mw. Der Bundesrat übernimmt bekanntlich seit dem 28. Februar 2022 sämtliche EU-Sanktionen gegenüber Russland – ungeachtet der Souveränität, der Rechtsstaatlichkeit und der Neutralität der Schweiz (siehe dazu Zeit-Fragen vom 3. Mai 2022). Eine aus rechtsstaatlicher Sicht besonders fragwürdige Massnahme ist die Übernahme einer Liste aus Brüssel mit mehr als 1000 Namen russischer Personen und Unternehmungen, deren Vermögenswerte in der Folge gesperrt wurden – ohne dass ihnen Gelegenheit gegeben wurde, sich dazu zu äussern (Anspruch auf rechtliches Gehör) oder rechtliche Mittel dagegen zu ergreifen, wie dies die Bundesverfassung garantiert (siehe Kasten).
Heute gehen die Forderungen aus dem Ausland noch einen gewaltigen Schritt weiter: Die gesperrten russischen Vermögenswerte sollen durch den Bund konfisziert und für den Wiederaufbau der Ukraine eingesetzt werden. Davor hat Nationalrat Franz Grüter, Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK-N), kürzlich in der «Neuen Zürcher Zeitung» gewarnt: «Wir dürfen unsere rechtsstaatlichen Prinzipien nicht plötzlich aufgeben».1
Zeit-Fragen: Herr Nationalrat Grüter, können Sie das erklären?
Franz Grüter: Ja, die Schweiz ist ein Rechtsstaat. Darauf sind eigentlich auch alle stolz, unabhängig von der politischen Ausrichtung. In der Bundesverfassung ist das Eigentum garantiert [Artikel 26]. Wenn wir nun plötzlich beginnen, Leute willkürlich zu enteignen, dann ist das ein Bruch mit der Bundesverfassung. Man muss das so deutlich sagen.
Eigentumsgarantie ist in der Schweizer Bevölkerung tief verankert
Wenn wir die gesperrten russischen Vermögenswerte konfiszieren, dann ist das verfassungswidrig. Wer das will, muss die Verfassung entsprechend anpassen und durch das Volk absegnen lassen. Ich muss Ihnen aber auch sagen, dass die Schweiz als Rechtsstaat ein Problem bekommt, wenn wir anfangen, Leute nur auf Grund ihrer Staatszugehörigkeit zu enteignen. Die Forderung ist nicht neu, sie wurde bereits unmittelbar nach dem 24. Februar aufgebracht, vor allem vom polnischen Ministerpräsidenten, der sinngemäss gesagt hat: «Ihr müsst allen Russen das Geld wegnehmen, und zwar pauschal.» Damit würden wir eine Art Sippenhaft einführen. Jemand würde einfach auf Grund seiner Staatsangehörigkeit willkürlich enteignet und nicht auf Grund eines Gerichtsurteils und eines sauberen rechtsstaatlichen Verfahrens. Das geht definitiv nicht. Nochmals: Die Garantie des Eigentums ist in der Verfassung und auch in der Schweizer Bevölkerung tief verankert.
Sie müsste ja auch in den USA und in der EU verankert sein, oder?
Ich kenne deren Verfassungen nicht im Detail, aber ich bin sicher, das Recht auf Eigentum und die Eigentumsgarantie stehen auch in den Verfassungen dieser Staaten, also wäre ein solches Vorgehen auch dort rechtswidrig. Und ich hoffe sehr, dass auch in diesen Ländern die Rechtsstaatlichkeit obsiegt.
Die Frage ist auch, ob sich die sanktionierten Russen rechtlich wehren können.
Das ist ein guter Punkt. Meines Wissens hat man den sanktionierten Russen in der Schweiz den Rechtsbeistand verunmöglicht, sie können sich nicht einmal mehr über Rechtsanwälte gegen die Sperrung ihrer Vermögen wehren. Das sind aus meiner Sicht sehr bedenkliche Zustände.
Schweiz darf dem Druck aus den USA und der EU nicht nachgeben
Man muss auch die weiteren Folgen bedenken. Es gibt immer wieder Konfliktherde auf dieser Welt. Wenn wir jetzt willkürlich mit Enteignungen beginnen, verludert der Schweizer Rechtsstaat. Wir müssen diesem Druck standhalten.
