Afghanistan – völkerrechtswidrige Sanktionen strangulieren das bitterarme Land

von Winfried Pogorzelski

Der 15. August ist in Afghanistan ein Feiertag. An diesem Tag des Jahres 2021 verliessen die Nato-Truppen nach 20 Jahren Unterstützung einer vom Westen installierten korrupten Regierung das Land und überliessen die Macht den Taliban, die es zuvor unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Obwohl Afghanistan reich an Bodenschätzen ist, herrschen weiterhin bittere Armut und eine permanente Hungersnot. Es zeugt von einem Zynismus ohnegleichen, dass noch immer völkerrechtswidrige Sanktionen aufrechterhalten werden, die nach der Machtübernahme der Taliban verhängt wurden und deren Aufhebung Uno-Generalsekretär António Guterres bereits 2022 in einem dringlichen Appell forderte. Die anhaltende Dürre verschärft zusätzlich die Situation. Wegen nachlassender Spenden rationiert die Uno die Hilfslieferungen und ruft mit Nachdruck zur Verstärkung der Unterstützung auf.

Sanktionen
 auf dem Rücken der Schwächsten

In der Sendung «International» des Schweizer Radios wurde letztes Frühjahr berichtet, dass der afghanische Aussenminister Amir Khan Muttaqi die Welt mit Nachdruck dazu aufrufe, die Taliban-Regierung anzuerkennen und die lähmenden US-Sanktionen aufzuheben. Die Sicherheitslage habe sich seit der Machtübernahme der Taliban signifikant verbessert; die Sanktionen gegenüber dem vom Krieg gezeichneten Land aufrechtzuerhalten sei durch nichts zu rechtfertigen. Prompt handelte er sich damit von der Autorin der Reportage den Vorwurf ein, er habe die massive Unterdrückung der Frauen als den Hauptgrund für die Sanktionen verschwiegen. Welch ein Zynismus, welche Heuchelei auf dem Rücken derer, die man zu befreien vorgibt! Denn das Motiv der USA beim Einmarsch in Afghanistan war sicher nicht das Wohlergehen der Frauen, sondern die knallharte Verfolgung geostrategischer Interessen.
  Das verdeutlichen auch folgende Tatsachen: Von den USA und vielen westlichen Ländern wurde die afghanische Regierung kurzerhand zu einer Terrororganisation erklärt, womit bis heute gerechtfertigt wird, dass 7,1 Mia. US-Dollar aus dem Besitz der Afghanischen Zentralbank bei der Federal Reserve Bank of New York mit der fadenscheinigen Begründung eingefroren sind, man wolle amerikanische Opfer des Terrorismus (z.B. der 9/11-Terroranschläge) entschädigen und Afghanistan später einmal beim Wiederaufbau unterstützen. Die Folgen all dieser Massnahmen sind katastrophal, gerade auch für diejenigen, denen man zu helfen vorgibt: Vor allem Frauen leiden unter Mangelernährung und geringer Geburtenrate, die Zahl der Fehlgeburten ist hoch, die Kindersterblichkeitsrate ebenfalls. Die Aufhebung der Sanktionen könnte hier sofort für Linderung sorgen.

Uno-Generalsekretär António Guterres’
Appell verhallte ungehört

Ein halbes Jahr nach dem Ende des Militäreinsatzes der USA und deren Verbündeter, am 26. Januar 2022, wendete sich António Guterres angesichts der katastrophalen Zustände im Land mit bewegenden Worten an die Weltöffentlichkeit (siehe Kasten). Bauern, Lehrer, Polizisten, Beschäftigte im Gesundheitswesen und in der Verwaltung bekommen kein Gehalt, weil sie zuvor von der internationalen Gemeinschaft finanziert wurden. Kein Wunder, dass Banken-, Gesundheits- und Bildungssystem sowie die Verwaltung zusammengebrochen sind. 28,8 Millionen Menschen benötigen ständig humanitäre Hilfe, fast die ganze Bevölkerung lebt in Armut; betroffen sind vor allem Frauen und Mädchen. Die in Brüssel ansässige Organisation International Crisis Group (ICG) fordert die Geldgeberländer nachdrücklich auf, Verhandlungen mit den Afghanen aufzunehmen. Der Krieg sei vorbei, und so würde das Geld zu den Einrichtungen und zu den Betroffenen gelangen, die es dringend benötigen. Dem widersprechen die USA, die an der Unabhängigkeit der afghanischen Zentralbank zweifeln. Sie sei möglicherweise in Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung verstrickt … eine unbewiesene Unterstellung und inakzeptable Einmischung in die inneren Angelegenheiten auch hier.

