Meinungsfreiheit, konstitutiv für freie Bürger und eine freie Gesellschaft

von Ewald Wetekamp, Deutschland

Es kann nicht häufig genug daran erinnert werden, welche grundsätzlichen Aufgaben Deutschland als demokratisch verfasster Staat bezüglich seiner Daseinsfürsorge und seiner Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern, seinen Nachbarn und der Weltgemeinschaft hat. Darauf wird auch die deutsche Regierung auf Eid verpflichtet. Einige der wichtigsten Pflichten seien hier genannt: Innere und äussere Sicherheit gehören ebenso dazu wie Gesundheitsvorsorge und die Gewährleistung einer Allgemeinen Schulbildung, die Versorgung mit Energie, Wasser und Nahrungsmitteln (Ernährungssouveränität) und vor allem Rechtsschutz und Rechtssicherheit auf der Grundlage der Verfassung. Diese wiederum basiert auf den festgelegten und feierlich erklärten Natur- und Menschenrechten. Mit einer regelbasierten Ordnung, die durch das Faustrecht «legitimiert» wird, hat das nichts zu tun.
  Wer möchte bestreiten, dass eine der wichtigsten demokratischen Errungenschaften im öffentlichen Raum die Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz (GG) ist. In Zeit-Fragen Nr. 1 vom 10. Januar 2023 wurde der Verfassungstext in seinen historischen Entwicklungsstufen bereits ausführlich behandelt. Man kann nicht häufig genug daran erinnern. Deswegen sei Artikel 5 des GG noch einmal zitiert: «Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äussern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.» Die Informationsfreiheit war der verfassungsgebenden Versammlung 1949 so wichtig, dass sie auch diese Freiheit ausdrücklich ins GG aufgenommen hat. Wesensgemäss verbunden mit der Meinungsfreiheit sind Versammlungs- (Art. 8) und Religionsfreiheit (Art. 4). Es ist leicht nachvollziehbar, dass bei der Einschränkung oder gar beim Fehlen einer dieser Freiheiten die demokratische Verfasstheit, die Demokratie schlechthin in Gefahr ist und sich die Transformation in totalitäre Verhältnisse anbahnt oder schon vollzogen wurde.
  Im Grundgesetz wird also ein Menschenbild deutlich, das davon ausgeht, dass der Bürger sich im freien Gespräch über die Einzelheiten und Feinheiten des vom demokratischen Staat garantierten Allgemeinwohls in freier Verantwortung austauschen will und kann. Selbst Meinungsäusserungen, die über den Rahmen der Verfassung hinausgehen, wurden vom Verfassungsgericht nicht per se als gefährdend betrachtet, schärfen solche Auseinandersetzungen doch die demokratische Gesinnung.

Das Bundesverfassungsgericht würdigt den mündigen Bürger

In einem Urteil vom 4. November 20091 kommt das Bundesverfassungsgericht zu folgendem Ergebnis:

«Geschützt sind damit von Art. 5 Abs. 1 GG auch Meinungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind. Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.» (Hervorhebung ew)

Weiter:

«Den hierin begründeten Gefahren entgegenzutreten, weist die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes primär bürgerschaftlichem Engagement im freien politischen Diskurs sowie der staatlichen Aufklärung und Erziehung in den Schulen gemäss Art. 7 GG zu.»

Und weiter:

«Die Bürger sind dabei rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht.»

Das Menschenbild der deutschen Verfassung

Das Grundgesetz vertraut also auf die Kraft der freien Auseinandersetzung, es vertraut primär auf das bürgerschaftliche Engagement im freien politischen Diskurs und es geht im Weiteren davon aus, dass staatliche Aufklärung und Erziehung in den Schulen ihren demokratieerhaltenden Beitrag dazu leisten. Die oben genannte staatliche Aufklärung und Erziehung in den Schulen hat sich allerdings nach Art. 7 GG und dem in jeder Landesverfassung zu findenden Artikel zum Erziehungs- und Bildungsauftrag zu richten, auf keinen Fall aber nach den ideologischen Vorstellungen irgendwelcher Parteien oder Lobbyorganisationen, die mittlerweile starken Einfluss auf unsere Legislative und Exekutive gewonnen haben. Dass dieser Einfluss ein katastrophaler ist, sehen wir nicht nur an den Ergebnissen internationaler Bildungsrankings, sondern ebenso an der grossen Zahl der Lehrstellen- und Studienabbrecher. Das ist das Ergebnis einer gescheiterten Bildungspolitik, einer falschen Prämissen folgenden Pädagogik. Es gibt eine immer stärker um sich greifende Verweigerung, einer verantwortungsbewussten Erziehung gerecht zu werden.
  Das Grundgesetz bildet die Grundlage unserer Demokratie. Diese zu beseelen und lebendig in ihrem Bedeutungsgehalt zum Klingen zu bringen, ist primär die Aufgabe bürgerlichen Engagements im freien, unbehinderten und unzensierten Meinungsaustausch in Wort, Bild und Schrift. Eine Zensur hat hier keinen Platz. Insofern ist jeder Bürger Bedeutungsgeber in Sachen Demokratie. Dazu ist die Meinungsfreiheit unentbehrlich, sie einzuschränken oder gar aufzuheben ist niemandem gestattet, selbst dann, wenn die Äusserungen einen schädlichen bzw. gedanklich «gefährlichen» Inhalt aufweisen. Hierzu noch einmal das Bundesverfassungsgericht von 2009:

«Die Absicht, Äusserungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, hebt das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf und ist illegitim.»

