Beginnen möchte ich mit einem Satz von Jacques Delors, der gesagt hat, wir müssen in Europa Wege entlang der geistigen Basis gehen, damit es überlebt: «Wir müssen Europa wieder eine Seele geben.» Daher fange ich schlicht in Gottes Namen an, denn wir befinden uns derzeit in einem verwirrenden Pluralismus der Meinungen, gepaart mit der Meinungsdiktatur der Herrschenden.
Der deutsche Philosoph Norbert Bolz hat das so formuliert: «Unsere grossen Probleme resultieren nicht aus einem Mangel an Wissen, sondern an Orientierung. Wir sind konfus, nicht aber ignorant.»
Wenn wir uns dem Problem annähern, müssen wir einen Drei-Schritt machen, vom Orientierungswissen über das Zielwissen zum Handlungswissen. Was das Orientierungswissen für die Neugestaltung des Hauses Europa betrifft, so denke ich, dass die Humanbiologie uns wesentliche Hinweise gibt. Der Nobelpreisträger Sir John C. Eccles und der Schweizer Biologe Hans Zeier haben in ihrem Buch «Gehirn und Geist – Biologische Erkenntnisse über Vorgeschichte, Wesen und Zukunft der Menschen» schlüssig dargelegt, dass wir auf kleine überschaubare Einheiten ausgelegt sind. Der Philosoph und Ökonom Leopold Kohr hat dies in die Forderung gebracht, gesellschaftliche Strukturen nach dem Mass des Menschen zu schaffen.
Die Geschichte zeigt auch, dass alle Grossreiche, trotz perfekter militärischer Gestaltung, an der Bürgerferne zerbrochen sind.
Was ergibt sich daher als Zielwissen? Es ist die intelligente Dezentralisierung und Vernetzung statt dem Wegsparen der kleinen Einheiten, wie dies derzeit geschieht. Ich denke hier an das Wegsparen von Eisenbahnen, Schulen, Polizeistationen, Bankfilialen usw. Eccles und Zeier haben dies wie folgt kurz formuliert: Verzicht auf eine nur kurzfristig effiziente weitere Entflechtung der Funktionen in Landwirtschaft und Industrie sowie Wiederherstellung dezentralisierter, funktionell verflochtener, sozial befriedigender Kleingesellschaften mit überschaubaren Machtstrukturen und Kommunikationsnetzen. Erhaltung statt Zerstörung lokaler Kulturen.
Ich habe in meinem Buch «Empörung in Europa» die künftige Rolle Europas in Analogie zur Rolle der alten Griechen vorgeschlagen, nämlich ein Aufstehen für Europa als Licht der Welt, föderal, vielfältig, rechtsstaatlich, tolerant, solidarisch, gebildet sowie vor allem die Würde der Person achtend und die Menschenrechte verwirklichend.
Vor allem muss Europa zu seinem inneren Kompass, zu seinen christlich-griechisch-jüdisch-lateinischen Wurzeln zurückfinden. Die tonangebenden Eliten haben sogar verhindert, dass ein Hinweis auf die christlichen Wurzeln Europas in die Präambel der Verträge über die Europäische Union und ihre Arbeitsweise aufgenommen wurde.
Wo aber werden die Eliten ihre Wertordnungen anbinden? An die wechselnden manipulierten Meinungen? Ich habe immer gesagt, wenn die Moral von der Meinung der grossen Zahl abhängt, dann ist der effizienteste Räuber das Ideal in einer Räuberbande.
Wir müssen noch etwas bedenken: Europa ist mit seiner in der Welt einmaligen Ausgestaltung seiner Rechtssysteme und seiner Sozialordnungen internationales Vorbild. Dies bewirkt auch einen Zuzug von Migranten, die aber den Gesellschaftsvertrag nicht mehr mittragen.
Die europäische Gesellschafts- und Rechtsordnung ist in Wirklichkeit säkularisiertes Christentum, das haben wir vergessen. Wir landen daher in der gegenwärtigen Orientierungslosigkeit, in der wir wechselnd irgendwelche europäischen Werte propagieren.