Bittere Armut auf der Erde –
 Reichtum unter der Erde:
 Afghanistans Bodenschätze

Laut Weltbank könnten mit Bodenschätzen wie Erdöl, Kupfer, Lithium, seltenen Erden, Bauxit und anderen namhafte Exporteinnahmen erzielt werden, zumal es sich um Metalle und Mineralien handelt, die für grüne Technologien wie Batterien, Solaranlagen und Windräder weltweit sehr gefragt sind.
  Kein Wunder, dass so manche Rohstofffirmen, Politiker, Ökonomen und Kriegsherren an diesem Reichtum interessiert waren und sind. So sprach das amerikanische Verteidigungsministerium einmal vom «Saudi-Arabien des Lithiums». Präsident Barack Obama plante seinerzeit den Aufbau einer Bergbaubranche; Donald Trump und Berater der damaligen afghanischen Regierung sahen den Bergbau als Win-win-Situation für beide Länder: gut für die afghanische Wirtschaft, Jobs für Amerikaner und Vorteile der USA gegenüber dem Rivalen China. Zum Glück kam es nicht unter westlicher Ägide zur Ausplünderung des Landes …
  Im Gegensatz zu den USA unterhalten China und Russland bis heute ihre diplomatischen Vertretungen im Land und stehen mit den Taliban in Kontakt, die ihrerseits mit den beiden Ländern ins Geschäft zu kommen versuchen.
  Aber die Sache ist kompliziert: Voraussetzungen für die Bergung und Nutzung der Rohstoffe sind über längere Zeit stabile politische Verhältnisse, erfolgreiche Bekämpfung der Korruption sowie eine funktionierende Wirtschaft, die mit der Zeit den Aufbau der erforderlichen Infrastruktur (Technologien, Transportwesen usw.) leisten kann, vielfältiges Know-how und nicht zuletzt auch grosse finanzielle Ressourcen … China hat bereits signalisiert, es warte auf die internationale Anerkennung des Taliban-Regimes.

Offizielle Gespräche
 Afghanistans mit den USA?

Laut einem Artikel von Russia Today haben die Taliban und die USA Kontakt aufgenommen. Ziel könne sein, wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Gegenstand dieser vertrauensbildenden Massnahmen seien die Aufhebung der Sanktionen und die Rückgabe gesperrter Gelder der afghanischen Nationalbank gewesen. Die amerikanischen Vertreter, so heisst es weiter, hätten davon Kenntnis genommen, dass die Inflationsrate gesunken sei und die Warenexporte gestiegen seien. Die Menschenrechtslage hingegen sei weiterhin besorgniserregend. Dies ist sicher kein Grund zum Jubeln, zumal eine gehörige Portion Skepsis angesagt ist, wenn ausgerechnet die USA solche Schritte unternehmen. Dem einzigartigen Land und seiner Bevölkerung ist es dringend zu wünschen, dass bald eine bessere Zukunft beginnt. Der Westen hätte nach Jahrzehnten der Terrorisierung allen Grund, dabei endlich eine konstruktive Rolle zu spielen.  •

Quellen:

Babst, Andreas. «Aus Rebellen sind Bürokraten geworden – die Taliban feiern den zweiten Jahrestag ihrer Machtübernahme», NZZ online vom 15.8.2023, https://www.nzz.ch/international/eindruecke-aus-kabul-zwei-jahre-nach-dem-einzug-der-taliban-ld.1751673

Jessen, Jan. «Afghanen im Stich gelassen – ein moralischer Offenbarungseid», Hamburger Abendblatt online vom 14.8.2023, https://qoshe.com/waz/jan-jessen/afghanen-im-stich-gelassen-ein-moralischer-offenbarungseid/164094646

Hasselbach, Christoph. «Sanktionen behindern Hilfe für Afghanistan», Deutsche Welle online vom 12.1.2022, https://www.dw.com/de/afghanistan-sanktionen-behindern-nothilfe/a-60396786

Hosp, Gerald. «Kupfer, Lithium und Erdöl: Sitzen die Taliban auf einem Schatz von 1000 Dollar?», NZZ online vom 31.8.2021

«Jahrestag des US-Abzugs wird afghanischer Nationalfeiertag», ohne Autor-Angabe, RT DE vom 18.6.2023, https://de.rt.com/asien/172953-jahrestag-us-abzugs-wird-afghanischer/