Die politische «Unkultur» in Deutschland

Sehen wir uns aber die politische «Kultur» in Deutschland an, so erkennen wir seit langem einen immer schärfer werdenden Prozess, der mehr und mehr Denkverbote als eindeutigen Anzeiger einer politisch verordneten Zensur hervorbringt. Diese sollen dann Eingang ins Strafgesetzbuch finden bzw. haben das bereits getan. Sind es nicht Denkverbotsindikatoren, wenn scharf abwertend und mit Sanktionen drohend – auch von staatlicher Seite – von Querdenkern, Klimaleugnern, Homophoben, Putinverstehern, Rechtsextremen, LGBTQ+-Kritikern, Fremdenfeinden, Patrioten, Vaterlandsliebenden, Delegitimierern u.v.m. gesprochen wird. Und der öffentlich-rechtliche Rundfunk betreibt aufs schärfste diese Staatspropaganda mit. Ja, selbst eine Partei, der bisher gerichtlich keine Demokratiefeindlichkeit nachgewiesen werden konnte und die nicht verboten ist, wird von Staatsvertretern und den Medien zur Stigmatisierung benutzt, um unliebsame Meinungen zu mobben und auszugrenzen. Wer kennt es nicht, dass bei einer so scharfen politischen Praxis die Schere im Kopf einsetzt, denn die praktizierte Ausgrenzung droht unausweichlich allen.
  Hinter den vielen unterschiedlichen Meinungen stehen aber jeweils Menschen. Ihnen das Beteiligungsrecht am öffentlichen Diskurs abzusprechen, sie zu mobben und auszugrenzen, ihnen womöglich die Existenzgrundlage zu entziehen, widerspricht jeglicher demokratischen Gepflogenheit und ist zutiefst antidemokratisch und totalitär. Diese Praxis hat einschüchternde Wirkung auf ähnlich Denkende. Und das ist beabsichtigt. Wenn dazu noch der Volksverhetzungsparagraph (§ 130 Strafgesetzbuch) durch rechtlich unklare Begriffe ins nahezu Beliebige ausgestaltet wird und der Paragraph § 140 Strafgesetzbuch, der die Verherrlichung einer Straftat verbietet, selbst auf Meinungsäusserungen angewandt wird, dann haben wir uns schon auf eine erzwungene Meinungseinfalt festgelegt.
  Wenn dann noch die Innenministerin ihren Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst mit einer Beweislastumkehr im Beamtenrecht droht, dann haben wir den Schritt hin auf einen Gesinnungsstaat mit eindeutigen Denkvorschriften bereits beschritten. Mündige Bürger und kritische Beamte sind unerwünscht. Mündige Bürger sollen mundtot gemacht und kritische Beamte aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden.

Beweislastumkehr

Im Bundesland Berlin ist das bereits seit dem 20. Juni 20202 gängige Praxis. Hier muss jeder Bedienstete des Landes, der z. B. eines Rassismusvorwurfs oder anderer Vorwürfe beschuldigt wird, den Beweis erbringen, dass er sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Nicht der Kläger hat den Beweis zu erbringen, sondern der Beschuldigte. Können Sie sich vorstellen, was das für Polizeibeamte, Lehrer und Verwaltungsangestellte bedeutet? Eine Beweislastumkehr, die jegliche Gerichtspraxis auf den Kopf stellt, bindet die öffentlich Bediensteten zurück und schränkt geradezu ihre notwendige amtliche Bewegungsfreiheit in der Ausübung ihrer amtlichen Tätigkeit ein. Man denke an die Bereitschaftspolizisten in der Silvesternacht 2022/23 in Berlin. So eine Beweislastumkehr bleibt nicht ohne Wirkung. War das die Absicht?

