurden, hatten einen hohen Preis an Menschenleben und Material. Die genaue Zahl der Verluste auf beiden Seiten ist schwer zu ermitteln, aber selbst in der ukrainischen Regierung ist man sich einig, dass die ukrainischen Verluste hoch waren.
  Da sich die Kampflinien derzeit stabilisiert haben, stellt sich die Frage, wie es mit dem Krieg weitergeht, als eine Frage der militärischen Mathematik – kurz gesagt, als eine kausale Beziehung zwischen zwei grundlegenden Gleichungen, die sich um die Verbrennungsrate (wie schnell Verluste erlitten werden) und die Wiederauffüllungsrate (wie schnell solche Verluste ersetzt werden können) drehen.
  Weder die Nato noch die Vereinigten Staaten scheinen in der Lage zu sein, die Menge der an die Ukraine gelieferten Waffen aufrechtzuerhalten, die die erfolgreichen Gegenoffensiven gegen die Russen im Herbst ermöglichten.
  Diese Ausrüstung ist grösstenteils zerstört worden, und obwohl die Ukraine auf ihrem Bedarf an mehr Panzern, gepanzerten Kampffahrzeugen, Artillerie und Luftabwehr beharrt und obwohl neue militärische Hilfe zu kommen scheint, wird sie zu spät und in unzureichender Menge eintreffen, um auf dem Schlachtfeld eine spielentscheidende Wirkung zu haben.
  Auch die Verluste der Ukraine, die zeitweise mehr als 1000 Mann pro Tag betragen, übersteigen bei weitem die Möglichkeiten der Ukraine, Ersatz zu mobilisieren und auszubilden.
  Russland hingegen ist dabei, die Mobilisierung von mehr als 300 000 Mann abzuschliessen, die offenbar mit den modernsten Waffensystemen des russischen Arsenals ausgerüstet sind.
  Wenn diese Truppen in voller Stärke auf dem Schlachtfeld eintreffen, irgendwann Ende Januar, wird die Ukraine keine Antwort darauf haben. Diese harte Realität, gepaart mit der Annexion von mehr als 20 Prozent des ukrainischen Territoriums durch Russland und einem Schaden an der Infrastruktur in Höhe von fast 1 Billion Dollar, verheisst nichts Gutes für die Zukunft der Ukraine.
  Es gibt ein altes russisches Sprichwort: «Ein Russe spannt langsam an, reitet aber schnell.» Dies scheint sich im russisch-ukrainischen Konflikt zu bewahrheiten.
  Sowohl die Ukraine als auch ihre westlichen Partner kämpfen darum, den Konflikt aufrechtzuerhalten, den sie ausgelöst haben, als sie im April 2022 eine mögliche Friedensregelung ablehnten. Russland hat sich nach seinem Rückzug weitgehend neu formiert und scheint bereit zu sein, grossangelegte Offensivoperationen wiederaufzunehmen, auf die weder die Ukraine noch ihre westlichen Partner eine angemessene Antwort haben.
  Ausserdem ist es angesichts der zweifelhaften Geschichte der Minsker Vereinbarungen unwahrscheinlich, dass Russland durch Diplomatie von seiner Militäroffensive abgehalten werden kann. Daher scheint sich das Jahr 2023 als ein Jahr fortgesetzter gewaltsamer Konfrontationen zu entwickeln, die zu einem entscheidenden russischen Militärsieg führen werden.
  Es bleibt abzuwarten, wie Russland einen solchen militärischen Sieg in eine nachhaltige politische Lösung umwandelt, die sich in regionalem Frieden und Sicherheit manifestiert.  •

Quelle: www.consortiumnews.com vom 11.1.2023; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps, der in seiner mehr als 20jährigen Laufbahn unter anderem in der ehemaligen Sowjetunion bei der Umsetzung von Rüstungskontrollabkommen, im Stab von US-General Norman Schwarzkopf während des Golf-Kriegs und später als Chefwaffeninspektor der Uno im Irak von 1991–1998 tätig war.

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