Peters, Maren. «Frauen in Afghanistan», SRF 2, «International», https://www.srf.ch/audio/international/best-of-frauen-in-afghanistan?id=12418774

«Seit der Machtübernahme in Afghanistan: Erste offizielle Gespräche zwischen Taliban und USA», RT DE, https://de.rt.com/asien/176727-seit-machtuebernahme-in-afghanistan-erste/

Werning, Rainer. «Vermessen, verdrängt, vergessen – Afghanistan zwei Jahre nach der Rückkehr der Taliban», Nachdenkseiten online, https://www.nachdenkseiten.de, 15.8.2023

«USA beschlagnahmen Gelder der afghanischen Zentralbank», Deutsche Welle vom 11.2.2022, https://www.dw.com/de/usa-beschlagnahmen-sieben-milliarden-dollar-von-afghanischer-zentralbank/a-60750427

«Für die Afghanen ist das tägliche Leben zu einer gefrorenen Hölle geworden»

wp. Am 26. Januar 2022, sechs Monate nach der Machtübernahme der Taliban, hielt António Guterres, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, eine Rede vor dem UN-Sicherheitsrat. Mit drastischen Worten schilderte er die extreme Notlage der afghanischen Bevölkerung und richtete einen eindringlichen Appell an die Weltöffentlichkeit: «In diesem Moment brauchen wir die Weltgemeinschaft – und diesen Rat –, um die rettende Hand zu reichen, Ressourcen bereitzustellen und zu verhindern, dass Afghanistan noch weiter in die Abwärtsspirale gerät. […] Zunächst und am dringendsten müssen wir unsere humanitären Massnahmen verstärken, um Leben zu retten. […] Es muss möglich sein, mit internationalen Mitteln die Gehälter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu bezahlen. Von Chirurgen und Krankenschwestern bis hin zu Lehrern, Sanitärarbeitern und Elektrikern – sie alle sind unerlässlich, um das System am Laufen zu halten. Und sie sind entscheidend für die Zukunft Afghanistans. […] Zweitens – und das hängt eng mit dem ersten Punkt zusammen – müssen wir die afghanische Wirtschaft durch mehr Liquidität wieder in Gang bringen. Wir müssen die Wirtschaft vom Abgrund zurückholen. Das bedeutet, dass wir Wege finden müssen, die eingefrorenen Währungsreserven freizusetzen und die afghanische Zentralbank wieder zu aktivieren.»1



1 zitiert nach: Zeit-Fragen Nr. 5, 22.2.2022, https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2022/nr-5-22-februar-2022/verheerende-lage-afghanistans-hunger-blockiertes-volksvermoegen-sanktionen

Friedensabkommen von Doha 2020: Kapitulation einer Supermacht und neue afghanische Regierung der Taliban

wp. Am 29. Februar 2020 geschah Denkwürdiges: Nach dem vergeblichen Versuch, in Afghanistan dauerhaft ein korruptes, den USA und den Nato-Ländern ergebenes Regime zu installieren, verpflichteten sich die USA im katarischen Doha in einem Friedenabkommen vertraglich, sich ab sofort aus den inneren Angelegenheiten herauszuhalten, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen und die Macht den Taliban zu übergeben. Die Taliban ihrerseits verpflichteten sich, Angehörigen von Nato-Staaten keinen Schaden zuzufügen. Die Soldaten der Afghanischen Nationalarmee und die Volksmilizen, von denen viele seit Monaten vergeblich auf ihren Sold gewartet hatten, hatten sich zuvor meistens kampflos ergeben, weil sie nicht mehr einem vom Ausland eingesetzten erfolglosen Regime dienen wollten.
  Am 15. August kapitulierte Kabul endgültig. Zuvor hatten Gespräche der Taliban mit Moskau, Peking und Teheran stattgefunden. Sowohl die neuen Machthaber als auch die Nachbarn bekundeten ihr Interesse an einer Stabilisierung der Lage. Die Entwicklung kam nicht von ungefähr: Viele Taliban absolvierten pakistanisch-theologische Hochschulen, studierten Diplomatie und Politik und liessen sich in militärischen Kampfstrategien ausbilden. Eine inzwischen herangewachsene Generation will in einer offeneren Gesellschaft leben.

Quelle: Baraki, Matin. Zeit-Fragen Nr. 19/20 vom 24.8..2021 «Nach 20 Jahren Bürgerkrieg und 20 Jahren Nato-Krieg sehnen sich die afghanischen Völker nur noch nach Frieden!»

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