Divide et impera durch extreme Polarisierung

Man stellt sich unwillkürlich die Frage: Wozu das Ganze? Nachdem man es geschafft hat, durch massive Polarisierung in nahezu allen gesellschaftspolitischen Themen die Diskutanten in unüberbrückbare Lager zu spalten, als wenn es zwischen Schwarz und Weiss keine Farben und Schattierungen mehr gäbe, nachdem man mit Hilfe des Netzdurchwirkungsgesetzes versucht hat, «fake news» und «hatespeach» aus allen Medien zu eliminieren, nachdem man die oben genannten Massnahmen ergriffen hat, gibt es scheinbar keine Rechtssicherheit mehr für unbescholtene Bürger. Artikel 5 GG scheint ausgehebelt. Wenn freie Meinungsäusserung als «Delegitimation» von Politik und Regierung betrachtet und der Verfassungsschutz aktiviert wird, dann hat sich etwas Grundlegendes im Staatsverständnis verändert.
  Ob die Meinungsäusserungen noch unter Art. 5 GG fallen, wird grundsätzlich von einem Gericht entschieden, gerade weil der Meinungsfreiheit eine so grosse Bedeutung zukommt. Nun ist man aber seit langem dazu übergegangen, in solchen Fällen die Gerichte nicht mehr anzurufen. Statt dessen wurden Etiketten wie «fake news» und «hatespeach» erfunden, die wie ein gerichtliches Verbot gehandhabt werden. Ein eklatanter Rechtsmissbrauch! Nicht mehr Gerichte, sondern Algorithmen von Techkonzernen übernehmen diese «Funktion». Sie «reinigen» das Netz und massen sich richterliche Kompetenzen an. Stärker und gefährlicher kann der deutsche Rechtsstaat nicht gefährdet werden und damit die freiheitliche Demokratie. Hiess es früher nicht, das Netz sei ein rechtsfreier Raum, die Techkonzerne könnten da nicht eingreifen? Heute demonstrieren sie unumwunden, wer die «Herren» des Netzes sind.

Der Ton wird schärfer

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2009 vertrauen die Richter noch mit Recht auf den freien Bürger bei der praktischen Aufrechterhaltung der Demokratie. In der politischen Praxis der deutschen Bundesregierung aber scheinen heute die politischen Entscheidungsträger Angst vor dem Souverän – dem mündigen Bürger – bekommen zu haben. Dann sollten sich die souveränen Bürger noch entschiedener zu Wort melden!
  Das Grundgesetz hat sich seit 2009 nicht geändert. Wenn Verfassungsrichter in Zeiten von Polarisierung und «Cancel Culture» zu anderen Ergebnissen gelangen, so sind sie gehalten, diese noch einmal mit dem Grundgesetz und den Darlegungen ihrer Amtskollegen aus dem Jahre 2009 abzugleichen. Wer die Meinungsäusserung behindert oder gar gravierend unterbindet, hat Hand angelegt an die demokratische Verfasstheit unseres Staates und zerstört dieselbe. Der Ton wird schärfer und in seiner Schärfe totalitärer. Und dann?  •



1 Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Ersten Senats vom 4. November 2009 – 1 BvR 2150/08 – Rn. (1-110), online unter: bverfg.de/e/rs20091104_1bvr215008.html
2 Nachzulesen im Landesantidiskriminierungsgesetz des Bundeslandes Berlin, im Senat beschlossen am 11. Juni 2020, verkündet am 20. Juni 2020 im Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin.

 

 

«Der Historiker Hannes -Hofbauer geht in die Geschichte zurück, um die aktuellen Verbotspraktiken besser verstehen zu können. Moderne Zensur beginnt mit der Erfindung des Buchdrucks zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Bis ins 18. Jahrhundert gehen die Träger der verordneten Wahrheit Schritt für Schritt von der Kirche auf den Staat über. Im 20. Jahrhundert wechseln Phasen der Meinungsfreiheit mit der Unterdrückung des freien Wortes ab.» (Klappentext)

Ex-Brigadegeneral Vad zum Ukraine-Krieg und zur Gleichschaltung der Medien in Deutschland

ew. Am 12. Januar 2023 veröffentlichte die von Alice Schwarzer herausgegebene Zeitschrift Emma ein Interview mit dem Ex-Brigadegeneral Erich Vad. Dieser war von 2006 bis 2013 militärpolitischer Berater der Bundesregierung. Vad hat sich früh gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Im Interview bemängelt er den fehlenden militärpolitischen Sachverstand in Deutschland, und vor allem weist er auf die mediale Zensur hin, wenn es um den Ausschluss militärischer Fachleute im öffentlichen Diskurs geht:
  «Militärische Fachleute – die wissen, was unter den Geheimdiensten läuft, wie es vor Ort aussieht und was Krieg wirklich bedeutet – werden weitestgehend aus dem Diskurs ausgeschlossen. Sie passen nicht zur medialen Meinungsbildung. Wir erleben weitgehend eine Gleichschaltung der Medien, wie ich sie so in der Bundesrepublik noch nie erlebt habe. Das ist pure Meinungsmache. Und zwar nicht im staatlichen Auftrag, wie es aus totalitären Regimen bekannt ist, sondern aus reiner Selbstermächtigung.»

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