Der Bundesrat hat eine Arbeitsgruppe mit Vertretern der involvierten Departemente eingesetzt, die «prüfe, was mit den gesperrten russischen Geldern in der Schweiz geschehen könnte», so eine Sprecherin des Bundesamtes für Justiz BJ. Wissen Sie Genaueres?
Die Arbeitsgruppe, die Sie erwähnt haben, befasst sich mit der Frage, was mit den blockierten 7,5 Milliarden der sanktionierten Personen zu tun ist. Auch hier kann ich nur sagen: Wir sind ein Rechtsstaat, da braucht es Gerichtsentscheide. Man kann nicht einfach den Leuten ihr Geld wegnehmen. Dass die Vermögen blockiert sind, ist an sich schon nicht unproblematisch. Es bleibt die Frage, was nachher mit diesen Geldern passiert. Es gab in der Schweiz schon Fälle, in denen man ausländischen Diktatoren Gelder entzogen hat. Das haben allerdings Gerichte entschieden. Und es sind absolute Ausnahmefälle, die juristisch sehr gut begründet sein müssen. Pauschal-Enteignungen sind noch einmal eine ganz andere Kategorie.
Wie schon angesprochen, selbst einzelne Personen, die auf der Sanktionsliste stehen, können heute in der Schweiz nicht überprüfen lassen, ob die Sperrung ihrer Gelder rechtens ist.
Ja, das ist so. Der Fall, der im Detail publik wurde [in der Weltwoche], ist der von Andrei Melnitschenko, einem Düngemittelunternehmer, der schon seit vielen Jahren in der Schweiz lebt. Ihm verwehrt man den Rechtsbeistand. Ich bin sehr erstaunt, dass so etwas passiert. Ich glaube, die Schweiz muss aufpassen, dass sie dem Druck, der vor allem aus den USA und aus der EU kommt, nicht nachgibt – übrigens ist Melnitschenko in den USA nicht sanktioniert, nur in der EU. Wir dürfen nicht einfach moralistische Entscheidungen fällen. Den Leuten auf der Sanktionsliste müssen Gerichtsverfahren ermöglicht werden, sie müssen juristisch dagegen vorgehen können.
Wir müssen zurückkehren zu einer echten Neutralität
Bereits im April hatte EDA-Chef Ignazio Cassis in SRF News erklärt, das Vorgehen der Schweiz sei «zu 100 Prozent kompatibel mit der Neutralität des Landes». Wie sehen Sie das?
Die Wahrnehmung, ob die Schweiz neutral ist oder nicht, ist sehr unterschiedlich. Die USA, der amerikanische Präsident, haben gesagt: «Die Schweiz ist nicht mehr neutral.» Die Headline der «New York Times» Ende Februar 2022 lautete: «Die Schweiz hat die Neutralität aufgegeben.» In der gesamten westlichen Presse wurde die Schweiz quasi gefeiert, weil sie ihre Neutralität aufgibt. Als die Ukraine die Schweiz darum gebeten hat, ob sie bereit sei, das Schutzmachtmandat, also quasi eine Briefträgerfunktion zwischen der Ukraine und Russland, zu übernehmen, sagte Russland: Mit der Schweiz nicht, denn sie ist nicht mehr neutral.
Es ist nur der Bundesrat, der dauernd sagt, wir seien neutral. Neutral sind wir aber nur dann, wenn wir als neutral anerkannt werden. Wir müssen also zurückkehren zu einer echten Neutralität, die auch von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt wird.
Herr Nationalrat Grüter, besten Dank für das Gespräch. •
1 Gafafer, Tobias. «Die Schweiz gerät wegen russischer Gelder unter Druck». In: Neue Zürcher Zeitung vom 3.1.2023
Art. 26 Eigentumsgarantie
Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien
mw. Auch in der Schweizer Rechtswissenschaft gibt es glücklicherweise Persönlichkeiten, die auf der Einhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien gemäss Schweizer Bundesverfassung bestehen. Eine von ihnen ist Professor Dr. Peter V. Kunz, Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht der Universität Bern. In einem Zeitungskommentar hielt er kürzlich einige wichtige Pflöcke des Schweizer Rechtsstaats und der Neutralität fest, welche unsere Politiker gegenüber Angehörigen aller Staaten dieser Welt einzuhalten haben.
