Die multipolare Welt muss menschlicher werden

von Karl-Jürgen Müller

Wie kann man das aushalten? Krieg und Zerstörung nun wieder auch im Nahen Osten! Hunderttausende Tote schon jetzt im Ukraine-Krieg! Der Exodus von zigtausend Armeniern aus Berg Karabach! Und dann noch das Leiden der Menschen, über die fast niemand mehr spricht. Im Osten der Demokratischen Republik Kongo! In Syrien! In Afghanistan! … Welches Land kann man eigentlich nicht nennen, wenn von Unrecht und dessen Folgen die Rede ist?
  Man kann es nur aushalten, wenn man dazu beiträgt, das Zusammenleben in dieser Welt besser zu gestalten – damit sie menschlicher wird. Und denjenigen, die sich um eine solche Welt bemühen, erst einmal zuhört. Sind es ernsthafte, vernünftige, menschenwürdige, unterstützenswerte Überlegungen für viele kleine Schritte bergauf?
  Dies zu tun, ist keine Selbstverständlichkeit. Und geht nicht ohne Mut. Mächtige, einflussreiche Kräfte haben bislang vom Unrecht und von fehlender Gleichberechtigung «profitiert» – in Anführungszeichen; denn es ist ein widernatürliches «Profitieren», man könnte auch sagen: krank; es widerspricht der Sozialnatur des Menschen, dem Überlebensimperativ des Mitgefühls, des Gemeinschaftsgefühls.

Eine Weltanschauung und viele Phrasen

Es ist keine Überraschung, dass die Profiteure scharf schiessen, wenn sie ihre «Profite» bedroht sehen. Sie wollen nicht, dass die Welt anders gestaltet wird als in ihrem Sinne. Und wenn man genauer hinschaut, geht die zugrundeliegende Weltanschauung von einem ewigen Oben und Unten zwischen den Menschen aus: Das Leben als Kampf um Macht und Geld, bei dem es nur Gewinner (oben) und Verlierer (unten) gibt …
  Die Profiteure sagen das nicht offen. Sie schieben hohe «Werte» vor: Bei uns im Westen «Demokratie» zum Beispiel. In den vergangenen Jahren haben sie sich darauf geeinigt, von einer «regelbasierten internationalen Ordnung» (riO) zu sprechen. Sie haben die Regeln selbst definiert. Diejenigen, die eine andere Welt wollen, werden an den Pranger gestellt. Sie sollen «autokratisch» und «aggressiv» sein, eine Gefahr für den «Frieden» und für die «Demokratie», eine Gefahr für die riO. Sie werden verteufelt. Fast jeden Tag. Kontaktsperre in jeder Hinsicht ist das Ziel. Die Propagandawelle läuft auf vollen Touren. Viele Medien haben sich ganz in den Dienst der Profiteure der riO gestellt.

Warum nicht auch dem anderen zuhören

Aber warum soll es falsch sein, auch die andere Seite zu hören? Könnte es nicht sein, dass zum Beispiel der bei uns verteufelte russische Präsident Wladimir Putin ganz vernünftige Dinge sagt, Aussagen macht, die bei der Arbeit an einer menschlicheren Welt behilflich sein können?
  Ich selbst versuche, möglichst viel von dem im Original zu lesen, was zum Beispiel Wladimir Putin sagt. Jetzt habe ich seine Rede auf der alljährlich stattfindenden Konferenz des Valdai-Clubs, des Internationalen Valdai-Forums, gelesen, die Anfang Oktober in Sotschi am Schwarzen Meer stattgefunden hat. Eine autorisierte englischsprachige Version findet man auf der Internetseite des russischen Präsidenten1, Thomas Röper vom Anti-Spiegel hat die Rede ins Deutsche übersetzt2.

Wladimir Putin spricht von
 einer «Epoche des Umbruchs»