Welche Handlungsmaximen ergeben sich nun aus dem Orientierungs- und Zielwissen? Statt in Grossmannssucht in Waffen und Interventionen zu investieren, sollten wir die dezentralen Infrastrukturen erhalten und weiter ausbauen. Die Geldschöpfung sollte wieder in die nationalen Hände übertragen werden, denn die Währung ist quasi der Massanzug für die jeweilige Volkswirtschaft. Statt die vier Freiheiten (Kapital, Waren, Dienstleistungen, Personen) über die unterschiedlichen Volkswirtschaften zu stülpen, sollten wir uns der Harmonisierung der Rechtsordnungen und der Sozialsysteme widmen. Die Rechtsordnungen sollten bürgernah vereinfacht werden und die drei Maximen erkennbar, erfüllbar, erzwingbar erfüllen. Vor allem sollte die Hereinnahme von angloamerikanischen Sonderrechtsordnungen, die einerseits kaum lesbar sind und viele Unsicherheiten enthalten, verhindert werden.
Ich halte Ihnen jetzt die konsolidierten europäischen Verträge hin. Das sind 403 Seiten, die jetzt schon mehr geworden sind. Sie sind für die normalen Staatsbürger kaum lesbar, X Verweisungen hin und her erschweren die Lektüre. Das heisst, wir haben eine unverständliche Rechtsordnung. Wenn wir nun Dinge wie das CETA-Abkommen hernehmen, das über 600 Seiten hat, dann nehmen wir wieder eine übergestülpte Sonderrechtsordnung mit herein, die die rechtliche Unsicherheit fördert. Das heisst, wir brauchen wieder eine vereinfachte, klare Rechtssituation.
Was den internationalen Handel betrifft, so müssen wir das Bestimmungslandprinzip einfordern. Das bedeutet, du hast nur freien Marktzutritt, wenn du nachweisen kannst, dass die Herstellung deines Produktes, deiner Leistung unter Beachtung vergleichbarer ökologischer und sozialer Standards wie im Bestimmungsland erstellt wurde. Das ist machbar und kontrollierbar. Als Österreich noch nicht in der EU war, hat man seitens dieser alles kontrolliert bis zu den kleinen Fleischhauereien und Molkereien und hat sie zugesperrt, und wir haben das stillschweigend hingenommen. Wenn wir solches aber international fordern, wird sofort gesagt, das sei gegen die Souveränität.
Was die Landwirtschaft betrifft, so sollten wir endlich auf die Vorschläge des IAASTD von 2008 zurückkommen, die Vorschläge «Landwirtschaft am Scheideweg». Diese besagen, dass die zukünftige Ernährungssicherung auf einer kleinräumigen, am Standort orientierten, eher gärtnerischen Landbewirtschaftung beruhen muss – und auf angepasste Strukturen in Verarbeitung und Vermarktung.
Aber ich denke, dass wir vor allem bei unserer Jugend ansetzen müssen. Unsere Kinder müssen wieder stolz auf ihre europäische Heimat werden, auf ihre Philosophen, Staatslehrer, ihre polyphone Musik, ihre Dichter, die Naturwissenschaftler und Techniker sowie nicht zuletzt, wie ich schon erwähnt habe, die rechtsstaatlich demokratische Gesellschaftsgestaltung. Wenn wir das nicht tun, sondern in den Schulen lediglich «Kompetenzen» vermitteln, heisst das, sie zu braven Industriesoldaten auszubilden und sie in den vorgegebenen Konkurrenzkampf hineinzustellen. Ein Student hat mir hierzu gesagt: «Herr Professor, uns ist das klar, wir werden zu Gladiatoren erzogen. Der beste Gladiator überlebt, aber die anderen überleben nicht.» Das heisst, wir müssen hier grundsätzlich neu denken.