Peter V. Kunz beanstandet, dass zurzeit in Medien und Politik kaum eine ernsthafte Diskussion zur Neutralität geführt wird, obwohl diese «immerhin seit mehr als 200 Jahren der eigentliche Anker der schweizerischen Aussenpolitik» ist. Dass die Schweiz fast alle Sanktionen der EU im Wortlaut übernehme, gehe weit über eine «Solidaritätsaktion» hinaus. Er nennt Ross und Reiter: «Die Sanktionsschrauben sollen – auf Wunsch der USA – sogar noch weiter angezogen werden», und er mahnt: «Doch Vorsicht! Wir sollten mit dem Grundrecht der Eigentumsgarantie nicht leichtfertig umgehen, selbst wenn der Druck aus dem Ausland künftig zunimmt.»
Der Autor erklärt den grossen Sprung von der Blockierung zur Konfiskation von Vermögenswerten aus dem Blickwinkel der Rechtsstaatlichkeit: Bei einer Vermögenssperre werden die Gelder nur zeitweilig blockiert, während bei einer Konfiskation das Eigentum durch den Staat endgültig entzogen wird. Deshalb dürfen Vermögenseinziehungen «einzig in legalen Verfahren, mit konkreten sowie zu beweisenden strafrechtlichen Vorwürfen und nicht durch ‹Schauprozesse auf Verdacht› erfolgen; Betroffene müssen Akteneinsicht erhalten und sich gerichtlich zur Wehr setzen können». Das ergebe sich «aus einer schweizerischen Tradition, die sich mit einem Wort zusammenfassen lässt: Rechtsstaat».
Mit klaren Worten weist der Berner Rechtsprofessor «Enteignungen ohne Entschädigung aus Gründen der politischen Opportunität oder der diplomatischen Feigheit» zurück, und zwar «nicht allein gegenüber Russen, die wir seit dem Ukraine-Krieg gerne unter einen billigen Generalverdacht stellen».
Misslungener Beeinflussungsversuch seitens der EU
Besonders bemerkenswert ist eine Einladung anfangs Dezember 2022 zum Mittagessen durch den Botschafter der Europäischen Union in der Schweiz, Petros Mavromichalis, von der Professor Kunz im Zeitungskommentar berichtet: «Er bat um einen Meinungsaustausch zu den schweizerischen Sanktionen gegen Russland wegen des Ukraine-Krieges. Diese ehrenvolle Einladung kam etwas überraschend für mich, habe ich doch weder eine offizielle noch eine offiziöse Funktion für die Schweiz inne.» Der Grund für diese Aktion wird klarer, wenn wir erfahren, dass Peter V. Kunz bereits im Frühling 2022 in mehreren Interviews «die Einsetzung einer schweizerischen Taskforce (‹Augenwischerei›) oder die Jagd auf angebliche Oligarchengelder (‹Bananenrepublik›)» kritisiert hatte, was ihm «teils heftige und meist anonyme Kritik» einbrachte. Diese standhafte Stimme musste nach dem Willen der EU-Gewaltigen «umgepolt» werden – allerdings ging der Schuss nach hinten los.
Ein Bravo für den Berner Rechtsprofessor! Indem er den Beeinflussungsversuch öffentlich macht, zieht er der allgegenwärtigen Meinungsmanipulation durch die westlichen Grossmächte den Stachel. Sein Beispiel kann für jeden von uns ein Ansporn sein, die im Völkerrecht und in der Bundesverfassung verankerte Meinungsfreiheit einzufordern.
Quelle: «Konfiskation von russischen Vermögen: Wir dürfen Russen nicht unter billigen Generalverdacht stellen». Gastkommentar von Peter V. Kunz. In: «Aargauer Zeitung» vom 11.1.2023
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