Eingangs spricht Wladimir Putin von einer «Epoche des Umbruchs der gesamten Weltordnung» und fordert «grundlegende Veränderungen in den Prinzipien der internationalen Beziehungen». Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hätten alle gehofft, «dass die Nationen und Völker die Lehren aus der kostspieligen, zerstörerischen militärisch-ideologischen Konfrontation des letzten Jahrhunderts gezogen hätten, dass sie deren Schädlichkeit erkannt hätten, dass sie die Zerbrechlichkeit und Vernetzung unseres Planeten gespürt hätten und dass sie davon überzeugt seien, dass die globalen Probleme der Menschheit gemeinsames Handeln und die Suche nach kollektiven Lösungen erfordern». Aber leider sei die «Bereitschaft [Russlands] zur konstruktiven Zusammenarbeit von einigen als Unterwerfung verstanden worden, als Zustimmung dazu, dass die neue Ordnung von denen aufgebaut wird, die sich selbst zu den Siegern des Kalten Krieges erklärt haben, im Grunde wurde es als Anerkennung dafür verstanden, dass Russland bereit sei, einem fremden Weg zu folgen, bereit, sich nicht von seinen eigenen nationalen Interessen, sondern von den Interessen anderer leiten zu lassen.»
  Erneut erläutert der russische Präsident seine Kritik an der Politik des Westens, so wie er es seit seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 20073 immer wieder und immer deutlicher und pointierter getan hat, seit dem 24. Februar 2022 auch mit Blick auf die Folgen der westlichen Politik für den Globalen Süden.
  Noch einmal erklärt er, warum Russland am 24. Februar 2022 militärisch in der Ukraine interveniert hat. Und er fügt hinzu: «Die Krise in der Ukraine ist kein Konflikt um Gebiete, das möchte ich betonen. Russland ist das grösste Land der Welt. Wir haben keinerlei Interesse an der Eroberung weiterer Gebiete. Wir müssen noch Sibirien, Ostsibirien und den Fernen Osten erschliessen. Hier geht es nicht um einen Konflikt um Gebiete oder auch nur um die Herstellung eines regionalen geopolitischen Gleichgewichts. Das Thema ist viel umfassender und grundlegender: Es geht um die Grundsätze, auf denen die neue Weltordnung beruhen wird.»

Ein dauerhafter Frieden

Er ergänzt: «Ein dauerhafter Frieden wird nur dann entstehen, wenn sich jeder sicher fühlt, wenn er weiss, dass seine Meinung respektiert wird, und wenn es ein Gleichgewicht in der Welt gibt, wenn kein Hegemon in der Lage ist, andere zu zwingen, so zu leben und sich so zu verhalten, wie er es will, egal, ob es der Souveränität, den wahren Interessen, den Traditionen und den Prinzipien der Völker und Staaten widerspricht.»
  Und sagt auch: «Es liegt auf der Hand, dass das Festhalten an Konzepten von Blöcken, der Wunsch, die Welt in eine Situation ständiger Konfrontation zwischen ‹uns und denen› zu treiben, ein bösartiges Erbe des 20. Jahrhunderts ist. Es ist ein Produkt der westlichen politischen Kultur, zumindest ihrer aggressivsten Ausprägungen. Ich wiederhole: Der Westen – ein bestimmter Teil des Westens, die westlichen Eliten – braucht immer einen Feind. Er braucht einen Feind, mit dem er die Notwendigkeit seines energischen Vorgehens und seiner Expansion erklären kann. Aber er braucht auch einen Feind, um die Kontrolle innerhalb des Systems des Hegemons, innerhalb von Blöcken – innerhalb der Nato oder anderer militärpolitischer Blöcke – aufrechtzuerhalten. Wenn es einen Feind gibt, müssen sich alle um den Chef scharen.»
  Das habe im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zum Gleichen geführt: «zu grossen Kriegen, für deren Rechtfertigung verschiedene ideologische und sogar pseudomoralische Begründungen erfunden wurden.» Heute, wo die vorhandenen Waffensysteme die ganze Welt zerstören können, sei dies besonders gefährlich. Man müsse deshalb nach einem Ausweg aus diesem Teufelskreis suchen. Dies sei auch eine Aufgabe des Internationalen Valdai-Forums.

Viele verschiedene Zivilisationen
 in einer zusammenhängenden Welt

Im zweiten Teil seiner Rede greift Putin den Begriff der Zivilisation auf. Er lehnt die Gleichsetzung von Zivilisation und Westen ab, die allein den Westen zum Massstab macht, und formuliert statt dessen: «Erstens gibt es viele Zivilisationen, und keine von ihnen ist besser oder schlechter als eine andere. Sie sind gleichberechtigte Ausdrucksformen der Bestrebungen ihrer Kulturen und Traditionen, ihrer Völker. Für jeden von uns ist das etwas anderes. Für mich zum Beispiel sind es die Bestrebungen unseres Volkes, meines Volkes, dem ich das Glück habe, anzugehören.»
  Und er fügt hinzu: «Die Haupteigenschaften einer staatlichen Zivilisation sind Vielfalt und Selbstgenügsamkeit. Das sind meiner Meinung nach die beiden wichtigsten Komponenten. Der modernen Welt ist jede Vereinheitlichung fremd; jeder Staat und jede Gesellschaft will ihren eigenen Weg der Entwicklung finden. Er beruht auf der Kultur und den Traditionen, die durch die Geographie, die historische Erfahrung, sowohl die alte als auch die moderne, und die Werte der Völker gestärkt werden. Es handelt sich um eine komplexe Synthese, in deren Verlauf eine unverwechselbare zivilisatorische Gemeinschaft entsteht. Ihre Heterogenität und Vielfalt ist die Garantie für Nachhaltigkeit und Entwicklung.»
  Er sei überzeugt, «dass sich die Menschheit nicht auf eine Zersplitterung in konkurrierende Segmente zubewegt, nicht auf eine neue Konfrontation der Blöcke, was auch immer ihre Motivation sein mag, nicht auf den seelenlosen Universalismus einer neuen Globalisierung, sondern im Gegenteil, dass die Welt auf dem Weg zu einer Synergie von Staaten-Zivilisationen ist, zu grossen Räumen und Gemeinschaften, die sich auch als solche empfinden».
  Viele im Westen, so Putin weiter, scheinen aber «vergessen zu haben, dass es solche Begriffe wie vernünftige Selbstbeschränkung, Kompromiss, Bereitschaft zu Zugeständnissen im Interesse eines für alle akzeptablen Ergebnisses gibt».