Nun komme ich noch zur Geopolitik: Ich glaube, und das ist durch die ganze Konferenz durchgeklungen: Wir müssen uns vom Vasallentum, vom Noch-Hegemon und von seinen Adepten verabschieden und eine eigene Aussenpolitik gestalten, hin zu einer Politik der Achtung des Völkerrechts und der ausgewogenen Non-Alliance, wie es heute schon betont wurde. Damit können wir auch eine neutrale Vermittlerrolle einnehmen.
Das bedeutet, dass wir im gegenwärtigen Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland in der Ukraine jenen Vorschlägen, die Professor Hans Köchler im Rahmen der International Progress Organization IPO und auch ich beharrlich gemacht haben, zum Durchbruch verhelfen: nämlich die Bündnisfreiheit gegenüber Ost und West, d. h. Non-Alliance, immerwährende Neutralität, föderale Struktur und Anerkennung der Volksabstimmung auf der Krim sowie bei Misstrauen ihre Wiederholung. Die Volksabstimmung auf der Krim war mindestens so legitim und gut – wenn nicht besser – als die im Kosovo, diese aber wurde sofort anerkannt, weil sie im «westlichen Interesse» war.
Ich möchte noch etwas hinzufügen. Der Noch-Hegemon USA, das haben wir gestern von Scott Ritter vor Augen geführt bekommen, ist im Todeskampf, und die Umarmung durch einen Untergehenden ist die gefährlichste. Daher ist es ein Gebot der Stunde, sich von dieser zu lösen.
Ich möchte zusammenfassen: Wir brauchen ein Europa der Vielfalt der Vaterländer, wie es Charles de Gaulle gefordert hat – eine «Verschweizerung» der EU. Der ehemalige Auslandskorrespondent der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», Karl Peter Schwarz, hat das so formuliert: «Denn die Schweiz hat gezeigt, wie eine Vielfalt von Sprachen und Religionen in einem Grund zusammenklingen können.»
Daher soll Ihr beharrliches Rupfen in «Mut zur Ethik» nicht enden. Wenn das Untergangsszenario von William Scott Ritter tatsächlich eintreten sollte, dann ist der dezentrale Schweizer Weg der Überlebensweg. Ich habe das selbst am Ende des Zweiten Weltkrieges als Kind erlebt. Im Osten war alles zerstört, und wir haben von unten her, von den kleinen Einheiten her, wieder den Staat aufgebaut und von oben die Unterstützung bekommen. Ich glaube, mit diesem Schluss, dass wir ein Europa der Dezentralisierung brauchen und ein Europa, das wieder zu seinen christlichen Wurzeln, zur Orientierung gebenden Wertordnung, zurückkehrt. •
* Vortrag bei der Jahreskonferenz der Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik» («Europa – welche Zukunft wollen wir?») vom 2.–4. September 2022
zf. Heinrich Wohlmeyer wurde von Bauern aufgenommen, nachdem der Vater vor dem Abtransport ins Konzentrationslager gestorben, sein Elternhaus durch Bomben zerstört und die Mutter krank geworden war. Er ging «auf eigene Faust» ins Gymnasium, hat Rechtswissenschaften, Internationales Wirtschaftsrecht in den USA und England sowie an der Universität für Bodenkunde Wien Landwirtschaft und Lebensmitteltechnologie studiert. Wieder in Österreich stellte er sich als Regionalentwickler und Industriemanager für das Waldviertel zur Verfügung und wurde Direktor der Österreichischen Agrarindustrie. Nachdem er sich «auseinandergeredet» hatte, ging er an die Universität und lehrte Ressourcenökonomie und Umweltmanagement. Bei all diesen Aktivitäten wurde ihm bewusst, dass die Radnaben der nicht nachhaltigen Entwicklung die Handels- und die Finanzpolitik sind, die die regionalen Wirtschaftskreisläufe unterlaufen. «Wir brauchen regionale Lösungen für einen bestmöglichen regionalen Wohlstand», sagt er.
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