Sechs Ziele russischer Politik

Am Ende seiner Rede fasst Wladimir Putin die Ziele der russischen Politik in sechs Punkten zusammen:
  «Erstens: Wir wollen in einer offenen, vernetzten Welt leben, in der niemand jemals versuchen wird, künstliche Barrieren für die Kommunikation, die kreative Verwirklichung und den Wohlstand der Menschen zu errichten. Es muss ein barrierefreies Umfeld geben, das muss man anstreben.
  Zweitens: Wir wollen, dass die Vielfalt der Welt nicht nur bewahrt wird, sondern die Grundlage für eine universelle Entwicklung ist. Es muss verboten sein, irgendeinem Land oder Volk vorzuschreiben, wie es zu leben und zu fühlen hat. Nur eine echte kulturelle und zivilisatorische Vielfalt sichert das Wohl der Menschen und einen Interessenausgleich.
  Drittens: Wir sind für eine maximale Repräsentativität. Niemand hat das Recht, niemand darf die Welt für andere oder im Namen anderer regieren. Die Welt der Zukunft ist eine Welt der kollektiven Entscheidungen, die auf den Ebenen getroffen werden, auf denen sie am effektivsten sind, und von den Teilnehmern, die wirklich in der Lage sind, einen wesentlichen Beitrag zur Lösung eines bestimmten Problems zu leisten. Nicht einer entscheidet für alle, und auch nicht alle entscheiden über alles, sondern diejenigen, die von einem Problem direkt betroffen sind, einigen sich darauf, was zu tun ist und wie es getan werden soll.
  Viertens: Wir sind für universelle Sicherheit und dauerhaften Frieden, der auf der Achtung der Interessen aller beruht: von den grossen Staaten bis zu den kleinen Ländern. Es geht vor allem darum, die internationalen Beziehungen vom Blockdenken zu befreien, vom Erbe der Kolonialzeit und des Kalten Krieges. Seit Jahrzehnten sprechen wir von der Unteilbarkeit der Sicherheit, davon, dass es unmöglich ist, die Sicherheit der einen auf Kosten der Sicherheit der anderen zu gewährleisten. In der Tat ist Harmonie in diesem Bereich erreichbar. Wir müssen nur Hybris und Arroganz ablegen und aufhören, andere als Partner zweiter Klasse oder als Ausgestossene oder Wilde zu betrachten.
  Fünftens: Wir sind für Gerechtigkeit für alle. Die Ära der Ausbeutung von wem auch immer […] ist vorbei. Die Länder und Völker sind sich ihrer Interessen und Fähigkeiten klar bewusst und bereit, auf sich selbst zu vertrauen – und das vervielfältigt ihre Kräfte. Jeder sollte Zugang zu den Vorteilen der modernen Entwicklung haben, und Versuche, das für ein Land oder ein Volk einzuschränken, sollten als ein Akt der Aggression angesehen werden, genau so.
  Sechstens: Wir sind für Gleichheit, für die unterschiedlichen Potentiale der verschiedenen Länder. Das ist ein absolut objektiver Faktor. Aber nicht weniger objektiv ist die Tatsache, dass niemand bereit ist, sich zu unterwerfen, seine Interessen und Bedürfnisse von wem auch immer abhängig zu machen, und vor allem von den reicheren und stärkeren.»
  Und er fügt an: «Das ist nicht nur der natürliche Zustand der internationalen Gemeinschaft, das ist die Quintessenz der gesamten historischen Erfahrung der Menschheit.»
  Kann es schaden, über all das gründlich nachzudenken?  •



1 http://en.kremlin.ru/events/president/news/72444 vom 5.10.2023
2 https://www.anti-spiegel.ru/2023/putins-grundsatzrede-ueber-eine-neue-weltordnung/ vom 5.10.2023
3 http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Sicherheitskonferenz/2007-putin-dt.html

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